Die Symptome der Klimakrise aus den letzten 18 Monaten beinhalten Hochwasser und verheerende Stürme in Europa, Nordamerika, Sibirien, Indien und China, das Kippen des Westamazonas von einer Kohlenstoffsenke in eine Quelle von CO2-Emissionen, das beschleunigte Abschmelzen des Grönlandeises, und u.a. erstmalig Regen auf dem höchsten Punkt Grönlands mit der Folge, dass bis zum Jahr 2030 (!) dutzende Millionen Menschen jährlichen Überflutungen ausgesetzt sein und vertrieben werden. Hinzu kommt die zunehmende Schwäche und Fragilität der thermohalinen Zirkulation, besser bekannt als Golfstrom.
Alle diese Phänomene hatte die Klimaforschung erwartet, aber keines schon in dieser Dekade: die galoppierende Klimakrise läuft den Berechnungen der Klimamodelle mal wieder davon, die Gefahr steigt, dass die Wechselwirkungen dieser Kipppunkte zu einem Klima-Dominoeffekt führen und die Klimanische, in der sich seit Jahrtausenden menschliche Kulturen entwickelt haben, rapide verschwinden wird. Angesichts dieser Entwicklung ist es besorgniserregend, dass die für 2022 angekündigten Teile 2 und 3 des neuen Berichts des IPCC – immerhin die wichtigste wissenschaftliche Informationsquelle für Entscheidungsträger aller Art – eine Fortschreibung der Szenarien aus dem 1,5° Bericht von 2018 sein sollen, wie man aus IPCC-Kreisen hören kann. Denn dieser Bericht hatte gravierende Schwächen, meist als Folge der verwandten ökonomischen Modelle, die zahlreiche im Fließtext des Berichts angesprochene klimarelevante Faktoren nicht abbilden können und so zu unvollständigen oder verzerrten Szenarien und daraus abgeleiteten Handlungsoptionen führen (siehe die detaillierte Analyse in Spangenberg et al. 2020; 2021, beide open access).
Gravierende Schwächen im IPCC-Bericht 2018
1) Dabei ist als erstes die Definition von Klimaneutralität zu nennen, die ein Überschreiten der 1,5°- Grenze erlaubt, wenn es durch die Entfernung von CO2 aus der Atmosphäre in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts gelingt, die Temperatur bis 2100 unter den Schwellwert zu drücken. Das bedeutet eine Verschiebung der Problemlösung auf die nächste Generation, ignoriert die Wahrscheinlichkeit irreversibler Prozesse und mutet der biologischen Vielfalt den Doppelschlag aus erst Erhitzung und dann Abkühlung zu, nachdem die kälteliebenden Arten sich angepasst haben oder bereits ausgestorben sind.
2) Zudem stechen inhaltlich drei Schwächen besonders hervor: die Vernachlässigung der Nachfrageseite, die Beschränkung auf ökonomische Instrumente und die Dominanz von Strategien zur technischen Effizienzsteigerung. Die weitgehende Ignorierung von Auswirkungen auf der Nachfrageseite führt dazu, dass die Beiträge eines geänderten Konsumverhaltens, die in der gleichen Größenordnung liegen wie die auf der Produktionsseite, zwar im Fließtext erwähnt werden, aber in den Modellierungen so gut wie nie berücksichtigt werden. Die Fixierung auf ökonomische Instrumente unter Vernachlässigung von Ordnungs- und Planungsrecht, Normen und Standards ist ebenfalls eine Folge der Nutzung ökonomischer Modelle, die andere als ökonomische Instrumente nur schwer abbilden können. So bleiben wichtige Strukturwandeleffekte außen vor, und die politischen Folgerungen aus den Berichten bleiben verengt. Die modellierten Umsetzungen setzen fast ausschließlich auf technische Innovationen zur Effizienzsteigerung (bessere Autos statt weniger Verkehr) – meist ohne Berücksichtigung der resultierenden Rebound- und Wachstumseffekte und unter Vernachlässigung von Suffizienzoptionen. Insgesamt liefern die Modelle ein „besser, aber nicht anders“ – eine große Transformation können die Gleichgewichtsmodelle der Mainstream-Ökonomen schlicht nicht abbilden.
3) Zusätzlich sind die vorgeschlagenen Maßnahmen entweder bereits empirisch als unwirksam erkannt (Ozeandüngung), mit erheblichen Umweltfolgen verbunden (Gesteinsverwitterung, Pyrolysekohle) oder erfordern zusätzlichen Energieaufwand, der mit erneuerbaren Energien in Europa nicht darstellbar ist (CCS, DACCS). Insbesondere die Idee, Biomasse erst anzubauen, dann zu verbrennen und die CO2-Emissionen aufzufangen und zu lagern ist prominent, aber im großen Maßstab mit dem Schutz der Biodiversität kaum vereinbar (IPBES 2019; 2021). Die Potenziale von Aufforstung und insbesondere von Bioenergie werden deutlich überschätzt, weil Flächenkonkurrenzen in den Modellen nur unzureichend berücksichtigt werden (Spangenberg, Kuhlmann 2020). Dafür werden Waldschutz und Bodenspeicherung unterschätzt, weil sie nicht mit einer nachhaltigen Umstellung der Bewirtschaftung verbunden werden, und große Senken wie Moore und Steppen werden gar nicht angesprochen.
Diese Schwächen wurden auch bei den Treffen der deutschen IPCC-Gruppe thematisiert und insbesondere die Beteiligung weiterer Disziplinen, vor allem aus dem Bereich der Sozialwissenschaften eingefordert – es bleibt abzuwarten mit welchem Erfolg.
Vor allem aber wäre es wünschenswert, statt der strukturkonservativen Gleichgewichtsmodelle dynamische Modelle zu nutzen – systemdynamische, endogenisierte (die wichtige Parameter nicht extern vorgeben, sondern sie selbst generieren) und agentenbasierte Modelle und diese gegeneinander zu testen, um so Zukunftsprognosen zu vermeiden, die in Teilen Modellartefakte sind. Solche Modelle erlauben zwar nur Aussagen über die nächsten 25 bis 30 Jahre und nicht bis zum Jahr 2100, aber diese sind genau die entscheidenden Jahre, um die Klimakrise zu entschärfen. Leider sind für eine derartige Umstellung bisher weder Forschungsmittel vorhanden, noch eine Nachfrage aus der Klimaforschung.
Literatur
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Das vollständige Literaturverzeichnis ist bei Interesse beim Autor per E-Mail erhältlich: Joachim.Spangenberg@bund.net.