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Von der einsamen zur gemeinsamen Zeit

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Desynchronisation als ein Problem der Dienstleistungsgesellschaft

Postwachstum ist nicht unbedingt mit Degrowth gleichzusetzen. Auf Wachstum soll nicht zwangsläufig verzichtet werden. Aber in der auf Wachstum ausgerichteten Dienstleistungsgesellschaft werden einige Umstände tendenziell zu Problemen, mit denen man heute auf neue Weise umgehen muss. Zu diesen Umständen gehört, nach Hartmut Rosa, die zeitliche Desynchronisation. Rosa unterscheidet verschiedene Arten der zeitlichen Desynchronisation. Hier soll es allerdings um eine weitere Form der Desynchronisation, nämlich die Desynchronisation von Lebenstempi gehen, welche für das Alltagsleben der Menschen von großer Bedeutung ist.

Die historische Synchronisation von Lebenstempi

Vor der Diskussion über Desynchronisation bedarf es einer Klärung des Begriffs der Synchronisation.

Unter Synchronisation von Lebenstempi kann man die Situation verstehen, dass alle Menschen das Leben auf der Basis eines gemeinsamen temporalen Modells führen, z. B. im gleichen Zeitraum zur Arbeit gehen und Feierabend haben. Historisch gesehen beruhten die Lebenstempi in der vormodernen Agrargesellschaft bereits auf einem gemeinsamen Rhythmus, der durch die Natur, beispielsweise durch den Wechsel der Jahreszeiten, bestimmt wurde. Jedoch hatte die Entwicklung hin zur Industriegesellschaft eine andere Art von Synchronisation zur Folge, da nun die festgelegten, gleichzeitigen Arbeitszeiten den Menschen eine Tagesstruktur vorgaben, die unabhängig vom Rhythmus der Natur stattfand.

Um die Produktivkraft und Leistungsfähigkeit zu steigern, wollten die Unternehmer/innen vor allem des verarbeitenden Gewerbes die Arbeitszeit möglichst verlängern. U. a. gegen die durch verlängerte Arbeitszeiten ausgelöste Ausbeutung wendeten sich die Arbeiter/innen in ihren darauffolgenden Arbeitskämpfen. Vor dem Hintergrund dieses Klassenkampfs begannen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts politische und wirtschaftliche Mächte damit, ein Ordnungsrecht über die Arbeitszeit auszuüben. Nach der deutschen Wiedervereinigung spielt das Arbeitszeitgesetz (ArbZG) dafür die wichtigste Rolle. Neben der adäquaten Begrenzung der Höchstarbeitszeit legt das ArbZG einerseits den Beginn und das Ende der Arbeitszeit fest und hat damit andererseits einen indirekten Einfluss darauf, wann Freizeit stattfinden kann. In einer Industriegesellschaft gilt die durch Gesetze festgelegte Grenze zwischen Arbeits- und Freizeit für die meisten Menschen als ein temporales Modell der Lebensführung. Dabei werden die Lebenstempi auch allgemein synchronisiert, da der Rest des Lebens um die Arbeitszeit herum ausgerichtet werden muss.

Neben den Problemen, welche die Synchronisation von Lebenstempi nach sich zieht, beispielsweise die Unausgewogenheit von Arbeits- und freier Zeit, bringt auch der Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft und die damit verbundene Desynchronisation Herausforderungen mit sich.

Die heutige Desynchronisation von Lebenstempi

Ein Merkmal der Dienstleistungsgesellschaft ist die Flexibilisierung der Arbeitszeit für einen Teil der Beschäftigten. Sie hat zur Folge, dass die Alltagszeit, die im Zuge der Entwicklung der Industriegesellschaft innerhalb einer starren Struktur stattfand, zerstreut wird. Es gibt immer weniger einen bestimmten Zeitraum, der rein als Arbeits- oder Freizeit dient. Die Gültigkeit eines gemeinsamen temporalen Modells wird mit dem Aufstieg der Dienstleistungsgesellschaft zunehmend schwächer. Ich gehe jetzt zur Arbeit, während meine Freund/innen aber vielleicht gerade ins Bett gehen; an einem Tag habe ich endlich frei, während meine Familienangehörigen jedoch arbeiten oder zur Schule gehen müssen. Selbst wenn ich endlich einen Zeitraum mit meinem/r Partner/in zum Abendessen habe, wird die Mahlzeit möglicherweise ab und zu von Arbeit durch das Smartphone unterbrochen. Beim Abendessen sitzen wir uns zwar gegenüber, unsere Seelen sind dann aber nicht synchron. Wir verfehlen uns immer häufiger; also die Lebenstempi sind zunehmend asynchron.

Dies kann auf das Wohlbefinden der Menschen schwerwiegende Auswirkungen haben, wenn beispielsweise die Zeit mit dem/r Partner/in, mit Freund/innen oder Familienangehörigen untergraben wird, weil sich so wenig gemeinsame, freie Zeiträume finden lassen. Während in der Industriegesellschaft noch um die Eigenzeit – Zeit für uns selbst also, die auch mit Freund/innen und Familienmitgliedern verbracht werden kann – gekämpft werden musste, ist es in der Dienstleistungsgesellschaft hingegen ein Problem, dass die Eigenzeit oftmals nicht mit Freund/innen oder der Familie geteilt werden kann.

Zeitkoordination als eine Aufgabe für die Postwachstumsgesellschaft

Vor diesem Hintergrund wäre es eine Aufgabe in der postwachstumsorientierten Gesellschaft, verschiedene Lebenstempi so zu koordinieren, dass die Lebensqualität der Menschen positiv beeinflusst wird. Wir brauchen nicht mehr einfach nur Eigenzeit, sondern gemeinsame Zeit. Diese Aufgabe bezieht sich also auf Zeitkoordination. Wenn ich eine gemeinsame Zeit mit meiner Familie (z. B. einen Familienurlaub) planen möchte, kann ich nicht einfach passiv auf Feiertage warten, sondern ich und meine Familienangehörigen müssen unsere gemeinsame Zeit aktiv disponieren. Dabei brauche ich vielleicht die Kolleg/innen, die für mich einspringen wollen. Demzufolge spielt die horizontale Koordination zwischen den betroffenen Personen eine wichtige Rolle dabei, das Desynchronisationsproblem der Dienstleistungsgesellschaft zu überwinden.

Indes zieht die Koordination von Arbeitszeit oftmals ein Gerechtigkeitsproblem nach sich. Zum Beispiel findet die Mitbestimmung von Arbeitnehmer/innen über Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit heute hauptsächlich in einem Aushandlungsprozess zwischen Betriebsrat und Arbeitsgeber statt. In Betrieben ohne Betriebsrat hat aber der Arbeitgeber in vielen Fällen die Möglichkeit, die Arbeitszeiten im Rahmen der gesetzlichen Regelungen allein festzulegen. Darüber hinaus ist die Arbeitszeit aufgrund der Flexibilisierungstendenz auch immer schwerer zu begrenzen bzw. zu definieren. Vielleicht sollte jedem Arbeitsnehmer und jeder Arbeitsnehmerin in Zukunft das Recht gegeben werden, die Definition und die Verlegung von Arbeitszeit mitzubestimmen. Das heißt, das Mitbestimmungsrecht bei der Arbeitszeit sollte in der Zukunft als ein grundlegendes und individualisiertes Arbeitsrecht gelten. Wie ein solches Recht konkret zu verwirklichen, ist aber natürlich eine komplizierte Frage. Doch es lohnt sich, über diese Frage auf dem Weg zur Postwachstumsgesellschaft weiter nachzudenken.

Cheng, Tsuo-Yu ist Soziologe. Nach dem Abschluss der Promotion an der Freien Universität Berlin hat er seit 2016 eine Professur an Huazhong University of Science and Technology in China. Er ist auch Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik und der Chinesischen Gesellschaft für Soziologische Theorie. Seine Forschungsschwerpunkte sind Sozialtheorie und Zeitsoziologie. Bei seiner aktuellen Arbeit geht es um die Frage, wie ein gutes Leben in der (post-)wachstumsorientierten Gesellschaft gelingt.

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