„Weiter wie bisher“, lautet das Motto der herrschenden Politik, gerade auch in Deutschland. Die dominante öffentliche Diskussion und Politik inszeniert sich als Sachzwang-Politik – Anpassungsleistungen an die angeblich alternativlose Austeritätspolitik sind andernorts zu erbringen. Dass Menschen verarmen, von unten nach oben umverteilt wird und soziale Rechte und Demokratie abgebaut werden, sei nur vorübergehend, wird uns versichert. Das Ziel bestehe schließlich darin, wieder auf den vielversprechenden Wachstumspfad zu gelangen. Zukunft ist die Fortführung der Gegenwart, und entsprechend werden drastische Entscheidungen – wie in den letzten Jahren die zur Agenda 2010 oder zur Bankenrettung – dann getroffen, wenn es um die Absicherung der Kapitalinteressen (und der Kernbelegschaften), also um die Position der Vermögenden geht. Was aber ist, wenn aus einer progressiven transformatorischen Perspektive große Sprünge als notwendig erachtet werden? Wie können jene, die es mit Kritik am kapitalistischen Wachstum, mit alternativen Wirtschaftsformen, mit den Zumutungen im Alltag ernst meinen, in einem Transformationsprozess gestärkt werden und Eingang in die Politik finden?
Das Projekt einer solidarischen Moderne
Im Zuge der Diskussionen um Umwelt-, Klima- und Ressourcenkrisen wurde mit der „sozial-ökologischen“ oder „Großen Transformation“ ein Begriff geprägt, der durch seine radikale Semantik einiges Potenzial für ein progressives Projekt auf der Höhe der Zeit hat: das Projekt einer solidarischen Moderne.
Im ökologischen Kern geht es bei der Großen Transformation um die Heraustransformation aus einem Kapitalismus, der auf fossilen Energieträgern beruht und rastlos Ressourcen und Senken benötigt. Das vielfach postulierte postfossile Zeitalter muss eingeleitet werden. Manche gehen einen Schritt weiter und denken an eine Große Transformation weg vom neoliberalen Kapitalismus, der nicht nur ökologische Zerstörung, sondern auch gesellschaftliche Spaltung und Entsolidarisierung vorantreibt. Hier geht es neben ökologischen auch um soziale und wirtschaftliche Dimensionen. Eher wenige verstehen darunter eine Heraustransformation aus dem Kapitalismus insgesamt, das heißt aus einer Gesellschaft, in der zentrale Bereiche des gesellschaftlichen Lebens zuvorderst dem Profit- und Wachstumsprinzip unterworfen werden. Dies bedeutet nicht, nur die Finanzmärkte zu schwächen, sondern die ökonomische und politische Macht des Kapitals insgesamt: seine die Gesellschaft strukturierende Dominanz.
Wachstum als destabilisierender Faktor
Der Begriff der sozial-ökologischen Transformation entwickelt seine besondere Bedeutung angesichts einer Gesellschaft, deren herrschende Logik des Wandels -die Logik des Profitmachens, der Akkumulation von Kapital und der expansiven wirtschaftlichen Aktivitäten – immer stärkere und immer unkontrollierbarere Krisen verursacht. Anders gesagt: Wachstum selbst ist zum destabilisierenden Faktor geworden. Und dies nicht nur unter Bedingungen des Finanzmarktkapitalismus –auch das weitere Wachsen der Produktion von (kurzlebigen) Gütern und Dienstleistungen schafft potenzielle und reale Instabilität. Die Ressourcen müssen beschafft werden, was nicht immer konfliktfrei abläuft, und auch der Klimawandel schafft viele Unsicherheiten inklusive der berüchtigten „Kipppunkte“ des lokalen oder regionalen Klimas.
Diese veränderte gesellschaftliche Konstellation muss von einer zukunftsfähigen Linken zunächst verstanden und dann politisch aufgegriffen werden. Denn eine sozial-ökologische Transformation erfordert eben nicht nur, den Kuchen anders zu verteilen. Vielmehr muss dieser Kuchen auch anders gebacken und in den Industriestaaten außerdem deutlich kleiner werden: Weniger Autos, weniger Flugverkehr und Fleischkonsum sowie eine Umkehr von der hochindustrialisierten zu einer nachhaltigen Landwirtschaft. Doch diese Konversionsprozesse etwa im Bereich der Mobilität dürfen nicht auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen werden. Andere Formen der Mobilität, die wir ja kennen, aber auch die Vermeidung von sogenannter erzwungener Mobilität müssen gestärkt werden.
Entwurf einer neuen Grundlage der Gesellschaft
Eine sozial-ökologische Transformation muss deshalb nicht nur jene Probleme und Krisen effektiv bearbeiten, die aufgrund des kapitalistischen Expansionsdrangs und der Profitorientierung entstehen, sondern sie muss eingebunden sein in einen Entwurf, der unsere Gesellschaft auf eine andere Grundlage stellt, um Wohlstand zu schaffen und zu sichern und damit der Transformation selbst eine neue Richtung, eine neue Logik gibt. Nur damit kommt das progressive gesellschaftspolitische Spektrum wieder in die Offensive, gewinnt Glaubwürdigkeit und Gestaltungsmacht.
Dabei geht es vor allem um lebbare, für die Menschen attraktive Verhältnisse – kurz: um ein neues Wohlstandsmodell, um andere Formen der Ernährung und Mobilität, der Energieversorgung und Kommunikation, des Wohnens und Kleidens. Und das unter Bedingungen starker ökologischer Restriktionen, samt ihren macht- und verteilungspolitischen Implikationen.
Wir fangen dabei nicht bei Null an. Es gibt vielfältige Diskussionen, Vorschläge und praktische Ansätze. Immer mehr Menschen wehren sich gegen die Zumutungen aktueller Politik, sie wollen längst anders leben und arbeiten: sozial, ökologisch und gemeinsam. Die Kämpfe gegen Prekarisierung und für gute Arbeit, für selbstbestimmtes Wohnen und lebenswerte Städte, Urban Gardening, solidarische Ökonomie, die Commons-Bewegung und die Energiegenossenschaften sind ihre unmittelbaren Antworten. Das Versprechen „Wachstum gleich Wohlstand“ wird immer weniger geglaubt und real erfahren. Doch „einem sozialökologischen und demokratischen Richtungswechsel entspricht […] keine parteipolitisch wirksame Formation, die regierungsfähig wäre. Ein Integrationsangebot von ‚Mitte-Links‘ ist bisher nicht in Sicht. Das macht jede Opposition zur Politik der Merkel-Regierung aus der Gesellschaft heraus ungeheuer schwierig.“ [1]
Parteien als Teil eines breiten progressiven Bündnisses
Daraus folgt eine politisch-strategische Konsequenz: Um die genannten mächtigen Logiken hin zu einer solidarischen Moderne zu verändern, bedarf es einer konfliktfähigen Transformationslinken, die nicht nur besser zu verteilen weiß, sondern in die Art und Weise gesellschaftlicher Produktion einzugreifen in der Lage ist.
Ich bin nicht der Ansicht, dass politische Parteien es alleine richten werden. Es bedarf vieler Akteure mit progressivem Anspruch und Handeln, die das Projekt einer solidarischen Moderne vorantreiben. Dazu gehören, oft an den Rändern der Gesellschaft, soziale Bewegungen, ebenso wie, schon eher in der Mitte, progressive Verbände und NGOs. Dazu gehören kritische Menschen und Gruppen in der Wissenschaft, in Denkstätten und den Medien sowie progressive Unternehmer_innen. Dazu gehören aber auch die Menschen, die sich vielleicht unorganisiert auf andere Alltagspraxen des Lebens, Arbeitens und Konsumierens einlassen – dafür aber auch Angebote erhalten müssen.
Dennoch bleiben die Parteien Kristallisationspunkte und, als Ausdruck und Teil breiterer gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, mögliche treibende Kräfte. Aktuell aber verschreiben sich die Grünen – wenngleich die Ausrichtung innerhalb des grünen Spektrums selbst umkämpft ist – einem fast schon beängstigenden Technikoptimismus; die SPD ist in großen Teilen weiterhin eine Markt-Sozialdemokratie, die Wachstum schaffen und etwas, aber nur etwas besser verteilen will; und auch die klassische politische und gesellschaftliche Linke tat und tut sich über Parteigrenzen hinweg schwer mit alternativen Orientierungen und vor allem mit dem Wachstumsthema, sind doch die historischen Orientierungen und Erfahrungen der letzten einhundert Jahre eng mit der Expansion des Kapitalismus und seiner sozialstaatlichen Einhegung verbunden.
„Rotes Grün“ und die Verbindung sozialer und ökologischer Fragen
Will die Linke adäquate Antworten auf die oben genannten Herausforderungen formulieren können, kommt sie an der Formulierung eines progressiven Wohlstandverständnisses, das die Formel „Wachstum und Verteilung“ überwindet, nicht vorbei. Aus einer breiten progressiven Perspektive geht es – wie Hans Thie in seinem jüngst publizierten Buch schreibt– um „rotes Grün“, also um eine Verbindung sozialer und ökologischer Fragen und nicht wie bisher um ein gegenseitiges Ausspielen. Politik muss in gewisser Weise neu erfunden werden. Crossover als Prozess bringt parlamentarische und außerparlamentarische Kräfte zusammen. Insgesamt geht es darum, in Parteien und staatlichen Apparaten, Verbänden und Gewerkschaften, Unternehmen und ihren Interessenvertretungen, sozialen Bewegungen und Öffentlichkeit über vielfältige Initiativen sozial-ökologische Transformationen in Gang zu setzen, zu verstärken, zu verteidigen. All diese Prozesse werden ungleichzeitig stattfinden, mit Sprüngen und Rückschlägen. Es gibt dafür keinen Masterplan, aber es gibt durchaus ein formulierbares Projekt.
[1] André Brie, Frieder Otto Wolf, Michael Brie, Peter Brandt: Für ein völlig neues Crossover, in: Blätter für deutsch und internationale Politik, 11/2013, S. 61f