Wie kann eine Welt außerhalb des Wachstumsmythos aussehen? Hängt unser Wohlstand vom Wachstum ab? Und wie kann eine Wirtschaft in Einklang mit der Natur ausgestaltet sein? Das neue Buch von Tim Jackson versucht Antworten auf diese Fragen zu liefern und die Vorzüge einer wachstumsunabhängigen Gesellschaft zu skizzieren. Ziel ist es, Ideen und Narrative für eine Welt außerhalb des Wachstumsmythos zu entwickeln, die „reicher, gerechter und befriedigender ist.“
Im Gegensatz zu seinem weltweiten Bestseller von 2011 „Wirtschaft ohne Wachstum“, ist sein neues Buch „Wie wollen wir leben?“ weniger wirtschaftswissenschaftlich ausgerichtet. Es liest sich weniger wie ein Sachbuch als vielmehr wie eine Verschmelzung von historischer Erzählung und philosophischer Betrachtung.
In einzelnen Kapiteln, welche sich jeweils unterschiedlichen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens und eines möglichen postkapitalistischen Wirtschaftssystems widmen, untersucht Jackson, ob die Wachstumsdoktrin in diesen Bereichen tatsächlich zu einer Verbesserung beiträgt. Anhand der Überzeugungen und Denkweisen historischer Figuren wie Robert F. Kennedy oder Hannah Arendt skizziert er alternative Vorstellungen von Wirtschaft und Gesellschaft und stellt diese dem Bestehenden gegenüber. Jackson möchte zeigen, dass eine Abkehr vom Wachstumsmythos nicht mit Verzicht, sondern mit einer Vervielfältigung der Möglichkeitsräume und letztendlich mit mehr Wohlstand und Glück einhergehen kann.
Hierbei tritt er klar für diese Alternativen zum wachstumsgetriebenen kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem ein, aber nicht mit der gleichen Vehemenz und Absolutheit wie das aktuelle System sich zu verteidigen sucht. So weist er häufig darauf hin, dass Wachstum durchaus sinnvoll sein kann, beispielsweise wenn Mangel und Unterversorgung vorherrschen. Er hebt allerdings gleichermaßen hervor, dass permanentes Wachstum zu Übermaß und damit einhergehend zu negativen und teilweise katastrophalen Folgen führen kann. Das Anerkennen der Vorteile des bestehenden Systems bringt seiner Argumentation hierbei eine große Glaubwürdigkeit ein. Jackson unterstreicht stets die Wichtigkeit, die Balance zwischen den Extremen im aristotelischen Sinne zu suchen. Diese Vorstellung der Balance zieht sich durch das gesamte Buch und die einzelnen Kapitel, so beispielsweise auch bei der Frage, ob das heutige, größtenteils auf Konkurrenz basierende Wirtschaftssystem „natürlich“ und vorteilhaft sei oder ob nicht Kollaboration die Individuen und die Gesellschaft als Ganze eher voranbringen könnte.
Aufgrund des erzählerischen Schreibstils lesen sich die Kapitel leicht, auch da Jackson häufig mit lebensnahen Beispielen oder Metaphern argumentiert, wie z.B. als er eine Brücke im ostenglischen Norfolk Broads aus dem Jahr 1385 nutzt, um anhand dieser die Rolle von Grenzen im kapitalistischen System zu diskutieren. Teilweise geht durch die Fokussierung auf die persönlichen Anekdoten und Geschichten der im Kapitel betrachteten historischen Figuren oder durch die Einbettung von Zitaten und Gedichten allerdings der rote Faden innerhalb der Kapitel sowie die kapitelübergreifende Erzählung etwas verloren.
Das Buch lohnt sich vor allem für Personen, welche gerne auf einer philosophischen und theoretischen Ebene über die Folgen des wachstumsgesteuerten Wirtschaftssystems für die Individuen und die Gesellschaft als Ganzes sowie über die Vorzüge einer Postwachstumsgesellschaft nachdenken. Die einzelnen Themenfeldern, wie der Rolle von Arbeit oder Gesundheit, gewidmeten Kapitel ermöglichen stets einen guten Wiedereinstieg in die Lektüre und ermöglichen die Fokussierung auf einzelne Teilaspekte, was aufgrund der Fülle an untergebrachten Informationen hilfreich ist, um sich im Thema nicht zu verlieren. Das Buch bietet weiterhin Einblicke in die Denkschulen wichtiger historischer Figuren und bringt diese den Lesenden auf eine gut verständliche Art und Weise näher. Da „Wie wollen wir leben“ weniger stark wirtschaftsorientiert ist als das bekannte Vorgängerwerk von Jackson, ist es zudem auch für Personen ohne wirtschaftswissenschaftliche Kenntnisse gut zu verstehen.
Wer sich hingegen konkrete Vorschläge und Maßnahmen erhofft, wie ein wachstumsunabhängiges Wirtschaftssystem aussehen und wie der Weg dorthin vollzogen werden kann, wird im Buch eher nicht fündig, da diese allenfalls skizziert werden. Wer zudem an historischen Persönlichkeiten und ihren philosophischen Denkschulen wenig Interesse hat und wen Bezüge zur Poesie und Literatur in einem Sachbuch über Postwachstum eher abschrecken, für den ist das Buch wohl weniger gut geeignet.
Tim Jackson (2021): Wie wollen wir leben? Wege aus dem Wachstumswahn. Oekom, 304 Seiten. ISBN: 978-3-96238-292-6.
Diese Rezension ist zuvor bereits in der Zeitschrift ÖkologischesWirtschaften, Ausgabe 2/2022, erschienen.