In seinem Essay „Wann werden wir endlich aufhören, uns etwas vorzumachen?“ fordert Jonathan Franzen die Einsicht, dass wir den Klimawandel noch verzögern, aber nicht mehr aufhalten können – und unsere Kräfte daher auf erreichbare Ziele des Schutzes von Natur und Menschen lenken sollten. Manfred Linz hat den Essay rezensiert.
Die Lektüre des neuen Essays von Jonathan Franzen hat für mich Zustimmung und Irritation bewirkt. Zustimmung zu seiner Analyse der Klima-Situation am Beginn des 21. Jahrhunderts und Irritation über die in Frageform gesetzte Doppel-These des Autors. Unverändert ist meine Zustimmung zu ihrem ersten Teil, dem Urteil, dass unter den mir zugänglichen Fakten und anthropologischen Einsichten der Klimawandel zwar zu verzögern aber nicht aufzuhalten ist, und dass damit die Zerstörung der Lebensgrundlagen unseres Planeten nicht mehr zu verhindern sein wird. Daraus folgt für Franzen, dass wir uns darin ehrlich machen und dann unsere Energie vom Kampf gegen die Erderwärmung lösen und auf erreichbare Ziele des Schutzes von Natur und Menschen lenken. Der Analyse der Klima-Situation kann man einiges entgegenhalten: die vielen Zeichen eines Aufbruches zu einem Leben und Wirtschaften unter Anerkennung unserer Grenzen. Ich wiederum kann diese Zeichen erkennen, halte sie aber für nicht stark und nicht dauerhaft genug, um die begrenzte Veränderungsbereitschaft der Einzelnen und die inzwischen durch Technik und Kapital beinahe erreichte Veränderungsunfähigkeit der allermeisten Gesellschaften und erst recht des globalen Gesamt zu überwinden.
Aber ich frage mich: Was ist damit gewonnen, diese Einsicht öffentlich vorzutragen und ihre Anerkennung als dringende Ehrlichkeit einzufordern? Ich denke, nichts. Wenn es stimmt, dass Menschen sehr viel dafür tun, materiellen Wohlstand zu erringen und vom erreichten Wohlstand so wenig wie möglich zu verlieren, und dass sie sehr verführbar sind von blanken Interessen, die sich als Schutz des Gemeinwohls ausgeben; wenn es stimmt, dass die politischen und ökonomischen Verflechtungen und damit die Abhängigkeiten inzwischen schon innerhalb der nationalen und erst recht der internationalen Wirtschafts- und Sozialsysteme immer komplexer werden und darum immer schlechter zu beeinflussen sind, dann wird die öffentliche Forderung grenzenloser Offenheit für das unausweichliche Scheitern nicht die Handlungsbereitschaft fördern, sondern die zerreißenden Kräfte verstärken.
Hinzu kommt, dass Franzen für die fatale Entwicklung offenbar nur das den Menschen mögliche aber von ihnen verweigerte Denken und Handeln verantwortlich macht, während ich zusammen mit der fehlenden Bereitschaft zu Maß und Grenze als Ursache der Fehlentwicklung ebenso die inzwischen eingetretene Überforderung der Menschheit sehe, mit der Handhabung dessen fertig zu werden, was sie selbst zustande gebracht hat an Technik, an Organisation, am Gelingen immer neuer Facetten der Weltbemächtigung. Ich halte die beinahe erreichte Unbeweglichkeit, auch die Fixierung auf Wachstum also, inzwischen für schicksalhaft, ein Schicksal, das wir Menschen uns selbst angerichtet haben.
Wenn das zutreffend ist, hat es nicht nur keinen Sinn, eine radikale Anerkennung der Niederlage zu fordern; ein solches Verlangen nimmt auch allen, die sich politisch für die Minderung der Klimafolgen und für die Stärkung des Gemeinwohls einsetzen, einen wichtigen Beweggrund für ihren Einsatz; und es gibt stattdessen denen, deren Motiv das „Nach uns die Sintflut“ ist, eine willkommene Bestätigung ihres Verhaltens. Die Kräfte, die sich politisch für die Überwindung von Not und Ungerechtigkeit einsetzen, werden gelähmt, Indolenz und Raffgier werden gestärkt.
Für mich sind all die Bewährungsfelder, die Franzen die guten „halben Sachen“ nennt und an die Stelle des aussichtslosen Klima-Kampfes setzen will, nicht eine Alternative zu diesem Einsatz, sondern ein integraler Teil der Bemühungen um eine lebenswerte Welt. Fast alles, was Franzen da benennt, finde ich im Zusammenhang mit dem Einsatz zur Klimarettung wieder, vom Verzicht auf Pestizide über die Stärkung des Rechtsstaats und den Kampf gegen Vermögensungerechtigkeit bis zur Bewahrung der Demokratie. Die Klimarettung ist das Leitwort, die Fahne gewissermaßen. Zieht man sie ein, verlieren die anderen Aktionen ihren Zusammenhang, ihre Dringlichkeit. Darum werde ich öffentlich an ihr als unserer Hauptaufgabe festhalten und für sie arbeiten, auch wenn ich sie nicht für erreichbar halte. Übrigens lenkt ja Franzen am Schluss ein – mit dem Tenor: Das Große tun für den Planeten und das Kleinere nicht lassen.
Jonathan Franzen (2020): Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen? Hamburg: Rowohlt, 60 S.