Seit einigen Wochen kommt keine Nachrichtensendung mehr ohne aktuelle Infiziertenzahlen aus – die Corona-Krise hat die Welt im Griff. Sie kostet viele Menschen das Leben, verändert den Alltag in den meisten Ländern der Erde und bedroht auf der ganzen Welt die wirtschaftlichen Existenzen vor allem von Arbeitnehmer*innen, Selbständigen, Künstler*innen und kleinen Unternehmen.
Gleichzeitig zeigt sie auch bereits vorher existente gesellschaftliche Schieflagen auf, wie die schlechte Bezahlung und die fehlende Wertschätzung für Menschen, die in sogenannten „systemrelevanten“ Berufen arbeiten, also beispielsweise in der Pflege, in der Kinderbetreuung, im Lebensmittelhandel oder im Gütertransport.
Was macht die Krise mit der Gesellschaft? Welche Gräben vertiefen sich, wie muss dem entgegengewirkt werden? Welche politischen Maßnahmen sind wichtig, um die fatalen Folgen der zu erwartenden Wirtschaftskrise einzudämmen? Und lässt sich die gegenwärtige Krisensituation nutzen, um verstärkt auf eine Gesellschaft hinzuarbeiten, die das Wachstumsparadigma hinter sich gelassen hat? Mit diesen und vielen weiteren Fragen befassen sich zurzeit viele interessante Artikel und Interviews, von denen wir hier eine Auswahl zusammenstellen möchten.
Auswirkungen der Corona-Krise auf die Klimapolitik
Abgesehen von kurzfristigen positiven Klima- und Umweltwirkungen der Corona-Krise, die sich in weniger CO2-Emissionen und beispielsweise sauberen Kanälen in Venedig offenbaren, sehen viele Expert*innen die Gefahr, dass langfristige Klimaziele angesichts der zu erwartenden wirtschaftlichen Rezession für die Politik einen Bedeutungsverlust erfahren werden, so beispielsweise Susanne Götze.
Auch Jacob Graichen vom Öko-Institut betont im Interview im Deutschlandfunk, dass die Erholung für das Klima durch die Rezession zunächst nur eine kurzfristige Erscheinung sei.
Der Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber fordert daher einen „Klima-Corona-Vertrag“, um intergenerationelle Solidarität einzufordern.
Ulrich Brand und Heinz Högelsberger sehen jedoch auch die Chance, dass durch die Corona-Krise deutlich wird, wie entschlossenes staatliches Handeln krisenhafte Situationen abfedern kann – und dass diese Erkenntnis auf die Klimapolitik übertragen wird.
Das BIP schrumpft – ist das jetzt schon Postwachstum?
Die Transformation hin zu einer Postwachstums/Degrowth-Gesellschaft müsse intendiert und demokratisch ablaufen, schreiben die Kolleg*innen von degrowth.info. Auch stünde im Mittelpunkt einer Degrowth-Gesellschaft die soziale Gerechtigkeit, während die Corona-Krise vor allem eine disproportionale Belastung für Menschen darstelle, die sich bereits in einer marginalisierten Position befänden. „Something tells us the rich aren’t struggling to find hand sanitizer and toilet paper, or dying in hospitals from lack of treatment.” Ausgehend davon zeigen die Autor*innen auf, wie die Corona-Krise verdeutlicht, dass Degrowth-Politiken vonnöten und möglich sind.
Auch die Aktivistin und Globalisierungskritikerin Naomi Klein sieht in der Krise einen wichtigen Zeitpunkt gekommen, Wandel voranzutreiben.
Wie können aus der Krise auch positive Impulse hervorgehen?
Wichtig ist also die Frage danach, wie sich die Krisensituation zumindest eignet, um für die Nach-Corona-Zeit an einer sozial-ökologisch gerechteren Gesellschaft zu arbeiten. „Wieso also nicht die Situation nutzen, um sich in positive Visionen zu stürzen, sich mit anderen (wenn auch vorerst online) darüber auszutauschen und gemeinsam Neues zu erproben?“, fragt Marius Hübler in seinem Artikel „‘Die Welt nach Corona‘-Dystopien verhindern“. Auch Reinhard Loske geht in einem Gastbeitrag der Frage nach, „was zukunftsorientierte Politik jetzt leisten muss“ und plädiert für politischen Mut, auch in der Klimakrise in Zukunft stärker evidenzbasiert zu handeln. Dabei unterstützt auch Loske die Idee eines neuen Generationenvertrags.
Warum sich auf individueller Ebene die in diesen Tagen vieldiskutierte Entschleunigung nicht immer entspannend anfühlt, begründet der Soziologe Hartmut Rosa in einem Interview bei Deutschlandfunk Kultur.
Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene ist beispielsweise die Debatte über das bedingungslose Grundeinkommen neu entfacht. Dieses bezeichnet der Ökonom Stephan Schulmeister in einem Interview nicht als den passenden Weg aus der Krise, da Hilfen eher nur den Menschen zukommen sollten, die sie auch wirklich bräuchten. Stattdessen geht er davon aus, dass die Macht der Finanzmärkte nach der Krise erheblich eingebüßt haben wird.
Auch Tilman Santarius und Steffen Lange fragen danach, mit Hilfe welcher wirtschaftspolitischer Instrumente die Krise gemeistert werden kann. Eine ihrer Schlussfolgerungen: „Politik und Gesellschaft haben in den letzten Wochen beispiellosen Mut bewiesen, einer kollektiven Gefahr durch gemeinsam getragene und entschlossene Maßnahmen zu begegnen. Doch es ist noch viel mehr Mut vonnöten. Die Pandemie erfordert in wirtschaftspolitischer Hinsicht ein Hinauswachsen über das neoklassische und das keynesianische Denken, um auch die sozioökonomischen Folgen der Krise zu bewältigen.“
Claus Leggewie sieht eine Chance darin, dass die Corona-Krise die Vorteile regionaler Märkte offenbare. Und auch Mathias Binswanger, wenn auch skeptisch gegenüber den Möglichkeiten, die Krise als Chance zu nutzen, sieht zumindest einen „Dämpfer für die Globalisierungseuphorie“ gekommen.
Weitere, englischsprachige Artikel
“Post-capitalist reading in a time of pandemic” lautet der Titel der spannenden Artikelsammlung, die Julia Steinberger zusammengetragen hat.
[…] Wirtschaft in diesem Jahr seit langer Zeit zum ersten Mal nicht wachsen. Das ist Anlass für viele, dies als Chance zu sehen und das Wirtschaftssystem umzustellen – nachhaltiger und […]