Bildung hat das Potential, kritisches Nachdenken über sich selbst und die Welt sowie Emanzipation von bestehenden Machtverhältnissen hervorzubringen. Damit kann sie einen enormen Beitrag zur Veränderung unserer alltäglichen Praktiken sowie zur Reorganisation einer Wirtschaft leisten, die derzeit durch ihre Fixierung auf Wettbewerb und BIP-Wachstum, Mensch und Natur übermäßig belastet. Jedoch kann Bildung auch eben jener Fixierung zuarbeiten.
Vor diesem Hintergrund haben wir uns gefragti, wie es etwa um die Hochschulbildung bestellt ist, wenn sich die deutsche Bildungspolitik zunehmend an der „Durchsetzung marktwirtschaftlicher Anreiz- und Steuerungssysteme in allen Bildungssektoren und […] [der] Etablierung einzelner neuer Bildungsmärkte“ii ausrichtet.
Das „unternehmerische Selbst“ als Bewohner_in des europäischen Bildungsraums
Die belgischen Bildungsphilosophen Masschelein & Simons untersuchen die Art und Weise unseres Sprechens, Denkens und Schreibens über Bildung. Dabei beziehen sie sich u.a. auf Ulrich Bröcklings Arbeiten zum sogenannten unternehmerischen Selbst: „Handle unternehmerisch“ ist der Aufruf, der sich an jedes Individuum und an jede Institution richtet. Für Bröckling ist das unternehmerische Selbst Resultat des neoliberalen Anspruchs, den Wettbewerbsmechanismus zu verallgemeinern und den Markt als universales Modell gesellschaftlichen (Inter-)Agierens zu etablieren. Genau dann wird die Gestalt des Unternehmers zum Fluchtpunkt der Selbstführung.iii
Masschelein & Simons identifizieren nun das unternehmerische Selbst als Bewohner_in des reformierten europäischen Bildungsraums. Dort werden Menschen durch Praktiken des Sprechens, Denkens und Schreibens über Bildung aufgefordert, sich selbst, ihre Mitmenschen und die Welt gemäß ökonomischen Kriterien zu betrachten und zu bewerten: Sie sollen sich selbst managen, ihre Ressourcen im Sinne des Humankapitals gewinnbringend einsetzen, selbstverantwortlich, selbstgesteuert und kompetenzorientiert lernen, in zu optimierender Mobilität bleiben, die eigenen Bedürfnisse evaluieren und ihre Investitionen nach „Qualität“ bemessen. Vom Unterschreiben des „Lernvertrags“ bei Eintritt in die Grundschule bis zum Abarbeiten der letzten ECTS-Punkte vor Abgabe der Masterarbeit – so könnte man provokant sagen – ist der junge Mensch nun einem permanenten Selbstoptimierungsdruck vor dem Hintergrund der Konkurrenzlogik des Unternehmerischen ausgesetzt.
Das unternehmerische Denken ist allerdings auch auf der Seite der Bildungsinstitutionen zu finden. Diese sollen sich als Dienstleister verstehen, die sich profilieren, Kund_innen werben, Standards erfüllen, sich evaluieren und in „geschäftsbelebender“ Konkurrenz zueinander stehen.
Schließlich sollen sich Individuen und Institutionen am Bildungsmarkt behaupten: So ist der Rat der europäischen Union übereingekommen, „die Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen – einem Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum […] zu erzielen.“iv Ähnliches gilt für die Erklärung von Bologna.
Damit geht unserer Meinung nach die Gefahr einer entgrenzten Ausweitung ökonomischer Logiken auf ein Feld einher, in dem sie das Handeln der Menschen nicht dominieren sollten. Das durchökonomisierte Leben ist kein sportlicher Wettkampf: Wenn „der Einsatz nicht weniger als das eigene Leben ist, bleibt für spielerische Leichtigkeit und noble Fairness wenig Raum.“v Das Ausmaß der Durchdringung der Hochschule durch die ökonomische Ratio sowie deren Folgen lassen sich mit Hilfe von Hartmut Rosas Beschleunigungstheorie analysieren.
Die beschleunigte Hochschule
Angesichts der Relevanz von Bildung für eine sozial-ökologische Transformation ist es interessant, wie die von Wirtschaftswachstum und Wettbewerb getriebene soziale Beschleunigung auf das Verhalten von Studierenden und die Organisation der Hochschule wirkt. In seiner Beschleunigungstheorie bemerkt Rosa, dass die Veränderungsgeschwindigkeit unserer Gesellschaft mittlerweile so hoch ist, dass das Leben in Fragmente zerfällt und immer schwieriger zu planen ist. Damit drohen die immer schnellere Umwälzung unseres sozialen Umfeldes und die damit einhergehende Beschleunigung des Lebenstempos, die Möglichkeit auf Selbstbestimmung zu untergraben.
Neben Individuen geraten auch Institutionen unter Druck, effizienter und flexibler zu funktionieren, um mit dem beschleunigten gesellschaftlichen Wandel Schritt zu halten. Dies ist ein Grund, aus dem das Bildungssystem unter Reformerwartung gerät: Eine Flexibilisierung der Studienstruktur durch die Einführung eines zweistufigen Studiensystems im Zuge des Bologna-Prozesses und die Betonung größtmöglicher Mobilität lassen sich als beschleunigungsbedingte Anpassung verstehen. Gleiches gilt für die verkürzte durchschnittliche Studiendauer. Solche Maßnahmen sind im Sinne von Wirtschaftsvertreter_innen, die bemerken, dass Unternehmen ein „Interesse an einer möglichst umgehenden Umsetzung neuen Wissens und neuer Erkenntnisse in Produktentwicklungen“vi haben.
Bezüglich der Studierenden zeigt sich die Beschleunigung ihrer Lebensgeschwindigkeit an der unbestreitbaren Verdichtung des Studiums im Zuge der Bologna-Reform. Aufschlussreich sind in diesem Kontext vor allem die zunehmenden Klagen, sich gehetzt und überfordert zu fühlen, starkem Leistungsdruck ausgeliefert zu sein sowie weniger Zeit für Erwerbsarbeit und ehrenamtliche Tätigkeiten zu haben. Beschleunigungsbedingt erscheinen auch die Zunahme von Erschöpfungserfahrungen und Depressionen. So urteilt ein psychologischer Berater des Deutschen Studentenwerks (DSW): „Der gestiegene Leistungs- und Zeitdruck, unter dem Studierende ihr Studium absolvieren, […] führten dazu, dass Studierende eine große Bereitschaft aufweisen, sich über die Grenzen der eigenen Kraft […] zu engagieren.“vii Zusätzlich verdoppelte sich die Zahl der durch das DSW psychisch betreuten Studierenden zwischen 2003 und 2012 beinahe auf 28.000.viii Auch die Verschreibung von Psychopharmaka an Studierenden stieg stark und überproportional an.
Diese Folgen sozialer Beschleunigung lassen die Selbst- und Weltverhältnisse der Studierenden nicht unangetastet. So identifiziert der Hochschulforscher Tino Bargel drei Grundzüge, die die Studierendengeneration 2012 charakterisierten: „[Z]um Ersten das Fehlen von festen Überzeugungen und Gewissheiten, zweitens das geringe politische Interesse und öffentliche Engagement und drittens letztlich die Angst vor Misserfolg. Damit ist gemeint, dass sie sich auf Bindungen und Festlegungen weniger einlassen, Verantwortlichkeiten vermeiden und zugleich mehr Sorgen haben und Stress empfinden. […] Es herrscht die Ansicht vor, sich in undurchschaubaren Zusammenhängen zu bewegen. Eine ‚Brücke in die Zukunft‘ […] ist nicht zu sehen […]. Dies ist mit dem Eindruck verbunden, die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren.“ix
Für eine sozial-ökologische Transformation sind solche Tendenzen nicht wünschenswert: Altruistisches Handeln und Kritikfähigkeit von Studierenden werden vor dem Hintergrund von erhöhtem Leistungsdruck und Stress durch den Wunsch nach Sicherheit zurückgedrängt. Schon Luhmann bemerkte, dass Aufgaben, die zu kurz kommen, abgewertet werden und so aus Zeitproblemen eine Umstrukturierung der Wertordnung entstehen könne.x Damit produziert soziale Beschleunigung letztlich selbst jene Subjekte, die sie benötigt: Die Prädikatslosigkeit ist für Rosa ein „Erfordernis der radikalen Beschleunigungsgesellschaft“.xi
Hochschulbildung für eine kritische Widerständigkeit
Angesichts des massiven Beschleunigungs- und Ökonomisierungsdrucks, unter den die deutsche Hochschule und ihre Studierenden geraten sind, möchten wir betonen, dass sich Hochschulbildung nur bedingt beschleunigen lässt – denn die „Vorstellung von Bildung in der Wissensgesellschaft, wonach Menschen in einem zeitlich festgelegten Durchlauferhitzungsverfahren überraschungsfrei von A nach B gebracht werden könnten, ist eine Fiktion. […] Erkenntnis- und Lösungswege verlaufen stets umwegig, sie schlingern durch den Irrtum, generieren Risiken für das Bestehende, und sie sind zeitintensiv und darauf angewiesen, sich aus der Umzingelung pausenloser Arbeit zu befreien“.xii Aktuell scheint die Konzeption von Bildung oftmals auf Exzellenz und Employability reduziert, weshalb wir stattdessen auf einige Aspekte eingehen möchten, die durch die aktuellen Reformen verdrängt werden. Somit möchten wir versuchen, Universität derartig zu denken, dass sie einem widerständigen, emanzipativen und kritisch-reflexiven Bildungsverständnis in gesellschaftlicher Verantwortung gerecht werden kann: Schließlich ist dieses für eine sozial-ökologische Transformation von grundlegender Bedeutung.
Masschelein & Simons heben die Bedeutung der Hochschule als Ort öffentlichen Vernunftgebrauchs hervor, ein Ort für den freien Austausch von Argumenten. Gleichzeitig unterstreichen sie zwei Besonderheiten der Institution Universität: Einerseits die Einheit von Forschung und Lehre sowie die Gemeinschaft von Professor_innen und Studierenden, die gemeinsam an der Universität einen Raum öffentlichen Nachdenkens betreten. Andererseits geht es um die Erfahrung eines Denkens, das niemandem und gleichzeitig allen gehört und die Logik des unternehmerischen Selbst und der permanenten Beschleunigung zeitweise außer Kraft setzen kann. In diesem Verständnis prägt ein Verlangsamen oder ein Zögern die universitäre Praxis. Die beschleunigte und ökonomisierte Hochschule läuft Gefahr, sich hiergegen zunehmend zu immunisieren.xiii
Die Universität, die immer auch auf die Mitglieder einer Gesellschaft wirkt, zeichnet sich gerade dadurch aus, sich nicht allein an berufsqualifizierenden Zwecken zu orientieren: Sie ist bestenfalls ein vom Staat vor äußeren Zwecksetzungen geschützter Raum, der der Wahrheitssuche durch Wissenschaft verschrieben ist und in dem sowohl Freiheit und Einheit von Forschung und Lehre als auch die Universalität der (Aus-)Bildung statt einer reinen Spezialisierung bewahrt werden. Diese Eigenschaften sind bedroht: Angesichts der grundsätzlichen Spannung, in der Bildung traditionell zu verorten ist – nämlich zwischen einer Anpassung an gesellschaftliche Funktionszusammenhänge und Widerstand als einem kritisch-distanzierten und prüfenden Selbst- und Weltverhältnis – haben die Bildungsreformen der letzten Jahre die Tendenz, diese Spannung zugunsten der Anpassung zu vereinseitigen.
Das oben skizzierte Bildungsdenken von Masschelein & Simons hat somit eine konkret politische Dimension, da eine kritisch-reflexive Bildung, die hinsichtlich der jeweiligen Prüfung der gesellschaftlichen Gegebenheiten und des eigenen Handelns im Kontext der Gemeinschaft entworfen wird, die Grundlage einer demokratischen Gesellschaft „bildet“. Demokratie bleibt dabei wie Bildung offensichtlich ebenfalls zeitintensiv und ist nicht unbegrenzt zu beschleunigen.xiv Vor dem Hintergrund einer sozial-ökologischen Transformation wäre es wünschenswert, dass die Hochschule ein Lernen ermöglicht, das sich den kurzfristigen ökonomischen Qualifikationsanforderungen widersetzt. Schließlich erschweren diese den „Prozess der Selbst- und Weltwahrnehmung, der Selbst- und Welterkenntnis, der Selbst- und Weltdeutung und der Gestaltung unserer heutigen Lebensumstände“xv. Ansonsten läuft sie Gefahr, Reformen zu unterstützen, die in den letzten Jahren studentische Prädikatslosigkeit und Anpassung gefördert haben. Nur wenn die Hochschule die Bildung von Urteilsvermögen und Kritikfähigkeit ermöglicht, es erlaubt Zusammenhängen nachzugehen und Raum bietet, sich jenseits von Beschleunigung und Selbstoptimierung nach dem eigenen Verhältnis zur Welt und zu seinen Mitmenschen zu befragen, wird sie sich dem Sinnverlust entziehen können, der droht, wenn sie sich von der hohen Wandlungsrate flüchtiger Informationen abhängig macht. So kann sie weiterhin einen Beitrag dazu leisten, dass Menschen sich auch in einer Welt der zunehmenden sozialen Beschleunigung orientieren, diese hinterfragen und einen wünschenswerten Beitrag zu ihrer Überwindung im Sinne einer sozial-ökologischen Transformation leisten können.