Das Wachstumsparadigma – parteienübergreifender Konsens?
Auch im Wahlkampf 2021 wird die Wachstumsfrage als Elefant im Raum von sämtlichen Parteien ignoriert. Während sich die Konsensformel “grünes Wachstum” als Ausweg aus der Klimakrise immer weiter bewährt, bleibt Wachstum als höchstes wirtschaftspolitisches Ziel unhinterfragt. Daran ändert bislang auch die immer intensiver geführte Klimadebatte nichts.
Die Entstehung der Klimalisten ist daher eine Antwort auf den Unwillen der etablierten Parteien, die wahren Treiber der Klimakrise zu erkennen und klar zu benennen. Uns eint die Überzeugung, dass wir zur Bewältigung aktueller ökologischer Krisen eine radikal sozial-ökologische Transformation brauchen, in dessen Mittelpunkt ökologische Grenzen und soziale Bedürfnisse liegen, statt kopflosem Wachstum.
Doch unberührt davon, ob rechts oder links, liberal oder konservativ, Wachstum bleibt das politische Paradigma unserer Zeit. Differenzierungen gibt es alleine im “wie”, nicht aber im “ob”. Die Grünen streben nach grünem Wachstum, Linke und SPD wollen Wachstum gerechter verteilen und für CDU und FDP ist Wachstum sowieso oberstes staatspolitisches Ziel. Auch in der bunteren Kleinparteinlandschaft spielt die Wachstumsfrage kaum eine Rolle. Lediglich in der Ökologisch-Demokratischen Partei (ÖDP) ist eine kritische Auseinandersetzung mit der herrschenden Wachstumsdoktrin zu finden.
Das Denken in Alternativen wird auch dadurch erschwert, dass das institutionelle und soziale Gefüge noch fest an die Bedingung “Wachstum” geknüpft ist und keine Anstrengungen unternommen werden unser Gesellschafts- und Wirtschafstmodell unabhängiger von Wachstumszwängen zu transformieren. Sei es die Sicherung der Rente, Pflege und Krankenversicherung oder volkswirtschaftlich bedeutsame Faktoren wie Investitionsströme, Vollbeschäftigung oder Preisstabilität. Alles ist von einer wachsenden Wirtschaft abhängig und solange kein makroökonomisches Gegenmodell vorliegt, welches genannte Systeme in eine Postwachstumsökonomie überführen kann, ohne den sozialen Frieden zu gefährden, werden sich Parteien hüten, eine wachstumskritische Programmatik aufzustellen.
Wege in die Postwachstumsökonomie
Auch die Klimaliste Berlin kann kein kohärentes Modell vorlegen, das den Weg in die Postwachstumsökonomie beschreibt. Dennoch möchten wir Postwachstum als Transformationskonzept in den öffentlichen Diskurs bringen und Politik, Medien und Wissenschaft für die Makroökonomie jenseits von Wachstum sensibilisieren. Gleichzeitig wollen wir den Begriff “Postwachstum” schärfen, denn die derzeitige Bedeutungsoffenheit von Postwachstum dient als Einfallstor für Vereinnahmungen von Rechts, die man u.a. durch eine klare Definition des Begriffs vermeiden könnte. Denn weder nationalistisch-protektionistische Maßnahmen unter dem Vorwand des lokalen Wirtschaftens, rückwärtsgewandte Zivilisationskritik, die sich an einer angeblichen „Bildungsexpansion“ abarbeitet, noch die Darstellung von Menschen(gruppen) als ökologisches Problem sind mit unserem Verständnis von Postwachstum vereinbar.
Der Fokus auf das Individuum als primäre Verantwortungsebene wirkt zudem entpolitisierend und verschleiert den Zusammenhang von Wachstum, Kapitalismus, ökologischer Krise, Rassismus und Geschlechterungerechtigkeit. Daher eint uns die Vorstellung, dass nicht der/die Einzelne Schuld und Verantwortung an den sozial-ökologischen Krisen unserer Zeit trägt, sondern die Institutionen, die die Wachstumswirtschaft bis heute erhalten. So definieren wir Postwachstum als Handlungsaufgabe der Politik, Rahmenbedingungen zu schaffen, die eine Wirtschaft und Lebensweise ohne Wachstum ermöglichen.
Städtisches Postwachstum – am Beispiel Berlins
Doch geht Postwachstum in einer Großstadt wie beispielsweise Berlin überhaupt? In Zeiten globalisierter Verflechtungen von Warenströmen und Kapital ist Berlins Versorgung weltweit verwoben. Auch ist Berlin zwar Bundesland mit Gesetzgebungskompetenz, aber eben auch an Bundesgesetze und EU-Regeln gebunden. Die institutionelle Struktur des Wachstumskapitalismus zwingt uns daher kreativ zu sein, wenn wir Berlin als Reallabor neuer Wirtschaftsformen etablieren wollen. Hierfür haben wir drei grundlegende Bausteine erkannt: Konsum unattraktiv machen; städtisches Postwachstums-Design; und transformative Bildung.
Wachstum und Konsum bedingen sich gegenseitig. Die These ist: Wenn lokal Konsumanreize reduziert und zugleich soziale und suffiziente Alternativen zum Konsum stärker präsent gemacht werden, sinkt der Wachstumsdruck. Hierfür soll z.B. kommerzielle Werbung zugunsten von kultureller Flächen aus dem Stadtbild verschwinden. Zugleich finanziert die Stadt Reparatur- und Tauschzentren zentral in jedem Kiez, wo Bewohner*innen mit „Repair-Reuse-Recycle“-Angeboten geholfen wird. Dem Online-Konsum werden ebensolche Angebote über Webplattformen entgegengesetzt, deren Nutzung incentiviert wird, beispielsweise durch Vorteile bei kommunalen Unternehmen.
Dazu kommt das städtische Postwachstums-Design. Ziel ist es, die oben beschriebene These durch räumliche Planung zu unterstützen. Hierfür entstehen Bezirks- und Kiez-Agoras, also gemeinschaftlich genutzte zentrale Plätze mit kulturellen, naturnahen, inklusiven, nicht-kommerziellen Angeboten, auf Flächen ehemaliger Auto-Infrastruktur. Über direktdemokratische Beteiligungsformate wird sichergestellt, dass das Design sozialen statt kommerziellen Bedürfnissen entspricht. Auch für neue oder restrukturierte Quartiere lassen sich entsprechende planerische Vorgaben machen. Solch ein Design stärkt lokale menschliche Verbindungen und bekämpft damit nebenbei die grassierende Einsamkeit in Berlin.
Der vermutlich wichtigste Aspekt städtischen Postwachstums ist Bildung. Im Zuge einer klimagerechten Transformation ist ein Fokus auf handwerkliche Tätigkeiten unerlässlich. Durch steigende Preise allein werden Anreize entstehen, sich in Bereichen selbstbestimmter Lebensmittelproduktion sowie Reparatur und Selbstbau fortzubilden. Hierfür sollten jetzt städtische Transformationszentren geschaffen werden, wo Lernen, Teilen, solidarisches Wirtschaften und Kultur gefördert und inklusiv zugänglich gemacht werden. Schon in Schulen sollte mindestens ein Tag der Woche diesen Aspekten gewidmet sein.
Neben diesen Bausteinen gibt es zahlreiche weitere: kommunale Governance für städtische Stoffkreisläufe, Eingrenzung von Bodenspekulation durch Vergesellschaftung, Anreizmodelle zur Flächenminimierung im Wohn- und Gewerbebereich oder starke Transparenz- und Antikorruptionsgrundsätze in Politik und Verwaltung oder die Entwicklung neuer Zielindikatoren, die das BIP ablösen. Und natürlich braucht es an Berliner Hochschulen eine radikale Reform der Lehrpläne von BWL und VWL, um die Dominanz wachstumsbasierter Wirtschaftstheorien zu beenden. Denn solange wir die Ökonom*innen von morgen mit Theorien von gestern ausbilden, wird das Wachstumsparadigma nicht zu durchbrechen sein.
Toller Artikel. Einzig beim Thema „Eingrenzung von Bodenspekulation durch Vergesellschaftung“ wünscht man sich ein Überdenken der Position. Dieses Ziel der Eingrenzung der Bodenspekulation lässt sich effizienter erzielen.
Man kann Bodenbesitz durch Lenkungsabgaben um das Mass der Bodenrente belasten und so diese Erträge als Grundeinkommen an alle Einwohner verteilen.
Meine Erfahrung bei Erbbaurecht zeigt, dass diese Erbpacht-Verträge sehr komplex sein können und dabei vieles falsch gemacht werden kann. Speziell in der Umsetzung entstehen diverse soziale Fragen, die schwer zu beantworten sind: „wer darf dabeisein und von der Kostenmiete profitieren?“.
Eine Lenkungsabgabe auf potentielle Nutzflächen würde da mehrere Probleme gleichzeitig elegant und effizient adressieren. Neben der Preisstabilisierung hätte sie zur Folge, dass die Nutzflächeneffizienz (bei Wohnflächen wie auch Gewerbeflächen) gesteigert würde, die Zersiedelung würde gebremst und eine zentrumsnahe Verdichtung wäre die Folge.