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Vom Risiko resilienter Praxis

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Im Kontext des wachstumskritischen Diskurses der letzten Jahre sind einige Vorschläge für mögliche sozial-ökologisch nachhaltigere Gesellschaftsformen entstanden. Diese skizzieren neben alternativen Formen des sozialen Zusammenlebens (z.B. Konvivialismus, Basisdemokratie) auch konkrete Wirtschaftsformen, die von der ausdifferenzierten, effizienzgetrimmten und profitorientierten kapitalistischen Wirtschaftsweise abrücken (z.B. durch Tauschringe, Genossenschaften, teilweise Subsistenz-Versorgung). Beispiele für derartige Entwürfe sind die Postwachstumsökonomie des Ökonomen Niko Paech [1] oder die in England erprobte „Transition towns“ Bewegung des britischen Sozialwissenschaftlers und Aktivisten Rob Hopkins [2]. Im Zuge meines Forschungspraktikums im Rahmen des RESCuE-Projekts [3] am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung studierte ich empirisches Material, welches erhoben wurde, um Copingstrategien krisenerschütterter Haushalte zu analysieren.

Dabei zeigten sich auf den ersten Blick inhaltliche wie begriffliche Parallelen zwischen den Postwachstumsgesellschaftsmodellen und den Daten des soziologischen Resilienzforschungsprojekts, denen ich im Folgenden nachgehen möchte, um davon ausgehend auf Defizite gängiger Postwachstumsmodelle hinzuweisen.

Resilienz durch sozio-kulturelles Kapital

Ziel des RESCuE-Projekts ist die Erforschung von Bewältigungsstrategien zum Umgang mit armutsinduzierten Risiken und/oder sozio-ökonomischen Krisen in bundesdeutschen und europäischen Haushalten. Mithilfe narrativer Interviews und visueller Methoden galt es, sog. resiliente Praktiken auszumachen, also Fähigkeiten und Handlungsmuster, die unter zunehmend widrigen Bedingungen gegen alle Wahrscheinlichkeit deren erfolgreiche Bewältigung und das Erreichen einer gewissen Lebensqualität ermöglichen. Konkret stellten sich diese Praktiken, wo sie identifiziert wurden, als die Nutzung von sozialem und kulturellem Kapital dar, also die gewinnbringende Organisation und Pflege sozialer Netzwerke sowie der Einsatz verschiedener handwerklicher oder anderweitig kreativer Wissensformen ((an)bauen, reparieren, künstlerische Tätigkeiten, sammeln etc.). Diese „alternativen“ Lebensstile fielen nicht nur durch die Applikation vom Mainstream abweichender Muster der Produktion und des Verbrauchs auf. Es wurden mitunter auch spezifische, nonkonformistische Wertvorstellungen und -priorisierungen (Sorge um soziale, kulturelle und ökologische Integrität und Kontinuität bei Vernachlässigung materiell-ökonomischer Werte) deutlich.

Kreative Subsistenz und Unabhängigkeit von der Ölsucht

An dieser Stelle wird die begriffliche und inhaltliche Ähnlichkeit zu obengenannten Vorschlägen einer Postwachstumsgesellschaft deutlich: Sowohl Paech als auch Hopkins sprechen wörtlich von Resilienz und sehen diese als Gegenstück zur krisenhaften Rohstoff- und Wachstumsabhängigkeit moderner Gesellschaften, welche sich durch komplex ausdifferenzierte Arbeitsteilung, exponentielle Verschuldung und nie dagewesenen Energie- und Materialverbrauch auszeichnen. Eine resiliente Gesellschaft wäre demzufolge krisenrobust durch größtmögliche Autonomie bis in kleinste soziale Aggregate. Diese Transformation gälte dabei besonders den nahezu vollständig auf Fremdversorgung basierenden Lebensstilen in industrialisierten Staaten und der damit einhergehenden Abhängigkeit von fossilen Energieträgern und anderen Rohstoffen. Der resultierende resiliente und sozial, ökologisch wie ökonomisch nachhaltige Lebensstil wäre den Autoren zufolge durch „kreative Subsistenz“, Genügsamkeit, Dematerialisierung und Kooperation zu erzielen – prinzipiell all jene Eigenschaften also, die auch im RESCuE-Projekt bei resilienten Haushalten beobachtet wurden. Die Autoren argumentieren, dass dabei nicht nur erhöhte Systemstabilität und deutliche Verbesserungen hinsichtlich der ökologischen Auswirkungen menschlichen Wirtschaftens und Handels erreicht würden. Auch im sozialen und politischen Bereich könnten die Menschen profitieren, da durch regelmäßige Kooperation und basisdemokratische Verfahren deren Beteiligung an und Verantwortung für das Gemeinwohl betreffende Prozesse zunehmen würde. Gleichzeitig ermöglichte eine Abkehr vom Zwang permanenten Wirtschafswachstums geringere Produktionsmengen und somit eine Reduktion der Erwerbsarbeitszeit – welche wiederum Spielräume für die obigen Aktivitäten freigäbe.

Da sich die soziologische Fallstudie auf Haushalte in sozio-ökonomischen Notsituationen konzentrierte, also auf exkludierte, gesellschaftliche Randgruppen, wirkt ein analytischer Vergleich mit den Postwachstums- und Transitionsentwürfen zunächst unangemessen. Zu groß erscheint die Diskrepanz zwischen einer erzwungenen prekären Lebenssituation und dem freiwilligen Lebensstilwechsel im Zuge nachhaltiger Entwicklung. Der Aufbau resilienter Praxis als erzwungene Konsequenz zunehmender existentieller Not ist jedoch eine Tatsache und ein zunehmender Trend, vor allem in den am stärksten von der Krise betroffenen Ländern der EU. Diese von informellem Wirtschaften und Kooperation geprägte Lebensstilanpassung an widrige Umstände erinnert an das, was unter Postwachstumsaktivisten auch als „degrowth by desaster“-Szenario bekannt ist. Somit erscheint es höchst relevant, im Kontext der Theoretisierung zukunftsfähiger Gesellschafts- und Wirtschaftsformen auf Probleme und Herausforderungen verwandter Lebensentwürfe zu achten.

Zum Paradoxon der Vulnerabilität resilienter Praxis

Die im Rahmen des RESCuE-Projekts als resilient klassifizierten Lebensstile lassen sich durchaus dem Leitbild „kreativer Subsistenz und Suffizienz“ zuordnen und manche der untersuchten Haushalte wiesen in der Tat eine beachtliche Vielfalt an sozialem und kulturellem Kapital zur dematerialsierten und entkommodifizierten Bewerkstelligung des Alltags auf. Dennoch zeugten selbst die positivsten Beispiele von empfundener Unsicherheit und Instabilität: aufgrund prekärer Einkommenssituation war mittel- bis langfristiges Planen unmöglich und um Bedürfnisse zu befriedigen, die nur geringfügig über den existentiellen Grundanforderungen menschlichen Lebens standen, war ein Höchstmaß an Einsatz und Disziplin (z.B. hinsichtlich Mehrarbeit) vonnöten. Zuweilen traten im Zuge der Alltagsbewältigung ernstere gesundheitliche Beschwerden auf, die in direktem Zusammenhang damit standen. In diesem Fall drängen sich kritische Fragen auf: Resilient, aber wie lange noch? Resilient, aber um welchen Preis? Es erscheint paradox, dass ausgerechnet die Suche nach Resilienz neue Vulnerabilitäten zutage bringt. Dieser Aspekt gibt zudem Anlass, den Resilienzbegriff selbst, wie er hier verwendet wird, kritisch zu hinterfragen. Darüber hinaus weisen die Daten in diesem Zusammenhang auf einen deutlichen Bruch mit den oben angenommenen Parallelen hin: resiliente Postwachstumsgesellschaften sollen als sozial-ökologisches System ja gerade stabiler sein. Da die resiliente Praxis armutsgefährdeter Haushalte jedoch höchst fragil erschien, kann vorerst nicht angenommen werden, dass diese individuellen Fähigkeiten alleine ausreichend seien, um für zukunftsträchtige alternative Gesellschaftstypen Modell zu stehen. Damit komme ich zum eigentlichen Hauptproblem der Postwachstumstheoretiker, zu dem bis heute keine klare Lösungsstrategie vorliegt: nämlich WIE die Transformation zu solch einer nachhaltigeren und resilienten Gesellschaft vonstattengehen soll.

Problematische Generalisierbarkeit – unbekannte Umsetzbarkeit

Selbst wenn instabilitätsgenerierende Aspekte wie eine prekäre finanzielle Lage oder Krankheit durch externe Faktoren kompensiert würden (z.B. Grundeinkommen), schimmern weitere Probleme durch das idealisierte Bild einer stark dematerialisierten, kreativen und teils auf Austausch und Kooperation basierenden Subsistenzwirtschaft: zwar würde diese Gesellschaftsform in keiner Weise einem Rückschritt in vormoderne Lebensverhältnisse bedeuten, was von kurzsichtigen Kritikern oftmals befürchtet und alarmierend beklagt wird. Einer Umsetzung in großem Stil (um nicht von gesamtgesellschaftlicher Ebene zu sprechen) steht jedoch schlicht und einfach eine enorme Wissenslücke in doppelter Hinsicht gegenüber:

Erstens zeigte sich resiliente Praxis auf individueller Ebene oft abhängig von einer Vielzahl von Ressourcen und Fähigkeiten (Wissen um Landwirtschaft, technisch-handwerkliches Knowhow und Geschick). Da wir uns aber zunehmend in Richtung einer hochspezialisierten Fremdversorgergesellschaft bewegen, die sich vor allem durch die Produktion und Verwaltung von abstraktem und reflexivem Wissen auszeichnet, werden diese praxisorientierten Fähigkeiten eher verdrängt und mitunter als vormodern diffamiert. Ich gehe noch eine Stufe weiter und behaupte, dass hier offensichtlich konfligierende Gesellschaftsmodelle vorliegen: einerseits das des komplexen, funktional ausdifferenzierten Systems spezialisierter, aber hochgradig abhängiger Fremdversorger – mit einer erhöhten Vulnerabilität, bedingt durch die hohe Rohstoff- und Dienstleistungsabhängigkeit. Demgegenüber findet sich das Modell einer Gesellschaft „vormodernen“ Typs, geprägt durch autonomere, weniger produktive und technisierte Kollektive, dafür jedoch auch durch kooperationsorientierte sowie vielseitig befähigte Individuen – sie wären (gemessen an den hier verwendeten Maßstäben) weniger vulnerabel.

Damit komme ich, zweitens, zur Transformationslücke: Für eine sukzessive Abkehr vom erstgenannten Typ liegen nicht nur noch keinerlei konkrete Pläne vor, wie eine derartige Transformation aussehen könnte, ohne dass es durch eine einfache Rücknahme des Wirtschaftswachstums zum sozial-ökonomischen Kollaps und Systemversagen (auf die Rezessionsspirale würden Massenarbeitslosigkeit sowie der Abbau sozialstaatlicher Leistungen folgen) käme. Einer derartigen Transformation stünden dem Nachhaltigkeitsforscher Felix Ekardt [4] zufolge zudem westliche Vorstellungen von Moderne und Fortschritt ebenso im Wege wie das utilitaristisch-liberale und individuumszentrierte Freiheitsverständnis. Darauf aufbauende Wert- und Normvorstellungen, nämlich, dass zu einem guten Leben nun mal individuelle Optionenmaximierung und materieller Wohlstand gehörten, erschweren ein Umsteuern auf nachhaltigere Lebensstile. Obgleich der Soziologe Harmut Rosa [5] m.E. gute Ansätze darlegt, warum die Vision eines guten Lebens durch kontinuierliche Optionensteigerung und suggerierte grenzenlose Wahlfreiheit an Grenzen stößt und sich eine kritische Reflexion dieser Versprechungen lohnen würde (Stichwort: Beschleunigung – Entfremdung), entspräche einer Abkehr von unseren nicht-nachhaltigen Lebensstilen gleichzeitig einem radikalen Bruch mit allgemein akzeptierten und zementierten Normvorstellungen. Dies würde einem derartigen Schritt enorme sozial-psychologische Hürden in den Weg stellen und damit unwahrscheinlicher machen: dazu können z.B. nicht-intendierte Folgen gehören, wie soziale Exklusion durch die Einnahme einer Außenseiterrolle (z.B. durch Verzicht auf etwas) genauso wie rascher Motivationsverlust des Einzelnen im Kontext der sog. Kollektivgutproblematik: wenn ich verzichte, haben andere mehr und ich einen Nachteil; und ändern wird sich dadurch auch nichts.

Somit kann nach diesen Reflexionen als Zwischenfazit festgehalten werden: Um zur skizzierten resilienten Postwachstumsgesellschaft zu gelangen, bedarf es eines fundamentalen systemischen Wandels, angefangen bei individuellem Wissen und Fähigkeiten, bis hin zu kollektiven Wert- und Normvorstellungen hinsichtlich Konsum, Entwicklung und Wohlstand. Nur so ließe sich demokratische Legitimation für zwingend notwendige Veränderungen moderner Produktions- und Konsumverhältnisse erreichen. Dass dabei politische, ökonomische und kulturelle Interessen eine ebenso wichtige wie problematische Rolle spielen, macht die Sache noch komplexer. Doch einfache Antworten scheint es auf die Herausforderungen des dritten Jahrtausends ohnehin nicht zu geben. Vielleicht die eine: es geht uns alle an!


[1] “Befreiung vom Überfluss – Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie”.

[2] “The Transition Handbook: From Oil Dependency to Local Resilience”.

[3] RESCuE: Patterns of Resilience during Socioeconomic Crisis among Households in Europe. Siehe: http://www.rescueproject.eu.

[4] „Das Prinzip Nachhaltigkeit – Generationengerechtigkeit und globale Gerechtigkeit“.

[5] Z.B. „Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit“.

Gianni Perri ist Sportwissenschaftler und studiert derzeit Sozialwissenschaften, Amerikanistik und Erziehungswissenschaft. Nebenbei ist er im Bereich Bildung für Nachhaltige Entwicklung tätig und konzipiert Bildungsprojekte für Jugend und Multiplikator/innen auf bundesdeutscher und europäischer Ebene, um seine Vision von einem guten Leben zu teilen: ein Leben das gesund ist, ökologisch und sozial möglichst nachhaltig, UND glücklich macht.

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