Rezensionen

Postwachstum zwischen Mikropraktiken und Makropolitik?

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Warum ist Suffizienzpolitik nicht automatisch emanzipativ, sondern kann durchaus repressive Züge haben? (von Winterfeld: 65) Welche Gegenvision zu jetzigen Fehlentwicklungen hält das konvivalistische Manifest bereit? (Adloff: 154) Was ist Eigenzeit und wie hängt sie mit Zeitpolitik zusammen? (Reheis: 160) Warum reduziert ein ökologisches Grundeinkommen das „Haben-Müssen“ und fördert das „Sein-Können“? (Schachtschneider: 201) Welche Impulse setzt die EU bereits heute für solidarische Unternehmensformen? (Bender/Bernholt: 260) Inwiefern verharren wir aktuell in einem „Krankheitswesen“ und wie können wir zu einem „Gesundheitswesen“ gelangen? (Studer: 282) Und weshalb sollte eine Wirtschaftsförderung 4.0 die „Regionalwirtschaft und kooperative Wirtschaftsformen“ unterstützen? (Kopatz: 305)

Wer spannende Argumente zu diesen Fragen wissen möchte, sollte unbedingt den im oekom verlag erschienenen und von Frank Adler und Ulrich Schachtschneider herausgegeben Sammelband Postwachstumspolitiken. Wege zur wachstumsunabhängigen Gesellschaftlesen.

In ihrem Buch lassen die Herausgeber 30 Autor/innen aus Theorie und Praxis zu Wort kommen und widmen sich der übergeordneten Frage, welche Politiken, Strategien und Akteur/innen eine große Transformation hin zu einer wachstumsunabhängigen Gesellschaft vorantreiben können. Das in drei Themenkomplexe unterteilte Fachbuch beschreibt dabei nicht nur konkrete Maßnahmen in verschiedenen Politikfeldern, sondern sucht auch nach möglichen Kooperationen und erörtert, wie die Mikroebene – die „Nischenprojekte der Postwachstumspioniere“ (Flemming: 138) – mit der Makroebene, also den politischen Rahmenbedingungen, zusammenwirken (sollte). So beschreibt das Buch verschiedene Aspekte einer neuen Politik, die eine umfassende Erneuerung bisheriger Lebensweisen anstoßen soll, um so zu einer bedürfnisorientierten, resonanzfähigen und kooperativen Gesellschaft jenseits des Wachstumsdogmas zu gelangen.

Mit diesem Buch schließen die Herausgeber eine zentrale Lücke im bisherigen Postwachstumsdiskurs: Sie zeigen auf, wie sich die praktischen Postwachstumsideen von heute mit konkreten Politikmaßnahmen vereinen ließen, sodass der schrittweise Übergang in eine Postwachstumsgesellschaft gelingt. Denn der „hegemoniale gesellschaftliche Block für ein »Weiter« mit Wachstum kann […] nicht einfach nur von oben oder nur von unten aufgelöst werden“ (Adler/ Schachtschneider: 10), sondern braucht „eine breite Allianz von sehr unterschiedlichen Akteuren“ (Adler/ Schachtschneider: 22).

Ähnlich vielfältig wie die durch die Beiträge abgedeckten Themen sind auch die Hintergründe der Autor/innen: So schrieben u.a. Soziolog/innen und Sozialwissenschaftler/innen wie auch die Herausgeber Adler und Schachtschneider, als auch Philosoph/innen, Politikwissenschaftler/innen und Volkswirte mit. Praxisexpert/innen aus der Zivilgesellschaft ergänzen die Theoretiker/innen. So wird insgesamt ein breites Wissensspektrum abgedeckt.

Titel_Schachtschneider_Postwachstumspolitiken_4cAnders als bisherige Publikationen zum Thema Postwachstum, wie beispielsweise Jacksons „Prosperity Without Growth“ (2009) oder Postwachstumsgesellschaft. Konzepte für die Zukunft von Seidl/ Zahrnt (2010) thematisiert „Postwachstumspolitiken“ deutlich mehr die notwendige Wechselwirkung zwischen „Mikropraktiken“ und „Makropolitik“ (Adler/ Schachtschneider: 10) und versucht damit hervorzuheben, dass eine große Transformation nur durch eine schrittweise Machtverschiebung erfolgen kann, wobei dennoch heute schon wichtige Weichenstellungen in zahlreichen Politikfeldern erfolgen können.

Insgesamt blickt das Buch auf unterschiedliche Aspekte von Postwachstumspolitiken und stellt die Vielzahl der Potentiale und Hindernisse von politischen Maßnahmen und Nischenprojekten vor. Die Autor/innen zeigen nicht nur konkrete Handlungsfelder und -möglichkeiten auf, sondern benennen auch deutlich die Widerstände und Schwierigkeiten. Damit leistet „Postwachstumspolitiken“ einen wichtigen Beitrag zum Diskurs, deren Autor/innen man keinerlei idealistische Verklärung vorwerfen kann. Einzig kritisch anzumerken ist, dass Genderaspekte im Sammelband nur kurz umrissen werden, obwohl gerade von der feministischen Wachstumskritik interessante Impulse bspw. zur doppelten Externalisierung von Reproduktion und Natur ausgehen. Die Herausgeber thematisieren dieses Defizit jedoch explizit in ihrer Einleitung.

Trotz dieser kleinen Kritik, garantiert das Buch über alle Beiträge hinweg eine spannende Lektüre und ermöglicht den Leser/innen Denkanstöße auf verschiedenen Ebenen: auf der persönlichen und psychologischen, ebenso wie auf der politischen und wirtschaftlichen. Dabei sind die insgesamt 22 Beiträge nicht nur an eine bereits informierte Fachöffentlichkeit adressiert, sondern bieten auch für Menschen, die sich bisher nicht direkt mit Postwachstumsgedanken auseinandergesetzt haben, wertvolle Impulse und einen guten Überblick über die Breite und Tiefe des Diskurses.

Adler, Frank / Schachtschneider, Ulrich: Postwachstumspolitiken. Wege zur wachstumsunabhängigen Gesellschaft. 2017. oekom verlag, München, 328 Seiten.

 

Santje Kludas ist politische Ökonomin (M.A.) und Forschungsassistentin am IÖW. Sie studierte in Lüneburg Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaften mit Nachhaltigkeitsschwerpunkt. Anschließend fokussierte sie sich im heterodox geprägten Master Political Economy of European Integration an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin auf die Umsetzung der „Großen Transformation“ und ihre Genderdimension. So untersuchte sie in ihrer Abschlussarbeit, unter welchen Bedingungen eine Lohnarbeitszeitverkürzung zu mehr sozialer Nachhaltigkeit und Gendergerechtigkeit in der EU beitragen kann.

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