Die Verletzung demokratischer Prozesse im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise 2007/08 sei als Epochenbruch vergleichbar mit der großen Depression „und allem, was danach kam“, so Georg Diez in seiner vorläufig letzten Kolumne auf spiegel-online.de. Grund für den nunmehr erstarkenden Rassismus in Verbindung mit einer radikalen Rechten sei aber auch die Ratlosigkeit linker Parteien – darauf, dass immer mehr Menschen als Verlierer in einem System abgehängt würden, das als alternativlos proklamiert werde.
Georg Diez unterbricht seine Kolumnentätigkeit für ein Jahr, um sich in dieser Zeit an der Harvard-Universität zusammen mit ausgewählten Menschen aus „Business und Big Data“, „von Stephen Greenblatt bis Larry Summers“, „von MIT-Tech-Genies bis Apologeten eines Humanismus, wie er seit dem 16. Jahrhundert den Fortschritt getragen hat“ über die folgende Frage zu verständigen: „Wie könnte eine Demokratie im 21. Jahrhundert aussehen, die sich von den Zwängen des Kapitalismus befreit“?
Vorhandene Antworten erkennen
So eine Expert(inn)enrunde ist eine gute Sache. Doch vielleicht liegt die Antwort schon auf der Straße – bei den Bewegungen der letzten Jahre, die ‚democracia real ya!‘ riefen, ‚wirkliche Demokratie jetzt!‘, und begannen, basisdemokratisch ihren Alltag auf den Plätzen zu organisieren. Vielleicht hockt sie in den Stadtteilen mit im Repair-Café herum, wo die einen gerade die Räder, Radios oder Computer der anderen in Ordnung bringen. Vielleicht ist sie schon da, in uns, mitten unter uns entstanden – oder wie sonst ist zu erklären, dass Menschen derzeit in Ansätzen anderen Wirtschaftens, in sozialen Bewegungen und im Alltag „die Welt verändern, ohne es zu merken“, wie es mir gegenüber der Münsteraner Tobias Daur ausdrückte, nachdem er mir beschrieben hatte, was in seiner Nachbarschaft alles an gemeinschaftlichen Praktiken besteht, und ich immer mehr staunte. Es ist wie in dem Spruch von Victor Hugo: „Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist“.
Emanzipierte Ecommony statt Kapitalismuszwang
Mit dem Buch Ecommony. UmCare zum Miteinander (2016) versuche ich, dem nachzuspüren. Als ich damit begann, schien es mir selbst gewagt, die Prinzipien, die ich aus den jüngeren Ansätzen alternativen Wirtschaftens (zusammengetragen in Halbinseln gegen Strom, 2009) herausgelesen hatte, als für gesamtgesellschaftliches Wirtschaften funktionabel zu proklamieren. Dann veröffentlichte der US-amerikanische Ökonom und Zukunftsforscher Jeremy Rifkin mit seiner Null-Grenzkosten-Gesellschaft (2014) die Prognose, dass sich der Kapitalismus in genau eine solche commonsbasierte, dezentralisierte Produktionsform unter Ebenbürtigen verwandele, da der Preismechanismus außer Kraft gesetzt werde. 2015 folgte der britische Wirtschaftsspezialist Paul Mason, der in seinem Buch Postkapitalismus dieselbe These marxistisch begründet herleitet.
Beiden ist gemein, dass sie überwiegend technisch argumentieren. Doch so hilfreich die dritte industrielle Revolution, wie Rifkin es nennt, hierfür sein mag: Es sind die Menschen, die die Transformation gestalten müssen – alleine schon, um Machtinteressen abzuwehren. Eine emanzipatorische Zukunft muss errungen werden. Dafür ist es wesentlich, nicht die Entwicklungen der Informationstechnologie abzuwarten, sondern sich jenen Prinzipien bewusst zu werden, die die Grundlage legen für ein Wirtschaften ohne Konkurrenz. Marx und Engels benannten diese ebenfalls, und auch sie wiederholten sie bereits nur: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.“
Neue Konsum- und Produktionsmuster
Aus meinen Forschungen kristallisierten sie sich anders heraus, als ‚Besitz statt Eigentum‘, und als ‚Beitragen statt Tauschen‘. Denn Eigentum bedeutet die Möglichkeit des Ausschlusses anderer, die ein Gut benötigen, während die Eigentümerin selbst es gar nicht braucht. Und Arbeit ist eine entfremdete Tätigkeit, die an das Geldsystem und letztlich jede Form von Tausch gebunden ist.
Umsonstläden, in welche Gegenstände gebracht werden, die ‚aus dem Besitz gefallen‘ sind, da sie zu Hause ungenutzt herumstehen, während umgekehrt tauschlogikfrei genommen werden kann, was gebraucht wird; die Solidarität mit den Geflüchteten hierzulande und die genau daraus entstandenen 45 solidarischen Kliniken in Griechenland, in der inzwischen jede und jeder ohne Gegenleistung medizinisch versorgt wird – all das sind Praktiken nach diesen Prinzipien.
Aber auch in der Produktion werden neue Wege beschritten: In der solidarischen Landwirtschaft wird oft nicht mehr Mitgliedsbeitrag gegen Gemüsekiste getauscht, sondern es wird anonym gegeben, wozu die einzelnen fähig und bereit sind, und genommen, was gebraucht wird, unter Berücksichtigung des Bedarfes der anderen. Gleichzeitig wird die ökonomische Absicherung der landwirtschaftlich Tätigen großgeschrieben.
Selbst ein Auto kann heute konstruiert werden durch Menschen, die es global vernetzt miteinander entwerfen (‚crowdsourcing‘), und zwar so, dass es lokal zusammengesetzt oder im 3D-Verfahren ausgedruckt werden kann. Entscheidend ist, dass Menschen tätig werden, weil sie die Lust dazu verspüren oder die Notwendigkeit dazu sehen – oder irgendetwas dazwischen, in dem sich der kapitalistische Gegensatz von Arbeit und Faulheit auflöst, wenn mensch selbstverantwortlich sein Tun und sein Leben gestalten kann. Das ist eine alte feministische Erkenntnis, weshalb Überlegungen aus den Diskussionen zu Sorgetätigkeiten (‚Care‘) im Buch eine große Rolle spielen.
Anerkennung und Fürsorge auch als politische Lösung
Warum das eine Antwort ist auf die rechte Gefahr? Wer sich als Verlierer fühlt, dem fehlt zum einen materielles Versorgtsein. Dies wäre in einer Ecommony gegeben: Im Jahr 2015 besaßen 62 Einzelpersonen so viel Vermögen wie die ärmere Hälfte der Menschheit – wenn es kein Eigentum mehr gibt, kann allen nur so viel gehören, wie sie in Besitz nehmen können. Und niemand kann sich den von anderen erarbeiteten Mehrwert aneignen. Zum anderen aber fehlt Menschen Anerkennung: Wenn wir erkannt haben, dass uns Menschen antreibt, „in den Spiegel schauen zu können“, dann erreichen wir etwas, drückt es Sean Stephenson in einem TED-Talk vor Insassen des US-amerikanischen Ironwood-Gefängnisses aus. Und er fordert alle dazu auf, daran zu glauben, dass sie etwas Wertvolles zur Menschheit beitragen können – egal, was ihr augenblicklicher Status ist. Dazu erzählt er seine eigene Geschichte und mündet in einem Satz, den ich dem Buch Ecommony vorangestellt habe: „Glaube nie einer Vorhersage, die dich nicht stärkt.“