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Wachstumswende: Warum die politische Umsetzung stockt

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1972 erschien „Grenzen des Wachstums“, der erste Bericht an den Club of Rome. 45 Jahre später ist seine Wachstumskritik aktueller denn je. Während die Industriestaaten immer langsamer wachsen, erlebt die Wachstumsskepsis eine beispiellose Renaissance – in der Forschung, in den Medien, im gesellschaftlichen Diskurs. Eine Sphäre aber bleibt außen vor: die Politik. Wachstumskritik gleicht hier einem Tabuthema, spielt auf Regierungsebene kaum eine Rolle. Wachstum ist und bleibt oberstes Ziel der Wirtschaftspolitik.
Warum ist das so?

45 Jahre nach Beginn der Wachstumsdebatte ließe nicht zuletzt die globale Erwärmung ein politisches Umsteuern erwarten, doch die „Wachstumswende“ ist ausgeblieben. Diese Diskrepanz überrascht und bleibt in der wachstumskritischen Forschung erstaunlich unterbelichtet.

Wachstumskritik im politischen Prozess

Zur Aufklärung dieses zentralen Puzzles kann die Politikwissenschaft neue Erkenntnisse beitragen. Ihr Methodenbaukasten hilft, wachstumskritische Politik als Prozess zu verstehen. Eine solche Untersuchung basiert auf der angelsächsischen Unterscheidung des Politikbegriffs in drei Dimensionen: policy (Inhalt), politics (Prozess) und polity (Form). Unter einer policy verstehen Politikwissenschaftler/innen eine konkrete politische Maßnahme, politics meint ihre Um- und Durchsetzung im politischen Wettbewerb, und der polity-Begriff beschreibt die Rückwirkung auf den institutionellen Rahmen. Ein Beispiel: Wird die Forderung, das Mehrheitswahlrechts einzuführen (policy), in den Parteien diskutiert und im Parlament beschlossen (politics), dann verändert sich die Gestalt der Volksvertretung (polity).

Die Untersuchung der politischen Dimension der Wachstumskritik startet mit einer Erkenntnis: die Wachstumskritik gibt es nicht. Sie ist ein unscharfer Oberbegriff für eine lange Reihe an Ideen. Alle lehnen den Wachstumsoptimismus der Mainstream-Ökonomik ab, den der Neoklassiker Paul Romer einmal so formuliert hat: „Es gibt keine Grenzen des Wachstums. Wir werden den Wert der bewohnbaren Welt steigern, und zwar ohne Ende.“ Dass dieses Wachstumskonzept ökologisch, sozial und ökonomisch untragbar geworden ist, hat die Wachstumsdebatte gezeigt. Doch ein konsistentes Gegenmodell hat sie nicht hervorgebracht – eine Herausforderung auch für die Politik.

Reinhard Steuer hat drei Hauptstränge identifiziert: die soziale Wachstumskritik, die ökologische Wachstumskritik und die Kritik am Sozialprodukt. Soziale Wachstumskritiker wie Ezra Mishan beklagten den Verlust traditioneller Hierarchien im Zuge des wirtschaftlichen Aufstiegs der unteren Schichten. Sozialprodukt-Kritiker haben alternative Wohlstandsindizes entwickelt. Nur die ökologische Wachstumskritik aber sucht nach ökonomischen Alternativen zum neoklassischen Endloswachstum – und hat zwei zentrale Alternativen hervorgebracht: Nullwachstum und qualitatives Wachstum.

Nullwachstum: eine politische Utopie

Als Gründungsdokument der Nullwachstumsidee gilt „Grenzen des Wachstums“ von 1972. Das Team um Dennis Meadows definiert hier als „Mindesterfordernis für ein globales Gleichgewicht“: Der Kapitalstock muss konstant bleiben, Neuinvestitionen sind auf ein Mindestmaß zu beschränken. Kunst, Kultur und sozialer Fortschritt können sich entfalten, das Wirtschaftswachstum aber muss enden. Heute wird sogar ein aktives Schrumpfen des Kapitalstocks der Industrieländer gefordert.

Doch welche Maßnahmen (policies) sieht diese Wachstumswende konkret vor, und wie soll sie umgesetzt werden (politics-Dimension)?

Die ersten Publikationen empfehlen „globales Handeln“, „konzertierte Aktionen“, ein „Weltbewusstsein der Weltbürger“, das Überwinden des Konsumismus. Heutige Autorinnen und Autoren plädieren für das aktive Schrumpfen fossiler, ressourcenintensiver Wirtschaftssektoren (Finanzbranche, Auto- und Energieindustrie, landwirtschaftliche Großbetriebe, globale Logistik, Flugverkehr und mehr) und den Ausbau solidarischen und ökologischen Wirtschaftens. Vorgeschlagen werden mannigfaltige staatliche Eingriffe in die Wirtschaftsstruktur und ein hohes Maß an technokratischer Planung, kurz, die Einführung einer Form der Planwirtschaft. Damit würde der polity-Rahmen gewechselt.

Wer setzt nun wie das neue Wirtschaftsmodell im demokratischen Prozess durch? Die „Grenzen“ schweigen sich hierzu aus. Spätere Veröffentlichungen setzen mehrheitlich auf eine Umgestaltung von oben, auf überstaatliche „Weltbehörden“ mit detaillierten Entwicklungsplänen, oder darauf, dass eine neue Konsum-Ethik die sozial-ökologische Transformation quasi von allein besorgt. (Vor- )Bedingungen, Ablauf und Akteure der Umsetzung bleiben unerwähnt. Zumindest implizit scheint man nach wie vor vom Denkmodell des wohlmeinenden Diktators auszugehen, der das als richtig erkannte „Aktionsprogramm zum Überleben“ gegen alle Widerstände durchsetzt. Ein Umsetzungskonzept für marktwirtschaftlich verfasste Demokratien wurde in 45 Jahren nicht ausgearbeitet. Aus politikwissenschaftlicher Sicht muss das Nullwachstum daher als politische Utopie bezeichnet werden, als gedankliche, kritische Gegenwelt zur soziopolitischen Realität, die nicht auf eine praktische Umsetzung hin angelegt ist.

Qualitatives Wachstum: konsens- und mehrheitsfähig

Der Brundtland-Bericht der UN, benannt nach der Kommissionsvorsitzenden Gro Harlem Brundtland, macht 1987 das zweite Alternativkonzept populär, das qualitative Wachstum. Die hier als „dritter Weg“ vorgeschlagene nachhaltige Entwicklung setzt auf ein „grünes“, umweltverträgliches Wachstum, das von seiner stofflichen Basis zunehmend entkoppelt ist: Die Produktion wächst weiter, Ressourcenverbrauch und Umweltbelastung aber nehmen ab. Im Ergebnis kann die Postwachstumsgesellschaft stehen, in der die sozialen Systeme unabhängig vom Wachstum funktionieren.

Autorinnen und Autoren der Nachhaltigkeit haben viele konkrete policies entwickelt. So sollen höhere Forschungsausgaben den technischen Fortschritt beschleunigen, um Ressourcen effizienter zu nutzen. Aktive Umweltpolitik soll das Verursacherprinzip durchsetzen, eine Pigou-Steuer Verschmutzer/innen zur Kasse bitten. Dienstleistungssektor und erneuerbare Energien werden ausgebaut, die Energiepreise erhöht und Informationskampagnen zu nachhaltigem Konsum lanciert. Auch mit Anreizverfahren, Zertifikatlösungen und dem Emissionshandel soll das Wirtschaftsmodell tiefgreifend umgebaut, nicht aber abgelöst werden. Der polity-Rahmen wird folglich nur begrenzt modifiziert.

Die politics-Dimension, die Umsetzung wird vergleichsweise breit behandelt. Auf regionaler Ebene soll die zivilgesellschaftliche Diskussion die Nachhaltigkeit befördern: Gemeinden bestimmen über ihre Ressourcen mit, Bürgerinitiativen und lokale Demokratie über Großprojekte. Auf nationaler Ebene sollen Umweltministerien gestärkt, soll die Nachhaltigkeit zur politischen Leitlinie werden. Der Einzug grüner Parteien ins Parlament setzt auch die anderen Parteien unter Druck, ermöglicht eine Öko-Gesetzgebung, die den postmateriellen Wertewandel (etwa durch Verbraucherschutz) befördert. Auf internationaler Ebene sollen Institutionen wie die Weltbank nachhaltig reformiert werden. Aus politikwissenschaftlicher Sicht sind die Schritte grundsätzlich konsensfähig – das qualitative Wachstum wird damit politisch mehrheitsfähig.

Blick in die politische Praxis

Das qualitative Wachstum ist bereits vielfältig in der praktischen Politik präsent. Mit der Verbreitung der Nachhaltigkeit wurde eine Reihe an wachstumskritischen Forderungen angegangen. Hierzu zählen, neben vielen anderen, die Einrichtung der UN-Kommission für Nachhaltige Entwicklung (1992), das FCKW-Verbot (1994), der Weltklimavertrag von Kyoto (1997), das deutsche Erneuerbare-Energien-Gesetz (2000), das erste staatliche Biosiegel (2001), der europäische Emissionshandel (2005) und die UN-Klimakonferenz in Paris (2015).

Das Nullwachstum hingegen ist in Europa nur einmal auf Regierungsebene aufgetaucht. Unter dem Vorsitz von Jonathon Porritt, Urgestein der Umweltbewegung, veröffentlichte die britische Sustainable Development Commission 2009 ihren Bericht „Prosperity without Growth?“. Dieser schlug zur allgemeinen Überraschung einen Stopp des Wachstums vor. Schritte zur Umsetzung der Utopie hat die Politik jedoch nicht versucht: Die Labour-Regierung ignorierte den Vorschlag, Porritt trat zurück, die Konservativen lösten die Kommission 2010 ersatzlos auf.

Umsetzungskonzepte dringend gesucht

Was zeigt ein politikwissenschaftlicher Blick auf die Wachstumsdebatte? Es ist das große Verdienst der Wachstumskritik, die ökologische, soziale und ökonomische Schieflage des neoklassischen Wachstumsimperativs aufgezeigt zu haben. Die Forderung nach Nullwachstum hat den politischen Praxistest jedoch nicht bestanden. Aus gutem Grund: radikale Forderungen ohne gangbares Umsetzungskonzept werden im demokratischen politischen Wettbewerb zumeist aussortiert. Die Wachstumsdebatte hat dafür eine der wirkmächtigsten Ideen der Moderne hervorgebracht: die Nachhaltigkeit, die die Politik entwickelter Staaten tatsächlich verändert.

Folgt man diesem Befund, dann sollte die wachstumskritische Forschung noch intensiver an mehrheitsfähigen Umsetzungskonzepten für die Wachstumswende arbeiten. Der theoretische Anfang ist gemacht. Er heißt Postwachstumsgesellschaft.

 

Literaturquellen der genannten Autor/innen:

Jackson, Tim, 2009: Prosperity without growth? The transition to a sustainable economy. London: Sustainable Development Commission.

Meadows, Dennis; Meadows, Donella; Zahn, Erich; Milling, Peter, 1972: Die Grenzen des Wachstums: Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt

Steurer, Reinhard, 2002: Der Wachstumsdiskurs in Wissenschaft und Politik. Berlin: Verlag für Wissenschaft und Forschung

WCED, United Nations, 1987: Report of the World Commission on Environment and Development: Our Common Future

1 Kommentare

  1. Jörn Wiertz sagt am 2. März 2018

    Nullwachstum eine politische Utopie? – Zustimmung!
    Qualitatives Wachstum Konsens und mehrheitsfähig? – Nur solange es nicht ans Eingemachte geht.

    Die politische Umsetzung der Wachstumswende stockt vor allem deshalb, weil sie oberflächlich bleibt. Sie isoliert Einzelaspekte statt die Verbindung zum Gesamten herzustellen. Schon die Behandlung der Wachstumsfrage als ein ökonomisches Problem grenzt wesentliche Aspekte aus.

    Ist das zwanghafte Mehr beim Haben denn nicht auch Ergebnis eines zu Wenig an Sein (oder von fehlender Resonanz, wie Hartmut Rosa es nennt). Womit fülle ich die entstehende Leere, wenn ich nicht konsumiere?

    Ohne eine ungefähre Vorstellung, wie (auch ökonomisch) unsere Gesellschaft als eine Gesellschaft von Beziehungen stattfinden kann, droht Wachstumskritik da zu landen, wo Harald Welzer jetzt schon ist: Car-Sharing als revolutionäres Gegenmodell zur Wachstumsideologie.

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