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Ausgewachsen – Zeit für strategische Allianzen

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Vor nunmehr 50 Jahren wurde der Bericht des Club of Rome zu den „Grenzen des Wachstums“ veröffentlicht. Jedoch wird dieses Wissen um Grenzen bis heute nicht in Form einer breiten und bewussten Abkehr von sozio-ökonomischen Wachstumsabhängigkeiten und fossilen Energieträgern gelebt. Vor diesem Hintergrund luden das IÖW und die VÖW am 23. November 2022 zur Jahrestagung unter dem Banner „Ausgewachsen – Wirtschaften als gäbe es ein Morgen“ sowohl vor Ort in Berlin als auch via Livestream ein. 

Mit einem Galopp durch verschiedene Blickwinkel auf die Polykrisen moderner Wachstumsgesellschaften und der Skizzierung eines Forschungs- und Handlungsprogramms legte Ulrich Petschow die Grundlagen für eine erste Paneldiskussion. Deren allgemeiner Tenor war sodann, dass bereits seit geraumer Zeit vielversprechende alternative Ansätze erprobt und praktiziert werden. Jedoch schwimmen diese „Inseln des Richtigen“, wie es Reinhard Loske formulierte, in einem „Ozean des Falschen“. Umso mehr gelte es Allianzen aufzubauen, um eine tiefgreifende Transformationsbewegung über Inseln hinweg anzustoßen. 

Im zweiten Teil der Konferenz fanden drei parallele Workshops statt, die sich mit unterschiedlichen Transformationsbedarfen wachstumsorientierter Gesellschaftssysteme befassten. Im Workshop B beispielsweise stellten die Referent:innen ihre Positionen zu institutionellen Rahmenveränderungen und Bottom-up-Bewegungen durch Organisationen vor. Auffallend war hier, dass die zuvor beschworene Allianzbildung alles andere als selbstverständlich ist, wenn Problem- und Lösungsverständnisse divergieren. Als Vertreter der Europäischen Kommission wies Alexandr Hobza auf Anzeichen für eine absolute Entkopplung von CO2-Emissionen und des BIP hin und identifizierte positive Trends anhand quantitativer Entwicklungen bei Patenterteilungen. Demgegenüber argumentierte Matthias Schmelzer als Vertreter von Degrowth-Ansätzen, dass eine Entkopplungsrate von etwa zwei Prozent pro Jahr in einzelnen Ländern bei weitem nicht ausreicht, um die heutigen ökologischen Herausforderungen zu meistern. Schmelzer argumentierte auch, dass Patente nicht unbedingt ein Indikator für positive Veränderungen sind. Beispielsweise spiel(t)en Patente hinsichtlich des weltweit sehr ungleich verteilten Zugangs zu COVID-19-Impfstoffen eine traurige Schlüsselrolle. 

Abschließend kamen die Teilnehmer:innen in einer weiteren Paneldiskussion, die die Strategie-Frage aufwarf, wieder zusammen. Marie-Luisa Wahn (BUND) betonte hier, dass Vertreter:innen von Postwachstumspositionen an jene Themen heran müssen, die in der Gesellschaft anschlussfähig sind und die lebensweltlichen Probleme vieler Menschen ansprechen – wie z.B. öffentliche Daseinsvorsorge und eine gerechte Lastenverteilung, zu der eine Umverteilung von Reichtum beitragen kann. 

Zusammenfassend würde ich sagen, dass sich die wachsende Bewegung um Degrowth und vorsorgeorientiertes Postwachstum in einem herausfordernden Spannungsfeld befindet. Immer wieder muss Klarheit über hegemoniale Machtstrukturen und ökologische Zerstörungstendenzen gesucht und der Finger in die Wunden gelegt werden. Gleichzeitig muss aber auch eine Anschlussfähigkeit an die Lebenswelten vieler Menschen sowie an gesellschaftliche Institutionen gesucht und strategisch genutzt werden. Beispielsweise muss eine Suffizienz-Strategie geschickt damit umgehen, dass Konsum für viele Menschen eine identitätsbildende Funktion einnimmt. Eine sozial-ökologische Transformation im Sinne von Postwachstum oder Degrowth muss letztendlich neue Praktiken erfahrbar machen, gesellschaftliche Mehrheiten gewinnen und den institutionalisierten „Ozean des Falschen“ umwühlen. Vor diesem Hintergrund konnte die Tagung zu einem „Wirtschaften als gäbe es ein Morgen“ (selbstverständlich) nicht alle Antworten geben. Sie hat jedoch gezeigt, dass sich die Degrowth- und Postwachstumsbewegung ihrer strategischen Herausforderung zur Anschlussfähigkeit und Allianzbildung durchaus bewusst ist. Nicht umsonst saß auch Verena Wolf als Mitherausgeberin von „Degrowth & Strategy“ auf dem Abschlusspanel.  

Diese strategische Herausforderung gibt den Teilnehmer:innen der Tagung und der Bewegung insgesamt – wie Thomas Korbun in seinen Abschlussworten sagte – „Aufträge“ mit. Im Sinne eines radikalen inkrementellen Wandels (Maja Göpel) müssen wir praxisorientierte und kommunizierbare Ansätze anbieten, ohne die Tragweite und Zuspitzung der Problemdynamiken moderner Wachstumsgesellschaften aus den Augen zu verlieren. 

 

Eine Dokumentation der Tagung ist über folgenden Link verfügbar: https://www.ioew.de/veranstaltung/ausgewachsen-wirtschaften-als-gaebe-es-ein-morgen 

Tobias Froese ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand an der ESCP Business School (Berlin). Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf nachhaltigkeitsorientierten und insbesondere degrowth-orientierten Geschäftsmodellen. Einen besonderen Stellenwert nehmen dabei kritische Untersuchungen des Wertbegriffs und alternative Konzeptualisierungen organisationaler Wertschöpfung ein.

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