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Urbane Ernährung in der Postwachstumsgesellschaft

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Die Nicht-Nachhaltigkeit des gegenwärtigen Ernährungssystems

Das Ernährungssystem steht vor der Herausforderung einer grundlegenden Transformation, einen sozial gerechten Zugang zu gesunden Lebensmitteln zu ermöglichen, die ohne Gefährdung der ökologischen planetaren Grenzen produziert werden. Allein die Emissionen aus dem Bereich der Landwirtschaft und Ernährung würden ein Erreichen des 1,5-Grad-Ziels verhindern, wenn sich gegenwärtige Produktions- und Konsumgewohnheiten nicht ändern (Clark et al., 2020). Die Folgen einer industrialisierten und globalisierten Landwirtschaft begrenzen sich jedoch nicht nur auf das Antreiben der Klimakrise: prekäre Arbeitsbedingungen, unzureichender Zugang zu Lebensmitteln, Lebensmittelverschwendung und Artensterben sind weitere Probleme heutiger Landwirtschafts- und Ernährungssysteme (Rockström et al., 2020). Die Nicht-Nachhaltigkeit dieser aktuellen Wirtschaftsweise erfordert es, das vorherrschende Wachstumsparadigma zu hinterfragen und alternative Gesellschaftsentwürfe eines Postwachstums-Daseins in verschiedenen Bereichen weiter zu erkunden.

Der Postwachstums-Diskurs in Bezug auf Ernährung dreht sich neben vermehrter Selbstversorgung durch Eigenanbau vor allem um alternative Organisationsformen von Produktion, Verteilung und Konsum von Lebensmitteln (Nelson and Edwards, 2020; Salzer and Fehlinger, 2017). Diese alternativen Entwürfe zum gegenwärtigen, von kapitalistischer Logik geprägten System werden häufig als ‚alternative food networks‘ (AFNs) bezeichnet und umfassen Projekte wie Solidarische Landwirtschaften, Lebensmittelkooperativen oder Urban Gardening. Auch wenn sich AFNs in ihrer Größe oder Organisation stark unterscheiden können, so vereinen sie Prinzipien eines regionalen, nach agro-ökologischen (biologischen) Kriterien produzierenden und gesunden Ernährungssystems.

Urbane Ernährungssysteme im Fokus des Wandels

Dabei nehmen gegenwärtige urbane Ernährungssysteme und ihre möglichen Alternativen aus zwei Gründen einen besonderen Stellenwert ein. Erstens lebt seit 2007 mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten (United Nations, 2021), wodurch urbane Versorgungssysteme zu zentralen Hebelpunkten einer Transformation werden. Und zweitens lässt urbane Landnutzung nur wenig Spielraum für lokale Selbstversorgung der Bevölkerung aufgrund des hohen Anteils versiegelter Fläche für Wohnen, Mobilität und andere Infrastruktur – trotz steigender Beliebtheit von ‚urban gardening‘. Die urbane Bevölkerung wird daher zwangsläufig – und vermutlich auch in einer Postwachstumsgesellschaft – aus dem Hinterland versorgt, wodurch urbane Ernährungssysteme auch weiterhin als sich über die Stadtgrenzen hinaus erstreckend verstanden werden müssen.

So wichtig das Ausprobieren und Beschreiben konkreter Alternativen  und Best-Practice Beispiele zum gegenwärtigen System auch sind (z.B. Markoni and Götze, 2020), so wichtig ist auch eine evidenzbasierte, ökologische Bewertung der diskutierten Veränderungen, unter anderem hinsichtlich des Flächenbedarfs und der Treibhausgasemissionen. Eine Möglichkeit, diese biophysischen Zusammenhänge empirisch zu untersuchen bzw. zu vergleichen, ist die Berechnung des Land- und Treibhausgas (THG)-Fußabdrucks von Produktions- und Konsumformen. Sie kann die derzeit im wachstumskritischen Diskurs dominierende Analyse alternativer Anbau- und Verteilungssysteme und anderer Nischen ergänzen.

Die Zukunft urbaner Ernährung – Szenarien für Wien

Im Rahmen des Forschungsprojekts „The Future Of Urban Food – Szenarien für die Zukunft des Wiener Lebensmittelsystems“ wurde ein biophysisches Modell des Wiener Ernährungssystems entwickelt (‚FoodClim‘). FoodClim berechnet die für die Versorgung der Wiener Bevölkerung notwendige Landfläche sowie die mit Produktion, Verarbeitung und Transport der Lebensmittel verbundenen Treibhausgasemissionen für den Status Quo (Jahr 2015) sowie für verschiedene Szenarien. Für ein sogenanntes „Degrowth-Szenario“ wurden vier Aspekte, die wichtige Elemente in einem Ernährungssystem in einer Postwachstums-Gesellschaft darstellen könnten, zusammengefasst. Es zeichnet sich im Vergleich zum Status Quo durch eine Bevorzugung regional und biologisch produzierter Lebensmittel, einen deutlich reduzierten Anteil tierischer Produkte in der Ernährung sowie eine Vermeidung von Lebensmittelabfällen aus.

Gemäß der Modellrechnung könnte eine Regionalisierung den Land- und Treibhausgas-Fußabdruck des Wiener Ernährungssystems um -21% bzw. -12% reduzieren (siehe Abbildung). Eine vollständige Umstellung auf Versorgung aus biologischer Landwirtschaft zeigte hinsichtlich der Treibhausgasbilanz zwei gegenläufige Effekte: Während der Verzicht auf synthetische Stickstoffdünger und Pestizide in der ökologischen Landwirtschaft sowie die vermehrte CO2-Aufnahme der Böden (Sequestrierung) zu einem Rückgang der THG-Emissionen führen, ist die stärker grünlandbasierte Viehwirtschaft mit höheren THG-Emissionen aus Verdauungsprozessen verbunden. Insgesamt verringern sich die Netto-Emissionen um -18%. Der Flächenbedarf würde sich dabei wegen niedrigerer Erträge im Ackerbau und extensiverer Weidehaltung um mehr als die Hälfte erhöhen. Ein geringerer Anteil tierischer Produkte in der Ernährung schließlich, wie von der EAT-Lancet Kommission mit der „planetary health diet“ empfohlen, würde beide Fußabdrücke deutlich reduzieren, um -35% bzw. -33%.

Die positiven Effekte eines biologischen und gesunden Ernährungssystems

Betrachtet man im Szenario Degrowth die drei Änderungen in Kombination und geht darüber hinaus von einer Reduktion vermeidbarer Lebensmittelabfälle aus, so führt das nicht nur zu einem drastischen Rückgang der mit dem Ernährungssystem verbundenen Treibausgasemissionen um -56%. Es zeigt sich auch, dass die niedrigeren Flächenerträge in der ökologischen Landwirtschaft durch Regionalisierung und Ernährungsänderung vollständig kompensiert werden können. Die positiven Auswirkungen auf Biodiversität durch ökologische Landwirtschaft (Maeder et al., 2002) sind somit ohne höheren Flächenbedarf möglich.

Diese Ergebnisse untermauern, dass die in der Postwachstums-Debatte genannten Ziele eines regionalisierten, nach biologischen Kriterien wirtschaftenden und gesunden Ernährungssystems einen wichtigen Beitrag zur anvisierten Reduktion des Ressourcenverbrauchs und zum Einhalten der planetaren Grenzen leisten können. Bei der Interpretation dieser Ergebnisse ist jedoch zu beachten, dass die hier vorgestellte biophysische Modellierung auf statistischen Daten und Studien in einer derzeitig vorherrschenden Wirtschaftsweise beruht. Wie sich Faktoren wie Ernteerträge, Verarbeitungsverluste oder Transportarten im Ernährungssystem einer Postwachstumsgesellschaft tatsächlich verändern könnten, wurde in der Studie nicht untersucht und ist nur schwer abzuschätzen. Nichtsdestotrotz können die hier vorgestellten Modellergebnisse wichtige Hinweise darauf geben, inwiefern Postwachstumsstrategien das Potential haben, das Ernährungssystem nachhaltiger zu gestalten.

Abbildung 1: Veränderung des Treibhausgas (THG)- und Land-Fußabdrucks hinsichtlich drei einzelner Faktoren (Regionalisierung, biologisch produzierte Lebensmittel, „planetary health diet“ mit reduziertem Anteil tierischer Produkte in der Ernährung, sowie einem Szenario mit einer Kombination der drei Faktoren plus Halbierung vermeidbarer Lebensmittelabfälle („Degrowth“; symbolisiert mit zwei Schnecken – dem Logo der Budapester Degrowth-Konferenz 2016).

Dieser Beitrag basiert auf einer im wissenschaftlichen „Journal of Cleaner Production“ veröffentlichten Studie: “Demand side options to reduce greenhouse gas emissions and the land footprint of urban food systems: A scenario analysis for the City of Vienna”. Weitere Informationen zur methodischen Vorgehensweise sowie zu den Ergebnissen können dort nachgelesen werden. Das hier beschriebene „Degrowth-Szenario“ entspricht dem „EAT-Lancet+Organic+Region+FWR-Szenario“ in Kapitel 3.5 bzw. Abbildung 6.

Das Projekt wurde von 2018 bis 2022 an der Universität für Bodenkultur in Wien durchgeführt und vom Wiener Wissenschaftsfonds gefördert.

 

Literatur:

Clark, M.A., Domingo, N.G.G., Colgan, K., Thakrar, S.K., Tilman, D., Lynch, J., Azevedo, I.L., Hill, J.D., 2020. Global food system emissions could preclude achieving the 1.5° and 2°C climate change targets. Science 370, 705–708. https://doi.org/10.1126/science.aba7357

Maeder, P., Fliessbach, A., Dubois, D., Gunst, L., Fried, P., Niggli, U., 2002. Soil Fertility and Biodiversity in Organic Farming. Science 296, 1694–1697. https://doi.org/10.1126/science.1071148

Markoni, E., Götze, F., 2020. Anspruch und Wirklichkeit bei der Umsetzung eines nachhaltigen städtischen Ernährungssystems – Eine empirische Vorstudie der Berner Ernährungsinitiativen, in: Postwachstumsstadt – Konturen einer solidarischen Stadtpolitik, Anton Brokow-Loga, Frank Eckardt (Hrsg.). oekom Verlag, München.

Nelson, A., Edwards, F., 2020. Food for Degrowth: Perspectives and Practices. Routledge.

Rockström, J., Edenhofer, O., Gaertner, J., DeClerck, F., 2020. Planet-proofing the global food system. Nat Food 1, 3–5. https://doi.org/10.1038/s43016-019-0010-4

Salzer, I., Fehlinger, J., 2017. Ernährungssouveränität: Weder Wachsen noch Weichen, sondern gutes Essen für alle!, in: Degrowth in Bewegung(En) – 32 alternative Wege zur sozial-ökologischen Transformation, Konzeptwerk Neue Ökonomie & DFG-Kolleg Postwachstumsgesellschaften (Hrsg.). oekom Verlag, München.

United Nations, 2021. World Urbanization Prospects – Population Division – United Nations [WWW Document]. URL https://population.un.org/wup/ (accessed 1.14.21).

Lisa Kaufmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Institut für Soziale Ökologie an der Universität für Bodenkultur in Wien und beschäftigt sich in ihrer Forschung mit Landnutzung und Ernährung im Kontext einer sozial-ökologischen Transformation. Insbesondere geht sie der Frage nach, in welchen Wechselbeziehungen urbane und ländliche Regionen stehen und welche Folgen sich daraus für die lokale Adressierung globaler Herausforderungen ergeben. Christian Lauk ist Senior Scientist am Institut für Soziale Ökologie der Universität für Bodenkultur Wien. Ein Schwerpunkt seiner Forschungsarbeit ist die materielle Dimension von aktuellen und potentiellen Ernährungssystemen, insbesondere hinsichtlich Flächenbedarf und Treibhausgasemissionen. Angeleitet wird seine Forschung dabei von der Frage, wie ein nachhaltiges Ernährungssystem der Zukunft gestaltet sein kann.

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