Richard Layard plädiert dafür, gesellschaftliche Wohlfahrt mittels der Messung von Glücksempfinden zu erheben. Rainer Maurer hat hier einige politik-ökonomische Implikationen dieser Idee hier kritisiert. In seiner Argumentation lässt er erkennen, dass er den bisherigen Wohlfahrtsindikator, das BIP, erhalten möchte. Ich glaube jedoch, dass der Grund, den Maurer gegen einen Glücksindikator vorbringt, auch gegen das BIP als einen Wohlfahrtsindikator spricht.
Mauerers Einwand gegen die Ausrichtung der Wirtschaftspolitik auf das Glück lautet folgendermaßen: Wenn Regierungsbehörden ihr Handeln darauf ausrichten, ein Aggregat des gesellschaftlichen Glücksempfindens zu maximieren, werden Regierungsbehörden möglicherweise Maßnahmen ergreifen, die „gruselig“ sind. Er bezieht sich mit diesem Ausdruck auf die von Layard genannten politischen Maßnahmen „gegen individualistische Kultur, die zuviel Wert auf Vermögensanhäufung und interpersonellen Wettbewerb legt, zu wenig Solidarität hervorbringt und gegen die “skandalöse” Vernachlässigung der psychischen Gesundheit, da nur ein Viertel der diagnostizierten psychischen Erkrankungen behandelt würden.
Warum hält Maurer solche Maßnahmen für „gruselig“? Weil – so argumentiert er – bei diesen der Staat in Lebensbereiche eingreift, in die er nicht eingreifen sollte. Er schreibt, dass es problematisch sei, wenn staatliche Behörden über die richtige Therapie für das gesellschaftliche Glück entscheiden sollten.
Ich teile Maurers Schlussfolgerung, dass es nicht wünschenswert sei, politische Maßnahmen gemäß ihrem Beitrag zum gesellschaftlichen Glücksempfinden auszuwählen. Doch glaube ich, dass die gleichen Einwände auch gegen politische Maßnahmen gelten, die gemäß ihrem Beitrag zum BIP ausgewählt werden.
Warum sollte es weniger problematisch sein, wenn staatliche Behörden über die richtigen Maßnahmen für Wachstumsbeschleunigung entscheiden? Überall dort, wo politische Maßnahmen durch einen Bezug auf das BIP gerechtfertigt werden, greifen Regierungsbehörden in die vielfältigen Lebensbereiche von einigen Mitbürgerinnen und Mitbürgern ein: Wenn für Wachstumsbeschleunigung Steuerfreibeträge für Kinder erhöht werden, Erbschaftssteuern gesenkt werden, Umsatzsteuern für Gastgewerbe verändert werden oder erneuerbare Energien subventioniert werden. Erst recht greifen wir in die Freiheiten von in der Zukunft lebenden Menschen ein, wenn wir beschließen, dass wir keine Steuern auf Treibhausgasemissionen einführen, um das Wachstum des BIPs nicht zu drosseln: Wir zwingen dadurch die in der Zukunft lebenden Menschen mit den Folgen des Klimawandels, welche voraussichtlich unangenehm sein werden, zurecht zu kommen.
Ich möchte nicht missverstanden werden: Es gibt sehr viele gute Gründe dafür, dass Behörden Steuern eintreiben. Und dies notfalls auch zwangsweise. Es gibt auch gute Gründe dafür, dass in liberalen Gesellschaften individuelle Freiheiten eingeschränkt werden und dafür, dass staatliche Institutionen in bestimmte Lebensbereiche eingreifen.
Die Legitimität von staatlichen Eingriffen und Freiheitsbeschneidungen hängt entscheidend von den Zielen ab, aus denen diese Eingriffe geschehen (bzw. von Gründen, mit denen sie gerechtfertigt werden).
Maurer argumentiert dafür, dass das Ziel der gesellschaftlichen Glücksmaximierung nicht als alleiniges Ziel akzeptabel ist, dessentwegen der Staat in individuelle Lebensführung eingreift. Doch bietet er in seinem weiteren Überlegungsgang keine Ergänzung dieses Ziels an, sondern schreibt, dass man das BIP nicht abschaffen sollte. Letzteres ist aber ebenfalls als alleiniges Ziel nicht hinnehmbar. Es liegt auf der Hand, dass das gesellschaftliche Einkommen bestenfalls eines unter mehreren Zielen ist.
Was sind die Ziele, die beim staatlichen Handeln verfolgt werden sollten? Ich weiß es nicht. Doch ich kenne ein anderes gesellschaftliches Ziel, das mindestens genauso wichtig wie das BIP ist: Senkung des Ressourcenverbrauchs pro Kopf. Ökologische, globale und intertemporale Gerechtigkeitsgesichtspunkte fordern, dass der derzeitige Stand des Ressourcenverbrauchs pro Kopf in westeuropäischen Gesellschaften reduziert wird. Vielleicht ist es möglich, ihn so zu reduzieren, dass das gesamtgesellschaftliche Einkommen dabei steigt. Vielleicht gelingt es uns nicht, und die Senkung des Ressourcenverbrauchs wird zur Schrumpfung des BIPs führen. Wenn wir das ökologische Ziel ernst meinen, müssen wir damit rechnen, dass seine Realisierung zur Reduktion des Volkseinkommens führen kann. Deshalb ist es doch geboten – entgegen der Behauptung von Maurer – das BIP als die Richtschnur der Wirtschaftspolitik abzuschaffen.
@Eugen Pissarskoi: Ich habe nicht geschrieben, dass das BIP-Wachstum eine sinnvolle Zielvariable der Wirtschaftspolitik ist. Ihre Aussage „Schön, dass wir uns einig sind, dass die Wirtschaftspolitik nicht nur das BIP als eine Zielgröße heranziehen sollte.“ ist deshalb nicht zutreffend. Sie müssen etwas genauer beim Zitieren vorgehen. Schon in Ihrem ersten Kommentar haben Sie den Inhalt meines Textes falsch wiedergegeben. Mir ist der Unterschied wichtig: Ich habe in meiner Replik deutlich gemacht, dass der Staat nicht eine bestimmtes Zielniveau des Wirtschaftswachstums anpeilen sollte – auch nicht als ein Nebenziel unter anderen. Der Staat sollte sich in der Wirtschaftspolitik auf die Reparatur von Marktunvollkommenheiten beschränken, damit ein möglichst großer individueller Entscheidungsspielraum für die Bürger resultiert.
Was die Probleme des Klimawandels angeht, so sehe ich auch keine Alternative zu demokratischen Entscheidungsprozessen. Wer sollte sonst die Interessen der zukünftigen Generationen vertreten? Eine Elite, die glaubt überlegenes Wissen zu besitzen und daraus ein Anrecht ableitet, sich über demokratische Entscheidungsprozesse hinwegzusetzen? Was wenn eine andere Elite gleiches von sich behauptet? Wer entscheidet dann, welche Politik realisiert werden darf? Das Recht des Stärkeren? Ein über allem stehender Diktator? Ich bin immer wieder erstaunt wie schnell man in Deutschland dabei ist, die „Demokratie zu überwinden“, wenn man feststellt, dass es bei einem politischen Problem mehr als eine Meinung gibt.
Hallo!
Bei dieser Diskussion frage ich mich, ob hier nicht dem BIP zu viel der Ehre angetan wird. In meinen Augen ist die Steigerungsrate des BIPs nicht das Ziel des politischen Handelns. Das Ziel ist (nach meiner Beobachtung) „die Wirtschaft“ funktionsfähig zu halten (keine Massenarbeitslosigkeit, keine unnötigen Firmenzusammenbrüche). Da hat die Empirik der vergangenen Jahrzehnte einfach gezeigt, dass bei einem stetigen Wachstum des BIP hier die geringsten Probleme bei der Funktionsfähigkeit „der Wirtschaft“ zu erwarten sind.
Wenn es hier also zu Änderungen kommen soll (bzw. zu Änderungen aufgrund der kleiner werdenden Rohstoffbasis kommen *muss*), dann geht es nicht darum, das BIP durch einen wie auch immer gearteteten Glücksindex abzulösen, sondern es muss in meinen Augen darum gehen, die Funktionsfähigkeit „der Wirtschaft“, hier auch im Sinne von Funktionsfähigkeit des gesamten sozialen Zusammenlebens zu verstehen, zu gewährleisten, auch wenn das BIP massiv schrunpft. Ich frage mich immer, wie hier Henne oder EI zu definieren ist? Ist die Wirtschaft für den Menschen da, oder der Mensch für „die Wirtschaft“?
Nur wenn wir es schaffen, unser Zusammenleben auch bei einem massiven Rückgang des BIPs (z.B. veranlasst durch massive Steigerung der Energie- oder Rohstoffpreise) stabil aufrecht zu erhalten, haben wir noch eine Chance auf eine lebenswerte Zukunft. Unter den aktuellen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und Gesetzen sehe ich nicht, dass wir auch nur den Hauch einer Chance haben.
Nochmal: Die Kernfrage lautet in meinen Augen: Wie schaffen wir es, unser Zusammenleben, die Versorgung mit dem lebensnotwendigen auch bei einer Schrumpfung der Wirtschaft sicherzustellen.
@ab.er: Ich stimme Ihrer Kernfrage zu. In den öffentlichen Debatten wird jedoch vielfach über eine andere Frage diskutiert, nämlich: Wie ist es möglich, dass wir die Umweltprobleme lösen, ohne dass das BIP dabei schrumpfen müsste. Berühmte Beispiele sind der Stern-Bericht oder der vor Kurzem publizierte Green Economy Bericht der UNEP.
Sehr geehrter Herr Pissarskoi, danke dass Sie mir Gelegenheit geben, zu der Frage Stellung zu nehmen, ob BIP-Wachstum eine geeignete Zielvariable der Wirtschaftspolitik sein kann. Ich habe in meinem Beitrag an keiner Stelle geschrieben, dass staatliche Wirtschaftspolitik eine bestimmte BIP-Zielwachstumsrate anstreben sollte. Ich habe lediglich geschrieben, dass „Wenn es um die Zufriedenheit geht, scheinen altgediente ökonomische Einkommensindikatoren wie das Bruttoinlandsprodukt also doch noch ganz brauchbare Informationen zu enthalten“ und wegen seiner Korrelation mit einer Reihe von Wohlfahrts- und Konjunkurindikatoren dafür plädiert, es nicht abzuschaffen. Es geht mir also um den hohen Informationsgehalt des BIPs, den ich mit einer Reihe empirischer Daten zu belegen versucht habe.
Eine Wirtschaftspolitik, die eine bestimmte BIP-Zielwachstumsrate (und zwar sowohl größer, gleich oder kleiner Null) verfolgt, halte ich ebenfalls für problematisch. Legt man das derzeitige Standardmodell der Wachstumstheorie zugrunde, das ich als empirisch recht gut bewährt einschätzen würde, dann hängt das BIP-Wachstum neben dem technischem Fortschritt und dem Ressourcenangebot zu einem wichtigen Teil auch von der Zeitpräferenzrate der Individuen ab. Je niedriger die Zeitpräferenzrate, desto mehr wird gespart, desto mehr Ressourcen stehen prinzipiell für die Anhäufung akkumulierbarer Produktionsfaktoren wie Humankapital und Sachkapital bereit, desto höher ist die Trendwachstumsrate des BIPs (in einer geschlossenen Volkswirtschaft; in einer offenen Volkswirtschaft modifiziert sich die Aussage etwas, was aber im Folgenden ohne Belang ist). Die Entscheidung über das jeweils optimale Sparniveau wird also von den Individuen auf Basis ihrer subjektiven Präferenzen gefällt. Deshalb sollte sich der Staat hier sowenig einmischen, wie bei der Frage, ob die Leute lieber Kartoffeln oder Nudel n essen oder ihren Urlaub lieber an der Ostsee oder am Mittelmeer verbringen.
Die Aufgaben des Staates sehe ich – ganz bieder – mit der neoklassischen Denkschule, da wo die Koordination der Individuen über Märkte aufgrund von Marktversagen nicht funktioniert (Ein Gedanke, der im Übrigen schon in allgemeinerer Form in der von mir zitierten Schrift Wilhelm von Humboldts begründet wird.) . Also etwa bei der Organisation der Produktion öffentlicher Güter oder beim Vorliegen externer Effekte. Diese Aktivitäten können nun natürlich erheblichen Einfluss auf das BIP-Wachstum haben.
In vielen Entwicklungsländern können die Menschen nur schwer gemäß der von Ihnen angestrebten Zeitpräferenzrate sparen, weil es an öffentlichen Gütern wie Rechtssicherheit und innerer und äußerer Sicherheit fehlt. Das dringend benötigte Einkommenswachstum kommt so nicht bzw. nur auf unzureichendem Niveau zu Stande.
Liegen externe Effekte vor, weil etwa bei der Produktion von Gütern und Dienstleistungen knappe Umweltressourcen eingesetzt werden, die von den Produzenten nicht oder nicht vollständig bezahlt werden müssen, kommt es zu einer Übernutzung dieser Ressourcen und damit zu einem zu hohen BIP-Wachstum. Hier sehe ich den richtigen Ansatzpunkt für Ihre – aus meiner Sicht berechtigten – Bedenken. Ein wichtiges Problem besteht nun aber darin, dass wir keine objektiven Daten haben über den „richtigen“ Preis für Umweltressourcen. Mir persönlich ist ein Fluss, der so sauber ist, dass darin wieder Forellen schwimmen können, einen Einkommensverzicht wert; ich muss aber auch akzeptieren, dass es Menschen gibt, die andere Präferenzen haben. Mit scheint es deshalb, der richtige Weg zu sein, solche Preise über demokratische Entscheidungsprozesse festzulegen und bei Bedarf anzupassen. Sie können dann z.B. wie von Athur Pigou (1877 – 1959) schon vorgeschlagen, über Steuern am Markt implementiert werden. Sollte eine Gesellschaft die Kosten für die Inanspruchnahme von Umweltgütern hoch ansetzen, wäre dann (wenn wir wieder das Standardmodell der Wachstumstheorie unterstellen) das BIP-Wachstum niedriger als im umgekehrten Fall. Wem aufgrund seiner subjektiven Präferenzen der Ressourcenverbrauch zu hoch oder zu niedrig ist, der muss dann versuchen über den demokratischen Entscheidungsprozess darauf Einfluss zu nehmen. Im Grunde wäre das also ein Verfahren, das gar nicht soweit von unserer derzeitigen Praxis entfernt ist. Ausgangpunkt ist also nicht eine bestimmte BIP-Zielwachstumsrate (mit von Humboldt gesprochen das „positive Wohl der Bürger“) sondern die Reparatur des Marktversagens beim Verbrauch von Umweltressourcen (mit von Humboldt gesprochen das „negative Wohl der Bürger“). Das Wirtschaftswachstum und die dazu passende Produktionsstruktur wären also lediglich resultierende Nebeneffekte dieses gesellschaftlichen Entscheidungsprozesses.
@Rainer Maurer: Vielen Dank für den Kommentar und die Klarstellung. Schön, dass wir uns einig sind, dass die Wirtschaftspolitik nicht nur das BIP als eine Zielgröße heranziehen sollte.
Ihr Hinweis auf den Informationsgehalt des BIPs ist interessant. Ich werde mich bemühen, dazu einen Beitrag ins Netz zu stellen.
Ihr Vorschlag, die Aufgabe des Staates auf das Beseitigen von Marktversagen zu beschränken, verdient einer ausführlicheren Antwort als es hier möglich ist. Ich möchte lediglich auf eine Schwierigkeit hinweisen, auf die Ihr Vorschlag stößt.
Sie gestehen zu, dass Informationen über die Höhe der externen Effekte, die sozialen Schattenpreise, nötig sind, um Marktversagen zu beseitigen. Hierzu schlagen Sie vor, die sozialen Schattenpreise über demokratische Entscheidungsprozesse zu bestimmen.
Dies ist jedoch immer dann problematisch, wenn die vom externen Effekt negativ Betroffenen nicht am demokratischen Entscheidungsprozess teilnehmen können oder in Minderheit sind. Dann werden die resultierenden Schattenpreise das Marktversagen nicht berücksichtigen können. Das ist jedoch gerade bei vielen Umweltproblemen der Fall. Paradigmatisch ist der Klimawandel:
Der Klimawandel wird verursacht von heute lebenden Menschen (indem sie Treibhausgase (THG) in einer Menge emittieren, die zum Anstieg der THG-Konzentration führt). Die Folgen des Klimawandels werden die in der Zukunft lebenden Menschen treffen. Überlässt man die Bestimmung des sozialen Preises von Treibhausgasemissionen einem demokratischen Prozess, ist es unklar, wie die Interessen der vom Marktversagen Betroffenen, der in der Zukunft lebenden Menschen, berücksichtigt werden.