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Ein Blick unter die Wasseroberfläche unseres Seins

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Nachhaltigkeit ist über die letzten Jahrzehnte zu einem zentralen Thema in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft geworden. Und dennoch scheinen ein konsequenter Klima- und Umweltschutz bisher nicht zu gelingen. Warum ist das so und wie können wir diese Schein-Nachhaltigkeit überwinden? Diese Fragen versucht Daniel Sieben in seinem Buch „Ganz Mensch Sein” zu beantworten. Seine Kernthese lautet: Für eine erfolgreiche persönliche und kollektive Transformation müssen wir die ökologische, soziale, emotionale und spirituelle Spaltung unseres Bewusstseins überwinden.

Daniel Sieben  ist selbstständiger Berater im Bereich der tiefensystemischen Nachhaltigkeit und Transformation. Bereits in seiner Promotion beschäftigte sich Sieben mit der Frage, wie ein nachhaltiger Bewusstseins- und Verhaltenswandel erfolgreich sein kann. Das Buch Ganz Mensch Sein baut auf den Erkenntnissen seiner Doktorarbeit sowie der Theorie U von Otto Scharmer auf und entwickelt diese zu einem konzeptionellen Leitbild für einen tiefensystemische Transformation weiter.

Schon auf dem Titelbild von Ganz Mensch Sein verbergen sich Hinweise auf den Inhalt des Buches: Der Eisberg im Zentrum der Titelseite ist dabei nicht nur ein populäres Symbol für die Klimakrise, sondern verweist auch auf das sogenannte Eisbergmodell, welches Sieben als Ausgangspunkt seines Buches nutzt. Der Teil des Eisbergs über der Wasseroberfläche repräsentiert die sichtbare Außenwelt und damit eine materielle, objektive und rationale Sachebene. Unter der Wasseroberfläche verbirgt sich eine zunächst unsichtbare Innenwelt mit unbewussten Verhaltensmustern, Glaubenssätzen, Gefühlen und der eigenen Identität. Mit dem Fokus auf die Sachebene und der Verdrängung der Beziehungsebene unter die Wasseroberfläche, veranschaulicht das Eisbergmodell die gesellschaftliche Konditionierung unserer Psyche und die Spaltung unseres Bewusstseins.

In aktuellen Nachhaltigkeitsdebatten, so Sieben, wird die Beziehungsebene häufig vernachlässigt. Stattdessen setzen Transformationsmodelle auf der reinen Sachebene an, wodurch im besten Fall kurzfristige Veränderungen, aber kein effektiver, tiefer Wandel initiiert wird. Denn nur mit der Integration unserer sozialen, emotionalen und spirituellen Fähigkeiten als fühlende Lebewesen können Systeme nachhaltig verändert werden.

In den darauffolgenden Kapiteln vertieft Sieben diese Problemstellung: Zunächst vermittelt er ein Grundverständnis des Psychotraumas anhand der Theorien des Psychotherapeuten Franz Ruppert und des Neurologen Gerald Hüther. Darauf aufbauend wird die sogenannte vierfache Traumaspaltung beschrieben. Erzeugt wird diese dadurch, dass wir als Menschen oftmals die Verbundenheit zur Natur (ökologische Spaltung), zu unseren Mitmenschen (soziale Spaltung), zu unseren Gefühlen (emotionale Spaltung) und zu unserer eigenen spirituellen Identität (spirituelle Spaltung) verloren haben. Unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit, unser Wirtschaftssystem und auch das weit verbreitete Verständnis von Nachhaltigkeit als Triple Bottom Line  von Wirtschaft, Ökologie und Gesellschaft sind von diesen Spaltungen geprägt.

Als Lösung der Problemstellung entwickelt Sieben ein Modell für eine tiefensystemische Transformation: Mithilfe einer visionären Führung und der Integration der inneren und äußeren Nachhaltigkeit wird eine Transformation der Denkweisen, Beziehungen, Handlungen und der persönlichen bzw. organisatorischen Identität ermöglicht. Dieser Transformationsprozess ist an die Theorie U von Otto Scharmer angelehnt und ermöglicht es mithilfe bewusster Reflektion und einer Öffnung des Denkens, Fühlens und Willens sich von alten Mustern zu lösen und sich neu entstehenden (“emerging”) Lösungen zu öffnen. So kann die vierfache Traumaspaltung individuell und kollektiv überwunden und eine gemeinsame sozial-ökologische Transformation ermöglicht werden.

Abbildung 1: Mit freundlicher Genehmigung zur Verwendung von Daniel Sieben.

Im gesamten Buch finden sich immer wieder Referenzen zu verschiedenen Ansätzen mit denen Sieben seine Theorie untermauert und veranschaulicht. Hierzu zählen unter anderem die Bewegung des Sacred Activism von Andrew Harvey, buddhistische Lehren, Bezüge zum Christentum sowie den Entwicklungsstufen des Ichs und von Organisationen nach Jane Loevinger beziehungsweise Frederic Laloux. Auch persönliche Erfahrungen lässt Sieben einfließen, um den Lesenden die Theorie näher zu bringen.

Verschiedene Anwendungsübungen und geleitete Meditationen runden das Buch ab. Sieben gelingt es damit, die Lesenden zu der Umsetzung der Theorie zu ermuntern. Eine persönliche Transformation hin zum Ganz-Mensch-Sein erfordert aktive und intensive Reflexionsarbeit. Sieben’s Erklärungen und Hilfestellungen können hier einen ersten Impuls geben.

Kritisch zu bemerken ist, dass Sieben bei seinen Erläuterungen an einigen Stellen stark verallgemeinert und somit wenig Raum für eine differenzierte Darstellung der Komplexität unserer Welt, unserer Psyche und unseres individuellen Mensch-Seins lässt. Hier liegt es bei den Lesenden, die Schilderungen einzuordnen und mit ihrer persönlichen Wirklichkeit zu vergleichen.

Insgesamt bietet das Buch Ganz Mensch Sein einen umfassenden Überblick über die Verbindung von äußerer und innerer Nachhaltigkeit und schafft dadurch – wie im Untertitel angekündigt – ein tiefensystemisches Transformationsleitbild. Damit richtet es sich an alle, die im Rahmen einer persönlichen oder kollektiven Transformation bereit sind, einen Blick „unter die Wasseroberfläche“ zu werfen.

Daniel Sieben (2021): Ganz Mensch Sein. Wie wir die Schein-Nachhaltigkeit überwinden – Ein Transformationsleitbild. München: oekom verlag.

 

Diese Rezension ist im September 2021 zunächst in der ÖkologischesWirtschaftenAusgabe 36/3 – erschienen.

 

Christina Vogel, M.Sc., M.A., arbeitet seit Juni 2020 als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsfeld „Ökologische Produktpolitik“ in der Berliner Geschäftsstelle des Instituts für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW). Zuvor studierte sie den M.A. „Sustainability Economics and Management“ an der Universität Oldenburg und den M.Sc. „Strategic Leadership towards Sustainability“ an der Technischen Hochschule Blekinge in Schweden. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kreislaufwirtschaft, die Nachhaltigkeitsbewertung von Produkten und die Gestaltungsmöglichkeiten einer sozial-ökologischen Transformation.

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