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Radikales Mitgefühl im Postwachstumskontext

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Eine grundlegende Motivation, sich überhaupt mit Degrowth oder Postwachstum zu befassen, erwächst denke ich aus Mitgefühl. Es ist der Wunsch, die Welt so zu gestalten, dass sowohl Tiere als auch Land und Menschen weniger leiden müssen. Jede Person, die sich für Postwachstum auf praktischer und/oder theoretischer Ebene interessiert, hat vermutlich die Qualität des Mitgefühls bereits in seine*ihre politische Haltung integriert. Doch was genau verstehen wir unter Mitgefühl?

Laut buddhistischer Lehre und aktuellen Forschungsergebnissen der sozialen Neurowissenschaften ist Mitgefühl kein Gefühl, sondern eine Haltung, die trainiert werden kann. Selbstmitgefühl gilt als wichtiger Aspekt einer mitfühlenden Haltung, die letztlich an keine Religion oder Spiritualität gebunden ist. Dabei ist Mitgefühl von Mitleiden und Empathie zu unterscheiden: Statt mit einer anderen Person mitzuleiden, die negativen Gefühle zu adaptieren oder diese – im anderen Extrem – rational distanziert zu analysieren, beinhaltet Mitgefühl eine Herzensqualität, die es ermöglicht, mit offenem Herzen meinem Leid und dem Leiden anderer zu begegnen, ohne in diesem zu ‚versinken‘. Im ReSource-Modell wird Mitgefühl mit den drei Komponenten Präsenz, Affekt (Herzensqualitäten) und Perspektive beschrieben.

Warum Radikal?

Zweierlei sei der eigentlichen Antwort vorangestellt: Erstens habe ich den Begriff Radikales Mitgefühl von Tara Brach, einer weißen US-amerikanischen Psychologin und Zen-Lehrerin, entliehen. In ihrem Buch Radical Compassion und ihren Online-Angeboten (z. B. Radical Compassion Challenge) verbindet sie die Achtsamkeitspraxis mit einer politischen Ausrichtung. Zweitens scheint ‚radikal‘ spätestens in den letzten zwei Jahren ein intellektuelles Modewort geworden zu sein (siehe Radikale Zärtlichkeit, Radikale Selbstfürsorge, Radikale Therapie etc.). Mit dem Wort schwingt etwas Politisches mit, es wirkt neu und kraftvoll. Schließlich lässt sich das Wort ‚radikal‘ auf seinen lateinischen Ursprung zurückführen: ‚radix‘, die Wurzel. Die politische Haltung wurzelt in Mitgefühl. Mitgefühl muss nicht verdient werden, sondern sollte bedingungslos allen Wesen gelten.

Ob ich Mitgefühl für Menschen aufbringe, sollte unabhängig von ihrem bisherigen Engagement in der Postwachstumsbewegung sein. Es sollte unabhängig davon sein, ob sie meinen Lebensstil teilen und sogar davon, ob sie grundlegend unterschiedliche politische Ansichten haben als ich. Vielmehr speist es sich aus dem Verständnis, dass wir alle diesen einen Planeten bewohnen und ein glückliches Leben führen möchten (vgl. auch Konzepte der Interdependenz, Interbeing etc.). Das ist natürlich ein hoher Anspruch, aber ohne diesen verlieren wir uns in einem immerwährenden ‚Wir‘ gegen ‚die Anderen‘.

Begriffe wie (politische) Liebe und Agape (christl.: selbstlose Liebe) weisen zudem einige Überschneidungen mit der obigen Definition von Mitgefühl auf.

Verwandte Konzepte

Statt Begriffe letztlich zu klären, werde ich im Folgenden weitere ähnliche Konzepte und Praktiken aufzeigen:

Valarie Kaur spricht in ihrem Buch See no Stranger von ‚revolutionary love‘ als transformativer Kraft in global herausfordernden Zeiten. Ihre Arbeit wurzelt in den Erfahrungen, die sie und ihre Sikh-Gemeinschaft in Folge der andauernden Hasskriminalität nach 9/11 erlebten. Konfrontiert mit enormen Leid entwickelte sie eine Theorie und Praxis, die sie mit dem Revolutionary Love Project und durch dazugehörige Lernmaterialien bewirbt. In ihrer Arbeit geht es u.a. darum, Feindbilder abzubauen, zu vergeben und gewaltfrei für Gerechtigkeit einzustehen. Der von Martin Luther King Jr. inspirierte Trainer für Gewaltfreiheit (nonviolence) Kazu Haga schreibt passend dazu in seinem Buch Healing Resistance: “People are not our enemy. Violence is our enemy. Injustice is our enemy. Any worldview that stands against life, love, and community is the enemy.”

Mit Lieben als politisches Handeln beschreibt Lann Hornscheidt ebenfalls eine Haltung, die sowohl wohlwollend auf sich selbst gerichtet ist, als auch politisch wohlwollend, antidiskriminierend anderen Menschen und Wesen gegenüber. Hornscheidt unterscheidet klar zwischen ‚Ego-Liebe‘ und ‚Selbstlieben‘, wobei Ersteres ein kapitalistisches Konzept ist, das sich beispielsweise im Konsum von „Wellness-Ratgeber-Büchern und Lifestyle-Magazinen“ zeigt und Letzteres das oben skizzierte Verständnis von Mitgefühl auf die eigene Person bezieht.

Die Relevanz von Radikalem Mitgefühl für die Postwachstumsbewegung

Radikales Mitgefühl im politischen Kontext bedeutet, dass wir als Individuen und im Kollektiv unabdinglich unser Bestes tun, diese Haltung zu kultivieren und gewaltfrei zu handeln. Das bedeutet auch, Feindbilder abzubauen und uns um unsere Gesundheit zu kümmern. Gerade in diesen zwei Aspekten scheint die Relevanz dieses Ansatzes für die Degrowth-Bewegung zu liegen. Eine allgemeine Wachstumskritik und ganz konkret die Forderung nach verkürzten Erwerbsarbeitszeiten sind Beispiele dafür, wie Postwachstum und Radikales Mitgefühl zusammen gedacht werden können. Und auch im Postwachstumskontext braucht es eine Unterscheidung zwischen Menschen und ihren Handlungen, zwischen Machtsystemen und den darin wirkenden Personen. Letztlich sind diese natürlich nicht unabhängig voneinander zu betrachten, doch wenn Personen(gruppen) zu Feindbildern degradiert werden, verbauen wir uns Wege zur sozial-ökologischen Transformation.

Wie können wir uns dann gegenseitig darin unterstützen, unserer berechtigten Wut, Trauer und Ohnmacht Raum zu geben, ohne weitere Wunden zu verursachen? Wie können wir gemeinsam Wege finden, psychische und körperliche Überforderung abzufedern? Wo gibt es Raum dafür, eigene Stereotypen und Vorurteile abzubauen?

Das Kollektiv Ambivalent Degrowers setzt sich mit ihren eigenen Fehlbarkeiten als Aktivist*innen und scholar-activists auseinander. Das Kollektiv arbeitet mit so genannten sharings. Ein sharing ist eine Art des einander Zuhörens, sich Zeigens und Anvertrauens und kann in persona und online durchgeführt werden. Mitglieder des Kollektivs „teilten“ in diesem Setting u. a. die Erfahrung, immer wieder an ihrem Anspruch, Degrowth zu leben, zu scheitern. Dieser Prozess, welcher laut Anna Saave Potential zur Resilienz von Aktivist*innen beiträgt, ist ein Beispiel, wie Mitgefühl mit anderen und sich selbst geübt werden kann.

Studien legen nahe, dass Stress, Angst und Anspannung sowie interne Vorurteile einer mitfühlenden Haltung entgegenwirken. Dieses Ergebnis wird viele aus der Postwachstumsszene nicht überraschen, sondern könnte dazu motivieren, Begleiterscheinungen von Engagement ernst zu nehmen.

Kazu Haga bringt es meiner Meinung nach mit folgendem Zitat auf den Punkt: “We can bring down the entire system and have a worldwide revolution, but if we haven’t healed our traumas and learned how to be in authentic relationship with each other, we will corrupt any new system we put in place.”  Die Auseinandersetzung mit Mitgefühl im politischen Kontext könnte dabei helfen, sich selbst in und als politische Bewegungen zu orientieren, auszurichten, blinde Flecken aufzudecken und Kraft zu geben.

 

Literatur

Bornemann, B./Singer, T. (2013). Das ReSource-Modell des Mitgefühls, in: Mitgefühl in Alltag und Forschung, Bolz, M./Singer, T. (Hg.), München, Max Planck Society, 184–198.

Brach, T. (2019), Radical Compassion, London.

Dovidio, J. et al. (1997), Extending the Benefits of Recategorization. Evaluations, Self-Disclosure, and Helping, in: Journal of Experimental Social Psychology 33(4), 401–420.

Haga, K. (2020), Healing Resistance. Berkeley, California.

Hornscheidt, L. (2019), Zu Lieben. Lieben als politisches Handeln. Berlin.

Kaur, V. (2020), See no Stranger. A Memoir and Manifesto of Revolutionary Love. London.

Klimecki, O./Richard, M./Singer, T. (2013), Empathie versus Mitgefühl, in: Mitgefühl in Alltag und Forschung, Bolz, M./Singer T. (Hg.), München, Max Planck Society, 282–297.

Saave, A. (erscheint 2022), Mit Self-Care wider die Wachstumskrise? Ambivalenzen der Selbstsorge in der Postwachstumsbewegung, in: „Caring Societies? Neue Abhängigkeiten oder mehr Gerechtigkeit?“ Knobloch, U. et al. (Hg.), Weinheim.

Saturn, S. (2017), Two Factors That Fuel Compassion: The Oxytocin System and the Social Experience of Moral Elevation, in: Seppälä et al. (Hg.), The Oxford Handbook of Compassion Science.

Schützle, L., Radikales Mitgefühl als widerständige Haltung (2020), in: Schellhammer/Gmainer-Pranzl (Hg.), Bildung zum Widerstand, Darmstadt.Schützle, L. (2020), Radikales Mitgefühl, in: Kontrapunkte – global. solidarisch. transformativ.

 

 

Lena Schützle ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Zentrum für globale Fragen der Hochschule für Philosophie in München. Sie ist engagiert bei Commit e.V. und arbeitet als freiberufliche Bildungsreferentin zu Themen der Nachhaltigkeit und Selbstfürsorge. Auf der 8. Internationalen Degrowth Konferenz in Den Haag stellte sie im Thread „Embodying Degrowth for a Healing Transformation“ Teile ihres Doktorarbeitsvorhabens vor. Radikales Mitgefühl als widerständige Praxis, in: Schellhammer/Gmainer-Pranzl (Hg.), Bildung zum Widerstand 2020; Beiträge auf Kontrapunkte – global. solidarisch. transformativ.

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