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Transformationserfahrungen dokumentieren & erforschen

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Postwachstumsrelevanz des Projekts „Logbuch der Veränderungen“

Wie erleben Menschen derzeit die Umbrüche in ihrem Alltag? Was bewegt die Gesellschaft insgesamt und wie reagiert sie auf Veränderungen? Die Idee zum Logbuch – einem Online-Tool nach der Diary Method (vgl. u. a. Hyers 2018) zur Dokumentation und Reflexion persönlicher Eindrücke von Bürger*innen in der Corona-Zeit – entstand direkt zu Beginn der Pandemie, zu einem Zeitpunkt, als noch niemand das bis heute ungewisse Ausmaß der Krise erahnen konnte. Diskussionen mit Studierenden der HNE Eberswalde gaben den Impuls, den bereits spürbaren Wandel in Tagebuchform festzuhalten. Diesen Ansatz haben dann Wibke Crewett, Uwe Demele, Bettina König und Benjamin Nölting vom Forschungszentrum [Nachhaltigkeit – Transformation – Transfer] der Hochschule gemeinsam weiterentwickelt. Es wurde ein Befragungskonzept mit schlüssigem Untersuchungsdesign abgeleitet und die Logbuch-Homepage auf den Weg gebracht.

Von Anfang an stellte sich das Team des Forschungszentrums die Frage, ob ein so unerwarteter und wochenlang andauernder Lockdown auch Einfluss auf nachhaltige Entwicklung hätte. Im Kontext der ubiquitären Postwachstumsthematik stand dabei ebenfalls die These im Raum, dass infolge erzwungener Konsumeinschränkung für gewisse Produkte und Dienstleistungen viele Bürger*innen einen suffizienten Lebensstil ad-hoc erfahren und so seinen ethischen Impetus möglicherweise als vorteilhaft empfinden und sogar zu schätzen wissen lernen, sodass sie einer rigorosen Nachhaltigkeit auch im Nachgang der Pandemie zugeneigt sind oder diese zumindest nicht ins Reich utopischer Schwärmerei verweisen.

Tatsächlich ist die Untersuchung derartiger Thesen (und genauso entsprechender Anti-Thesen) nicht nur wissenschaftlich für die Transformationsforschung interessant, sondern auch pragmatisch von hoher gesellschaftlich-lebensweltlicher Bedeutung. Die in der Krise beobachtbaren gesellschaftlichen Anpassungsprozesse könnten womöglich individuelle und kollektive Lerneffekte in Gang setzen, die einer Nachhaltigkeitstransformation zuträglich sind (siehe grundlegend Göpel 2016). Diese Vermutung erweist sich als plausibel, denn ausgelöst durch die Pandemie wurden gravierende Restriktionen verordnet, sodass die Menschen umfassende Verhaltenseinschnitte bis zum Aussetzen von Routinen erleben, aus denen wiederum neue soziale Praktiken zu erwachsen scheinen. Interessant ist hierbei die sich wandelnde gesellschaftliche Prioritätensetzung in der Krise, z. B. wird nicht dem Wirtschaftswachstum, sondern einem intakten Gesundheitswesen aufgrund seiner offenkundigen Systemrelevanz ein in dieser Form schon lange nicht mehr dagewesener Stellenwert beigemessen. Und genau dies könnte bereits einen Wertewandel in der Gesellschaft andeuten, der dann beim sogenannten Neustart die Frage provoziert, wie die Gesellschaft zukünftig ausgestaltet werden sollte, um nachhaltig resilient zu werden (siehe hierzu auch Rose 2017).

Inwieweit diese neuartigen sozialen Praktiken in der Post-Corona-Zeit überhaupt persistente Ansprüche und Verhaltensänderungen in Richtung starke Nachhaltigkeit verbürgen, bleibt noch klärungsbedürftig; jedenfalls erhofft sich das Forschungszentrum hierzu Indizien im Rahmen des Logbuch-Projekts. Im Sinne dieses Erkenntnisinteresses lauten die grundlegenden Forschungsfragen: Wie erleben Menschen derzeit die Umbrüche in ihrem Alltag? Was bewegt die Gesellschaft insgesamt und wie reagiert sie auf Veränderungen? Können Verhaltensänderungen als Reaktion auf das staatliche und gesellschaftliche Handeln in der Gesundheitskrise andere Transformationsprozesse in positiver oder negativer Weise beeinflussen? Inwiefern sind solche Erfahrungen auf das gesellschaftliche Leben nach der Corona-Zeit übertragbar? Welche Rolle spielt das staatliche Handeln auf Verhaltensänderungen? Welche Effekte jenseits individuellen Verhaltens zeigen sich? Wie lange halten Verhaltensänderungen an?

Projektziele und Funktionsweise des Logbuchs

Das Logbuch-Projekt zielt darauf ab, Beobachtungen gesellschaftlicher Veränderungen im Rahmen der Corona-Pandemie breit zu dokumentieren und empirisch für die Transformationsforschung nutzbar zu machen (vgl. Lepczyk 2020). Es soll zudem zur Schärfung der Fähigkeit beitragen, Veränderungsphänomene zu beobachten und kritisch zu reflektieren. Hierüber lassen sich idealerweise Erkenntnisse darüber ableiten, welche Chancen und Risiken grundsätzlich mit Transformationsprozessen unter Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsaspekten verbunden sind.

Die Handhabung von Logbucheinträgen ist denkbar einfach: Bürger*innen sind als Citizen Scientists auf https://logbuch-der-veraenderungen.org/ eingeladen, Veränderungen von Handlungsmustern, Routinen und Praktiken bei sich, in ihrem Umfeld und in der Gesellschaft zu beobachten und anhand von Kategorien und Fragen in einem Online-Logbuch zu dokumentieren (vgl. Wynn 2017). Anschließend kann man die eigenen Beobachtungen bewerten. Auf der Projekt-Website ist keine Registrierung oder Anmeldung nötig. Die Eingabe des Datums startet das Logbuch und gibt sechs Rubriken vor: Mobilität, Familie, Versorgung, Arbeit, Betreuung und Kommunikation. In allen Rubriken können freie Texte eingegeben werden. Anschließend wird nach einer persönlichen Einschätzung der Gesamtsituation sowie nach drei Stammdaten (Altersgruppe, Geschlecht, Beschäftigungsverhältnis) gefragt. Wer möchte, kann sich für einen Erinnerungsservice eintragen, um an weitere Einträge ins Logbuch erinnert zu werden. Die Einträge können auch zum persönlichen Gebrauch als pdf-Datei gespeichert oder gedruckt werden. Bürger*innen können, sooft sie möchten, Beobachtungen in das Logbuch eintragen. Alle Daten werden pseudonymisiert, daher können für die Auswertung alle Einträge einer Person zusammengefügt werden. Insofern wird Wissen aus der Corona-Krise gesichert und steht gleichzeitig für gesellschaftliche Debatten zu Veränderungsprozessen bereit, z. B. im Zuge der systematischen Erforschung von Lernpotenzialen für eine nachhaltige Entwicklung.

Zwischenergebnisse und Perspektiven

Die Umfragedaten werden durch das Forschungszentrum [Nachhaltigkeit – Transformation – Transfer] der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde aufbereitet. Es ist geplant, eine Datenauswertung in Hinblick auf die in der Projektbeschreibung vorgesehenen Fragen vorzunehmen und hierbei ggf. mit weiteren Hochschulen aus dem HOCH-N-Verbundprojekt zu kooperieren. Gegebenenfalls werden die erhobenen Daten als Open-Source-Daten der Wissenschaft zur öffentlichen Nutzung zur Verfügung gestellt.

Die Logbuch-Webseite informiert über aktuelle Pressemitteilungen, Zwischenstände zum Verlauf und zu den Ergebnissen der Logbuch-Eintragungen. Außerdem verweist sie über Facebook auf weitere relevante Quellen rum um die Themen Transformation, Corona-Pandemie, Nachhaltigkeit. Die Logbuch-Webseite wurde circa 2000 Mal besucht. Aktuell liegen 747 Logbucheinträge vor. 180 Bürger*innen haben sich in den Email-Verteiler eingetragen.

Da die Regeln im Umgang mit Covid-19 nur sukzessive gelockert werden, hat sich das Team des Forschungszentrums darauf geeinigt, die ursprünglich vorgesehene Deadline für die Einträge zu verlängern. Alle Interessierten waren eingeladen, bis zum 10. Juni persönlich Bilanz zu ziehen und ein Zwischenfazit zu ihren bisherigen Beobachtungen zu formulieren. Im September wird das Logbuch noch einmal für eine kurze Nachbefragung geöffnet, um beispielsweise folgenden Fragen näher auf den Grund zu gehen:  Wie bewerten Sie im Rückblick Ihre Erfahrungen mit den Corona-bedingten Veränderungen, die Sie beobachtet haben? Was hat sich durch Corona verändert, welche Veränderungen haben bislang Bestand? Was ist wieder „normal“? Zu welchem ‚neuen‘ Alltag kehren Sie ‚zurück‘?

 

Quellenverzeichnis

Göpel, M. (2016): The Great Mindshift: How a New Economic Paradigm and Sustainability Transformations go Hand in Hand – Berlin: Springer Open.

Hyers, L. (2018): Diary Methods. Understanding qualitative research – New York: Oxford University Press.

Lepczyk, C. et al. (2020): Handbook of Citizen Science in Ecology and Conservation – Oakland: University of California Press.

Rose, A. (2017): Defining and Measuring Economic Resilience from a Societal, Environmental and Security Perspective – Singapore: Springer Science, Business Media.

Wynn, J. (2017): Citizen Science in the Digital Age: Rhetoric, Science, and Public Engagement – Tuscaloosa: The University of Alabama Press.

Uwe Demele ist Experte für sozialwissenschaftliche Fragestellungen zur Digital-Sustainable Transformation und schreibt hier im Namen des Projektteams vom Forschungszentrum [Nachhaltigkeit – Transformation – Transfer] der HNEE, zu dem auch Wibke Crewett, Bettina König und Benjamin Nölting gehören. Ziel des Forschungszentrums ist es, die Zusammenarbeit der Hochschule mit Akteuren aus der Praxis zu stärken, um einen Beitrag zur Transformation der Gesellschaft in Richtung Nachhaltigkeit zu leisten. Als ein zentraler Ansatz dafür wird Transfer für nachhaltige Entwicklung im Rahmen von Praxis-Hochschul-Kooperationen gesehen.

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