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Auf gehts! In Richtung neuer Wirtschaftssysteme

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Zehn Jahre nach der globalen Finanzkrise in 2007/08 verbleibt eine weitverbreitete Ungewissheit über die zukünftige Wirtschaftspolitik. Unter dem Deckmantel des Fortschritts werden unveränderlich symptomatische Lösungen präsentiert, deren Folgekosten von Wirtschaftsexperten/innen und Politikern/innen weiter hinten angestellt werden. Solange Menschenrechte und Umwelt weiterhin mit Füßen getreten werden, deutet das nicht nur auf eine politische und wirtschaftliche Krise hin, sondern auf eine Krise der Gesellschaft. Im Kontext globaler Wirtschaftszusammenhänge wächst der Druck durch fortschreitenden Klimawandel und steigende Ungleichheit. Doch allerorts formt sich daher Widerstand gegen den Status Quo: Umweltaktivist/innen und indigene Bevölkerungsgruppen kämpfen mit zivilem Ungehorsam gegen Umweltverschmutzung und für den Ausstieg aus der Finanzierung fossiler Brennstoffe, Studierende fordern Pluralismus in der Wirtschaftslehre, Nichtregierungsorganisationen, Initiativen der Zivilgesellschaft und private Firmen entwickeln allerorts konkrete neue Lösungen, um fairere und umweltbewusstere Wirtschaftssysteme aufzubauen. Trotz alledem mangelt es immer noch an politischer Durchsetzungskraft. Aus diesem Grund hat sich die neu gegründete, internationale Initiative Reclaim Our Economy zusammengefunden. Der Initiative geht es darum, eine Gemeinschaft und Räume zu schaffen, in denen das Entstehen neuer Wirtschaftssysteme im Einklang mit Mensch und Natur gefordert und gefördert wird.

Auf neuen Pfaden

Die Gruppe Reclaim Our Economy besteht zum Großteil aus europäischen Aktivist/innen, Forscher/innen und Künstler/innen. Ihr Profil und ihre Vorgehensweise hat die Gruppe über die letzten Monate in kontinuierlicher Rücksprache mit Akteuren des Umfelds erarbeitet. Am Anfang stand eine breite Umfeldanalyse und Interviews mit ca. 80 Interessenvertreter/innen aus der Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, von Nichtregierungsorganisationen und Zivilgesellschaftsinitiativen. Danach wurden die gesammelten Informationen kondensiert, und durch regen Austausch mit Teilnehmern bei wichtigen Veranstaltungen der Szene in ganz Europa weiter ausgearbeitet (z. B. New Economy & Social Innovation Forum, Spanien; 3 Sommer Unis in Italien/Österreich/Deutschland; Konferenz und Festival des Institute for New Economic Thinking, Schottland). Das Resultat der Recherche und der Begegnungen zeigt sich in den 3 Haupt-Ansatzpunkten, die den Kern der Arbeit von Reclaim Our Economy ausmachen:

  1. Internationale Koordinierung,
  2. Erzählungen für systemischen Wirtschaftswandel,
  3. politische Einflussnahme.

Diese Schlussfolgerungen der Gruppe wurden erst kürzlich durch einen neuen Bericht der Friends Provident Foundation bestätigt.

Internationale Koordinierung

Zwar gibt es bereits einzelne Versuche für mehr internationale Koordinierung, wie zum Beispiel bei oben genannten Konferenzen etc.,doch bisher beschränken sich diese lediglich auf einige wenige spezifische Lösungsansätze oder Themenfelder. Was fehlt, sind Möglichkeiten, diese einzelnen Versuche als Teile einer größeren Gemeinschaft anzuerkennen und zu integrieren, ohne sich dominierenden Strukturen anzugleichen. Dies ist allerdings nur dann möglich, wenn die Voraussetzungen für die Entstehung neuer Gemeinschaften gegeben sind. Dafür ist es wichtig, die Bedürfnisse und Handlungsweisen bereits aktiver Akteure kontinuierlich mit einzubeziehen. Dies stellt sicher, dass der Koordinierung von Projekten durch Reclaim Our Economy eine breite Legitimität und Zweckmäßigkeit unterliegt. Durch die Verbindung von Reflexion und Emotionaler Verbundenheit entsteht so ein Nährboden, der die oft noch fehlende Solidarität nicht nur konzeptionell wachsen lässt, sondern diese auch erlebbar macht.

Erzählungen für systemischen Wirtschaftswandel

Der Ansatz der Gruppe basiert darauf, dass Veränderung sowohl eine gewissen Erfahrungswert bedarf als auch eine intellektuelle und emotionale Herausforderung ist. Dies ist vor allem geprägt durch Erkenntnisse von Gruppen wie Ende Gelände und The Rules , aber auch Künstler/innen wie dem Beehive Design Collective Store und dem Kapitalismus Tribunal des Haus Bartleby. Diese Akteure versuchen alle, die bisherigen Erzählungen mit eigenen systemkritischen Ansätzen aufzubrechen und neu zu definieren. Interessant ist dabei vor allem, wer die neuen Erzählungen mitbestimmt, und auf welche Art diese kommuniziert werden. Die vorherrschende Erzählungen der Wirtschaft vermittelt unterschwellige Grundannahmen der Gesellschaftsorganisation, die im Kontext mit unseren Erfahrungen aus der Arbeitswelt, von Armut oder von Machtmissbrauch keinen Sinn machen. Deswegen will Reclaim Our Economy durch ihre Organisation dabei helfen, ein breites Spektrum an Stimmen zu stärken und zusammen zu bringen. Dadurch entsteht ein komplexes Gefüge von Erzählungen neuer Wirtschaftssysteme die über einzelne Gruppen und Länder hinausgehen. Dies führt dazu, gemeinsam, kreativ und vielfältig unsere Welt, unser Verständnis und unser Erlebnis als Gemeinschaft  neu zu bestimmen. Kurz gesagt, es geht um die Deutungshoheit der Geschichten, die unser Leben bestimmen.

Politische Einflussnahme – Keine Entscheidung ist auch eine Entscheidung

Wirtschaftliche Konsequenzen stehen im klaren Zusammenhang mit politischen Entscheidungen. Als Teil unserer demokratischen oder wirtschaftlichen Entscheidungsmacht ist keine/r von uns lediglich passive/r Zuschauer/in. Die Rolle des politischen Mitspielers ist heutzutage jedoch zum Großteil auf die wirtschaftliche Ebene beschränkt. Zumindest solange, wie wir unsere demokratische Verantwortung mit der Wahlurne zu Grabe tragen. Mit Bruttoinlandsprodukt und Wirtschaftswachstum als Speerspitze des gesellschaftlichen Fortschrittes wird jegliche umfassende, systemische Veränderung im Keim erstickt. Wir messen, was wir schätzen und schätzen, was wir messen. Deshalb ist es umso wichtiger, die Rolle der Gesellschaft in der bestimmung dieser Werte wiederzugewinnen. Durch die Einführung neuer demokratischer Organisationsformen, wie sie zum Beispiel auch in dem Movement for Black Lives oder der New Economy Coalition in den USA praktiziert werden, können Barrieren der vorherrschenden Verständnisse von Identität und Normen demontiert werden. Dies ermöglicht es, Planet und Mensch vor Profit zu stellen. Weil die etablierte Politik keine brauchbaren Lösungen liefert, will Reclaim Our Economy mithelfen, eine breite politische Bewegung in Europa zu mobilisieren, die neue Lösungen fordert und fördert.

Um diese Punkte ganz konkret umsetzen zu können, hatte die Gruppe Ende Oktober in Essen zu einem Arbeitswochenende in Zusammenarbeit mit lokalen Akteuren eingeladen. Im Fokus standen die folgenden zwei Leitfragen:

  1. Wie können wir eine internationale Gemeinschaft mobilisieren, die neue Wirtschaftssysteme mitgestalten will?
  2. Wie können wir neue Wirtschaftssysteme und neue Formen der Gesellschaftsorganisation erlebbar machen?

Eine Zukunftsvision im Jetzt….

Ein oft zu hörendes Argument gegen Bestrebungen, bestehende Wirtschaftssysteme zu ersetzen, ist der Mangel an einer klaren Zukunftsvision. Diese vorschnelle Aussage provoziert im Gegenzug die Frage nach den vermeintlich klaren Zukunftsvisionen hinter unserer jetzigen Gesellschaftsorganisation. Neoliberalismus, Sozialstaat, Globalisierung oder Kapitalismus stehen bereits fest als Schuldige am Pranger. Sich auf einen davon zu einigen, führt aber des Öfteren zu nicht enden wollenden Diskussion. Doch diese Problematik ist zugleich auch Spiegel der bestehenden gesellschaftlichen Komplexität. Jeder der oben genannten Kandidaten ist nicht nur weitaus vieldeutiger als oft ausgemacht, sondern auch situationsabhängig mit unterschiedlicher politischer oder wirtschaftlicher Tragweite verknüpft. Dies zeigt vor allem, wie wichtig es ist, diese Kandidaten in ihrer Außergewöhnlichkeit zu relativieren. Dadurch werden sie zugleich zu gewöhnlichen Aspekten des Lebens, wie auch zu veränderbaren Elementen. Diese Begriffe zu relativieren und in Zusammenhang mit unserer Alltagserfahrung zu stellen, dient gesellschaftlichen Transformationsprozessen dahingehend, nicht einer vermeintlich übermächtigen Visions-Paralyse zum Opfer zu fallen. Die oft gehörte Forderung, sich auf nur eine Vision einigen zu müssen, ist nicht nur unrealistisch, sondern auch illegitim. Die Vision und Werte von Reclaim Our Economy sind daher lediglich fokussiert auf die organisatorische Rolle der Gruppe. Dies soll ermöglichen das einzelnen Akteuren weiterhin autonomität über ihr Selbstverständnis gegeben wird.

Ob wir wollen oder nicht, zwei Grundpfeiler für die Ausrichtung einer neuen Wirtschaftsvision sind bereits gesetzt: 1. die ökologischer Grenzen des Planeten und 2. die unzuträgliche Tendenz bestehender Wirtschaftssysteme, die Bedürfnisse der Menschen und unsere Natur unter das Diktat des Profits zu stellen. Anstatt dies als negativen Aspekt zu betrachten, sollten wir das jedoch eher als Chance sehen. Eine Chance, unsere Leben als aktiver Teil der Gesellschaft bewusst mitzugestalten.

Man mag diese Ansichten als naiv und radikal bezeichnen. Möglicherweise sind sie das sogar. Doch wenn Sie das tun, erlauben Sie mir die Frage: im Vergleich wozu? Im Vergleich zu Wirtschaftssystemen, die uns fortlaufend auf einen gesellschaftlichen, individuellen, wirtschaftlichen und planetaren Abgrund zusteuern?

Licht aus – Spot an!

„Unsere Wirtschaft ist zu wichtig, um sie Experten zu überlassen“, sagte der Cambridger Wirtschaftswissenschaftler Ha-Joon Chang. Mit dieser Einsicht im Gepäck will Reclaim Our Economy mehr Leute dafür begeistern, unsere Wirtschaft aktiv mit zu gestalten und mit zu bestimmen. Daher plant die Gruppe für Ende 2018 ein mehrtägiges, internationales Aktions-Camp, bei dem sowohl wissenschaftliche als auch politische, soziale und künstlerische Initiativen eine Plattform Bekommen werden, um Ideen auszutauschen, sich zu vernetzen und auf Rat und Tat zu verknüpfen. Die Gruppe freut sich über neue Unterstützer! Für Neuigkeiten und Anfragen steht die öffentliche Facebookseite von Reclaim Our Economy zur Verfügung.

Florian ist ein in Malmö, Schweden, lebender Aktivist, Campaigner und Wissenschaftler. Im Moment arbeitet er als unterstützender Forscher für das Earth System Governance Project und als Koordinator für die Sommer Uni "Alternative Economic and Monetary Systems" an der BOKU Universität in Wien. Er engagiert sich stark für Nichtregierungsorganisationen und Bürgerinitativen in ganz Europa, mit Schwerpunkt auf Umweltgerechtigkeit, Ungleichheit und Wirtschaft. Als Teil seines Engagement hat er eine neue europaweite Kampagnengruppe namens Reclaim Our Economy mit initiiert.

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