Hat es sich „ausprotestiert“?
Wir schreiben das Jahr 2024: Klimaaktivist*innen wird das Mitführen von Sekundenkleber verboten, regelmäßige Klimademos gehören der Vergangenheit an und die grüne Partei scheitert in der Ampelregierung an den Koalitionspartnern. Die Zustimmungswerte gegenüber der Klimabewegung sind seit der Corona-Krise stark gesunken, sowohl Graswurzelgruppen als auch Umweltverbände suchen verzweifelt nach neuen Hebeln, um die sozial-ökologische Transformation zu beschleunigen. Denn der Anfang ist längst gemacht: Deutschland will bis 2045 klimaneutral sein, das steht im Gesetz. Der tatsächliche Wandel geht aber immer noch zu langsam: Hat es sich also „ausprotestiert“? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir zur Lupe greifen und Transformation differenzierter als bisher betrachten. „Echte Transformation“ stellt einen komplexen Veränderungsprozess dar und geht damit weit über den bloßen Protest hinaus. Diese Dimension kommt im theoretisch dominierten und oft abstrakten Transformationsdiskurs meistens zu kurz.
Ende 2022 habe ich mich daher auf die Suche nach „echter Transformation“ gemacht, also Veränderungen, die sich tatsächlich in unserer materiellen und sozialen Lebensrealität bemerkbar machen. Motiviert war ich von der kühnen Idee, allgemeinverständlich, aber wissenschaftlich fundiert erklären zu können, wie man als kleine Gruppe von Menschen erfolgreich große Veränderungen anstoßen kann. Das Wissen, das ich damit generieren wollte, sollte für all diejenigen anschlussfähig sein, die für die Klimawende aktiv werden wollen. Denn jene Akteur*innen sind es, die Transformation tatsächlich beschleunigen und den langsam, aber stetig mahlenden Mühlen der trägen Politik und Wirtschaft einen entscheidenden Stups geben können. Vor allem eines wissen diese Akteur*innen, und zwar wie sie sich die Welt bei sich zuhause, in ihrem Wohnort wünschen. Das ist die wichtigste Voraussetzung dafür, „echte“ Transformation vor der eigenen Haustür in die Wege zu leiten.
Wie gut Menschen in ihrer Kommune für große Veränderungen kämpfen können, zeigt die lange Liste an erfolgreichen Bürger*innen- und Volksbegehren aus den letzten Jahren. Eine regelrechte Welle brach gegen Ende der 10er Jahre los. Erst brachte man in Berlin das erste Radverkehrsgesetz Deutschlands auf den Weg, dann wurde in Hamburg und München der Kohleausstieg um viele Jahre nach vorne gezogen. Mittlerweile gab es in fast jeder größeren deutschen Stadt eine Graswurzelinitiative, die per Bürger*innenbegehren substantielle Verbesserungen für umweltfreundliche Mobilität, den Weg zur 100% erneuerbarer Energieversorgung oder einen Beschluss für die Erstellung eines Klimaneutralitätsplans erkämpft hat. Das Praktische an diesen zeitlich und örtlich begrenzten Kampagnen: An ihrem Beispiel lässt sich Transformation besonders gut von A bis Z beobachten.
Sind soziale Kipppunkte ein Mythos?
In einer interdisziplinären Untersuchung habe ich daher anhand eines erfolgreichen Bürger*innenbegehrens aus Köln ein Positivbeispiel für einen „echten“ Transformationsprozess erforscht. Interdisziplinär, weil einzelne Disziplinen aus der Transformationsforschung es meist nicht schaffen, solche komplexen strukturellen Veränderungen aus ganzheitlicher Perspektive zu betrachten. So untersucht die Umweltpsychologie fast ausschließlich individuelle Verhaltensänderungen (z. B. Konsum- oder Protestverhalten). Die Soziologie hingegen trifft mit ihrem starken Theoriefokus häufig lediglich abstrakte Aussagen. Letztendlich scheitern beide Disziplinen daran, gesellschaftliche Probleme so zu definieren, dass sie von einzelnen Akteur*innen direkt in lösungsorientierte Handlungen übersetzt werden können.
Ein Forschungsteam um den US-amerikanischen Wissenschaftler Damon Centola schlägt für dieses Problem eine Lösung vor. In seinen Modellen postuliert Centola die Einbettung von individuellem Verhalten in sozial-strukturelle Netzwerke. Konkret bedeutet das, dass unsere Entscheidungen zu großen Teilen davon abhängen, was unser soziales Umfeld tut. Verschiedene Forschung zeigt immer wieder, dass einer der wichtigsten Faktoren für die Teilnahme an Demonstrationen und Protesten das Verhalten des eigenen Freundeskreises ist. Diese Forschungsergebnisse sind nicht neu und haben in großen Teilen der Klimabewegung zu der Annahme geführt, dass es soziale „Kipppunkte“ gibt, die in kürzester Zeit große Veränderungen bewirken können. Ausgelöst werden sie demnach von minimalen Impulsen, in deren Folge auf einmal immer mehr Menschen auf den Zug aufspringen, um ihn so – nun unaufhaltsam – ins Rollen bringen, bis das gesamte System „gekippt“ ist.
Centola ging diese Theorie aber nicht weit genug. Seine Kernthese: Die Entscheidung eines Menschen für eine komplexe Verhaltensänderung folgt anderen Regeln als der für eine simple Verhaltensänderung. Ein simples Verhalten (z. B. die Teilnahme an einer Demonstration oder der Kauf einer Bambuszahnbürste) kann demnach sehr leicht über sogenannte „weak ties“ angestoßen werden. Als „weak ties“ bezeichnet man oberflächliche Beziehungen, von denen Menschen typischerweise sehr viele haben. Die Entscheidung für den Kauf einer Bambuszahnbürste können wir demnach sehr schnell fällen, wenn uns z. B. eine nette Nachbarin davon erzählt. Komplexe und risikoreiche Entscheidungen (z. B. Investitionsentscheidungen oder freiwilliger Verzicht aufs eigene Auto) hingegen benötigen die Unterstützung von „strong ties“, also starken, vertrauensvollen Beziehungen zum engen sozialen Umfeld. Möchte man eine Wärmepumpe für viele Tausend Euro kaufen, wird einem das deutlich leichter fallen, wenn man schon funktionierende Exemplare bei guten Freund*innen oder Familie mit eigenen Augen sehen oder testen konnte.
Die Transformation muss „organisiert“ werden
In dieser Annahme steckt der Knackpunkt für zukünftige Strategien der Klimabewegung. Einen wichtigen Schritt hat diese bereits getan: Durch jahrelange Proteste und öffentlichkeitswirksame Aktionen hat sie die Klimakrise auf die öffentliche Agenda gesetzt. Doch jetzt muss die Transformation tatsächlich umgesetzt werden und sowohl Individuen als auch politische und wirtschaftliche Entscheidungsträger*innen müssen dafür komplexe Entscheidungen treffen. Das Hoffen auf einen sozialen Kipppunkt, der wie von Zauberhand unser gesamtes wirtschaftliches und gesellschaftspolitisches System verändert, scheint mir nach der Analyse von Centolas Netzwerkmodellen als ziemlich aussichtslos. Vielmehr müssen Menschen jetzt aktiv werden und die Transformation organisieren. Durch zielgerichtetes Organisieren – so postuliert es die Organisationsforschung – verändern Menschen sozial-strukturelle Netzwerke, also die Beziehungen zwischen verschiedenen Akteur*innen. So erhöhen sie die Wahrscheinlichkeit dafür, dass in der richtigen Situation von der richtigen Person eine richtige Entscheidung getroffen wird. Solche Entscheidungen gehen über den Kauf einer Bambuszahnbürste hinaus: Es könnte die teure Investition in eine klimafreundliche Wärmepumpe sein, oder die Entscheidung einer Firma, keine Gasheizungen mehr zu verkaufen oder sogar das Abstimmungsverhalten von Abgeordneten in den Parlamenten.
Meine Analyse der Initiative aus Köln zeigt, wie Menschen gute Entscheidungen organisieren können: Dort hat die Initiative „Klimawende Köln“ per Bürger*innenbegehren den kommunalen Energieversorger „RheinEnergie“ zur Umstellung auf 100% erneuerbare Energien bis 2035 verpflichtet. Zunächst gelang es der Initiative, ein starkes Bündnis aus zivilgesellschaftlichen Vereinen und Gruppen zu formen. Im nächsten Schritt organisierten sie eine Unterschriftensammlung und holten so 30.000 Unterschriften (= “weak ties“) von den Straßen Kölns ein. Die Gruppe baute damit so viel Druck auf, dass sie mit der Stadt und der RheinEnergie in konkrete Verhandlungen gehen konnte. Somit schaffte es die Initiative, die wichtigsten Entscheidungsträger*innen an einen Tisch zu bringen und im vertrauensvollen Gesprächsrahmen den Weg zu einer fossilfreien Kölner Strom- und Wärmeversorgung zu diskutieren. Die in diesem Aushandlungsprozess entstandenen „strong ties“ – also starke und regelmäßige Beziehungen zwischen Bürgerinitiative, Stadtverwaltung und Rheinenergie – ermöglichten eine fundamentale Auseinandersetzung mit dem Diskussionsgegenstand und den zu treffenden komplexen Entscheidungen. Nach einem halben Jahr intensiver Verhandlungen war es dann im Dezember 2021 so weit: Der Kölner Stadtrat verabschiedete mit einer breiten Mehrheit das verbindliche Ziel der klimaneutralen Energieversorgung bis 2035. Zusätzlich beschloss er das Aushandlungsergebnis des Verhandlungsprozesses, einen Maßnahmenplan, der die wichtigsten Schritte hin zur erneuerbaren Strom- und Wärmeversorgung enthielt.
Das Ende der Geschichte ist damit aber noch nicht erzählt. Auch Kommunen sind in ihrem Handlungsspielraum beschränkt. Bürger*innenbegehren sind kein Allheilmittel, das zeigt sich heute, Jahre nachdem die ersten Klimaentscheide Erfolg hatten. Für die Umsetzung fehlt Personal, es fehlt Geld, es fehlt Zeit. Somit startet jetzt die längst überfällige nächste Stufe der Transformation: Nach der Organisierung von politischen Beschlüssen müssen wir nun die Ressourcen für die Transformation an die richtigen Stellen organisieren, z. B. indem wir Kommunen mehr Gelder für die nötigen Zukunftsinvestitionen beschaffen. Dass Protest an sich weiterhin ein wichtiges und legitimes Mittel für die Klimabewegung ist, bleibt davon unberührt. Sie darf allerdings die Erweiterung ihrer Taktiken hin zu einer tatsächlichen Organisation der Transformation nicht versäumen. Sonst droht sie in das abzudriften, was der Soziologe Anton Jäger „Hyperpolitik“ nennt – eine ziellose, kurzlebige und extreme Politisierung, die sich nicht in reale Veränderung übersetzt, sondern politisch folgenlos bleibt. Denn echter Wandel entsteht nicht durch oberflächliche Debatten, sondern durch viele einzelne, komplexe Entscheidungen für das Umverteilen von Ressourcen im Sinne einer sozial-ökologischen Transformation. Diese Entscheidungen müssen wir jetzt organisieren, und zwar überall.
Der Text basiert auf meiner Masterarbeit (2023) aus dem Studiengang „Transformationsstudien“ an der Europa Universität Flensburg. Herzlichen Dank an dieser Stelle an meine beiden Betreuer: Prof. Dr. Emanuel Deutschmann und Jonas Lage.
(Titelbild: Pay Numrich)