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SoLaWis zwischen Zukunft und Vergangenheit

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Nachhaltigkeitsgemeinschaften, wie Ökodörfer oder solidarische Landwirtschaften, bilden „Experimentierräume“ oder „Nischen der Nachhaltigkeit“, in denen alternative Formen des Zusammenlebens, des Wirtschaftens oder der Lebensmittelproduktion erprobt und als Vorbild für andere, vielleicht sogar für die gesamte Gesellschaft, dienen können (Sloot et al., 2017). Sie werden daher häufig mit einem transformativen Potenzial und dem Beitrag zu der Entwicklung in Richtung einer nachhaltigeren Zukunft verbunden (Bamberg et al., 2018).

In den Nachhaltigkeitsgemeinschaften ebenso wie in der allgemeinen Debatte um Nachhaltigkeit scheint dieser Zukunftsbezug und damit auch eine Zeitdimension fest verankert. Schon in der wahrscheinlich am häufigsten zitierten Definition von Nachhaltigkeit aus dem Brundtland Report (United Nations, 1987) wurde dieses temporale Dilemma deutlich. Demnach muss nachhaltige Entwicklung die Bedürfnisse heutiger Generationen erfüllen und zugleich die Erfüllung dieser auch für zukünftige Generationen ermöglichen. Demgegenüber steht in Nachhaltigkeitsgemeinschaften eine Rückkehr zu vergangenen Praktiken, die sich beispielsweise in Ökodörfern im Zusammenleben in eng verbundenen Dorfgemeinschaften und im Verzicht auf verschiedene Formen des heutigen „Luxus“ zugunsten eines geringeren ökologischen Fußabdrucks beobachten lässt. Zeigt sich hier also auch der Blick in die entgegengesetzte Richtung, quasi zurück zur Vergangenheit? Existieren in Nachhaltigkeitsgemeinschaften unterschiedliche Zeitorientierungen, einerseits Richtung zukünftiger Transformation und andererseits Richtung vergangener Praktiken?

Befragung in Solidarischen Landwirtschaften (SoLaWis)

Um diesen Fragen nachzugehen, wurden im Rahmen des VerbundprojektsTransformation durch Gemeinschaft – Prozesse kollektiver Subjektivierung im Kontext nachhaltiger Entwicklung“¹  mehr als 600 Mitglieder aus über 90 deutschen SoLaWis in einer Online-Befragung nach ihren Gründen für den Beitritt sowie den positiven Auswirkungen der Mitgliedschaft in der SoLaWi befragt. Die genannten Gründe lassen sich entsprechend der Zeitorientierungen Zukunft und Vergangenheit kategorisieren.

Zu einer zukunftsfähigen Gesellschaft beitragen

Zum einen werden von den Befragten mit der Mitgliedschaft in einer SoLaWi neue Anregungen und Ideen, eine Erweiterung des eigenen Horizonts und eine Vorbildfunktion für die eigenen Kinder bezogen auf nachhaltige Lebensweisen verbunden. Hier zeigt sich ein Zukunftsbezug, der noch deutlicher wird, wenn die langfristige transformative Wirkung von SoLaWis als Motivation für die Mitgliedschaft betrachtet wird. Dahinter steht vor allem die Sorge um zukünftige Generationen (Milfont & Gouveia, 2006). Diese wird reduziert, wenn in der SoLaWi neue, richtungsweisende Konzepte erprobt werden und die Mitglieder so einen aktiven Beitrag zum Wandel und zum Erhalt eines „enkeltauglichen“ Planeten und einer zukunftsfähigen Gesellschaft wahrnehmen.

Entschleunigung im Ursprünglichen finden

Auf der anderen Seite zeigt sich, dass vieles von dem, was SoLaWis für die befragten Mitglieder besonders macht, mit Vergangenem und damit mit Ursprünglichkeit und Entschleunigung erklärt werden kann. Ursprüngliche Anbauweisen, Formen des Wirtschaftens und Wissen, wie das Einmachen von Lebensmitteln oder Kräuterkunde, sollen erhalten werden. Viele Praktiken und Eigenschaften einer SoLaWi, die in vorherigen Generationen noch zum Alltag gehörten, werden nun als Rückkehr zum Natürlichen und Authentischen und als Chance für nachhaltige Verhaltensweisen wiederentdeckt (Autio et al., 2013).

So schätzen die Mitglieder von SoLaWis den regionalen und saisonalen Anbau von Lebensmitteln, die kurzen Transportwege und die Unmittelbarkeit zwischen Produzierenden und Konsumierenden. Hierbei geht es nicht nur um Vertrauen, Transparenz und persönlichen Kontakt, sondern auch um eine neu gewonnene Nähe zu Natur, Jahreszeiten und konsumierten Produkten. Die Befragten beschreiben, dass beispielsweise die regelmäßige Mitarbeit auf dem Feld an der frischen Luft, die intensivere Beschäftigung mit der Verarbeitung der saisonalen, teilweise vorher unbekannten Lebensmittel und der wertschätzende Umgang sowie bewusstere Konsum dieser Produkte ein Erleben von Entschleunigung fördern. Da hierfür im sonstigen Alltag meist nur wenig Zeit bleibt, werden Erfahrungen im Kontext der SoLaWi auch als Ausgleich zu der immer schneller werdenden Welt außerhalb der SoLaWi erlebt. Hinter dem Wiederentdecken von Ursprünglichem stehen also nicht nur nostalgische Gefühle oder Kindheitserinnerungen, sondern auch die Feststellung, dass bei einem Vergleich mit dem Gegenwärtigen das Vergangene nicht nur in Bezug auf ökologische, sondern auch soziale Nachhaltigkeit besser abschneidet (Baldwin & Lammers, 2016).

Fazit: Vergangenes wieder zukunftsfähig machen

In Nachhaltigkeitsgemeinschaften, hier am Beispiel von SoLaWis, zeigen sich damit einerseits zukunftsbezogene Werte, die vor allem gesellschaftsgestalterisch auf transformatives Wirken und das Schaffen einer besseren Zukunft ausgerichtet sind. Andererseits schaffen vergangenheitsbezogene Werte, die mit Themen wie Ursprünglichkeit, Entschleunigung oder Unmittelbarkeit stärker das Individuum und die persönliche Lebensgestaltung betonen, eine hohe Attraktivität der Gemeinschaften. Bei Letzteren zeigen sich besonders deutlich die positiven Auswirkungen der SoLaWi auf das persönliche Leben. Es könnte daher gewinnbringend sein, diese in der Etablierung von Gemeinschaften und der Anwerbung neuer Mitglieder stärker zu betonen. Beachtet werden sollte aber, dass – je nach Auslegung des Begriffs einer Nachhaltigkeitsgemeinschaft – beispielsweise in Ökodörfern ähnlich wie in SoLaWis auch Vergangenheitsorientierungen vorkommen dürften, während bei Bewegungen wie Fridays for Future vornehmlich Zukunftsorientierungen zu erwarten sind.

Aber lässt sich die Rückkehr zu vergangenen Praktiken mit dem Vorangehen der Nachhaltigkeitsgemeinschaften als Beispiel für eine bessere, nachhaltigere Zukunft vereinbaren? Bei Betrachtung der Skalierbarkeit der Gemeinschaften stellt sich die Frage, ob diese durch Wachstum oder Transformation nicht das verlieren, was sie für die Mitglieder im Sinne des Ursprünglichen, Regionalen und Entschleunigten ausmachen.

Dieser Widerspruch lässt sich auflösen, wenn die Funktion der Gemeinschaft als Experimentierraum in den Vordergrund rückt. Dann geht es nicht vorrangig darum, dass einzelne Gemeinschaften wachsen, sondern darum, dass dort sowohl neue, innovative als auch althergebrachte, sozusagen „reaktivierte“ Praktiken ausprobiert und auf ihre heutige Tauglichkeit hin geprüft werden können. Nachhaltigkeitsgemeinschaften können also gleichzeitig in die Zukunft und Vergangenheit blicken und damit in der Gegenwart daran arbeiten, auch Vergangenes wieder zukunftsfähig zu machen.

 

¹ Das Verbundprojekt „Transformation durch Gemeinschaft – Prozesse kollektiver Subjektivierung im Kontext nachhaltiger Entwicklung“ an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und der Universität Osnabrück wurde von 2019 bis 2022 durch das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur sowie die VolkswagenStiftung gefördert.

 

Literatur

Autio, M., Collins, R., Wahlen, S., & Anttila, M. (2013). Consuming nostalgia? The appreciation of authenticity in local food production. International Journal of Consumer Studies, 37(5), 564-568.

Baldwin, M., & Lammers, J. (2016). Past-focused environmental comparisons promote proenvironmental outcomes for conservatives. Proceedings of the National Academy of Sciences, 113(52), 14953-14957.

Bamberg, S., Rees, J. H., & Schulte, M. (2018). Environmental protection through societal change. In S. Clayton & C. Manning (Eds.), Psychology and Climate Change (pp. 185–213).

Milfont, T. L., & Gouveia, V. V. (2006). Time perspective and values: An exploratory study of their relations to environmental attitudes. Journal of environmental psychology, 26(1), 72-82.

Sloot, D., Jans, L., & Steg, L. (2017). The potential of environmental community initiatives – a social psychological perspective. In A.-K. Römpke, G. Reese, I. Fritsche, N. Wiersbinski, & A. W. Mues (Eds.), Outlooks on Applying Environmental Psychology Research (pp. 27–34). Bundesamt für Naturschutz.

United Nations. (2015). The Paris Agreement. United Nations. https://unfccc.int/sites/default/files/english_paris_agreement.pdf

Lena Schmeiduch ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Fachgebiet für Arbeits- und Organisationspsychologie mit Schwerpunkt Interkulturelle Wirtschaftspsychologie der Universität Osnabrück. Sie studierte Psychologie (B.Sc.) an der Universität zu Lübeck und Interkulturelle Psychologie (M.Sc.) an der Universität Osnabrück. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich unter anderem mit den Prozessen hinter Beitrittsentscheidungen und der Teilnahme an nachhaltigen, transformativen Gemeinschaften. Weitere Forschungsschwerpunkte sind die Konzeptualisierung und Messung unterschiedlicher Zeitdimensionen sowie die Rolle von Zeit im Kontext von Nachhaltigkeit.

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