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Mehr ist besser: Das Wachstumskorsett der VWL

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An Universitäten reagieren Ökonom/innen meist sehr ungehalten oder auch ausweichend auf Wachstumskritik. Warum ist das so? Die Antwort ist banal: Eine Welt ohne Wachstum kann es in der Welt der Volkswirte nicht geben. Die Methodik der Neoklassik lässt dies schlichtweg nicht zu.

Theorienlehre in der VWL

Jedes Jahr im Herbst wiederholt sich das gleiche Bild an deutschsprachigen Universitäten: Hunderte Studierende besuchen ihre erste Vorlesung der Volkswirtschaftslehre. Hier sollen erst einmal die Fundamente des Faches übermittelt werden, bevor in späteren Semestern Spezialisierungen erfolgen.

Wer nun mit einer historischen oder gar philosophischen Reflexion der eigenen Wissenschaft rechnet, wird enttäuscht, denn die zentralen Fundamente des Faches sind abstrakte Modellannahmen, wie die der Rationalität aller am Markt agierenden Wirtschaftssubjekte, die Optimierung des eigenen Nutzens und das Konvergieren hin zu einem „ökonomischen Gleichgewicht“. Zudem wird die Mathematik als alleinige Methode, die Gleichung als einziges Argument zementiert.

Selbstkritik, Wissenschaftstheorie oder simple Reflexion, wie sie in anderen Sozialwissenschaften nicht wegzudenken ist, gehört nicht zu den üblicherweise geforderten Attributen des Volkswirts. Die Neoklassik, also die dominierende Theorienlehre an deutschen Universitäten, hat sich dieser unliebsamen Praxis entledigt.

Der Siegeszug der Neoklassik begann zum Ende des 19. Jahrhunderts mit der „Marginalen Revolution“, welche unter anderem von Léon Walras theoretisch ausgearbeitet wurde. Noch in den 1950er Jahren galten jedoch die Lehren von Keynes als Standardökonomie und erst in den 1970er konnte sich die Neoklassik, vor allem vertreten von der Chicagoer Schule, zum „Mainstream“ in der Ökonomie durchsetzen.

Als einer der Hauptgründe für diese Entwicklung wird oftmals die Stagnation in den 70er Jahren aufgeführt. Diese Phase des geringen wirtschaftlichen Wachstums ging damals mit hoher Inflation und hoher Arbeitslosigkeit einher, ein Zustand, den es in der Keynesianischen Theorie bis dahin nicht gab. Außerdem wurden theorieinhärente Schwächen in der Analyse der langen Frist zunehmend kritisiert [1].

Nicht zuletzt wird die Entwicklung auch dem Einfluss der Mont Pèlerin Society zugerechnet, einem Netzwerk an wirtschaftsliberalen Intellektuellen, welches in der Mitte des letzten Jahrhunderts entstanden ist [2]. (Einen umfassenden Überblick über die Theoriengeschichte der Volkswirtschaftslehre bietet die Universität Freiburg an.)

Wie kommt es zur Wachstumsphilie?

Der wohl größte Coup des besagten neoklassischen Lagers war die Abwendung von normativen Grundsatzdebatten zur „positiven Analyse“. Während die Keynesianer/innen in der Mitte des letzten Jahrhunderts das Wirtschaftswachstum als legitimes Mittel gegen strukturelle Arbeitslosigkeit ansahen [3], vollzog sich in der neoklassischen Lehre die sogenannte Paretianische Wende.

Angenommen, eine Person erhält einen Euro und kauft sich davon einen Apfel anstelle einer Orange, dann weiß die Ökonom/in, dass diese Person offenbar einen „höheren Nutzen“ durch den Konsum eines Apfels erhält, als durch den einer Orange. Doch was besagt dieser Nutzen eigentlich? Gemäß dem Mathematiker und Ökonom Pareto muss eine Grundsatzdebatte über die Beschaffenheit des eigenen Nutzens gar nicht geführt werden, da wir nur die Handlungen der verschiedenen Wirtschaftssubjekte beobachten müssen. [4]

Von da an verstand sich die Neoklassik als positive Lehre. Sie möchte somit ausschließlich Handlungen modellieren ohne den Antrieb des Einzelnen zu hinterfragen. Der Nutzen dient nur als Hilfskonstrukt und wird nicht weiter hinterfragt. Um aus diesem Grundgerüst überhaupt aussagekräftige Modelle ausarbeiten zu können, sind aber weitere Annahmen notwendig. Und hier kommt das Maximierungskalkül zum Einsatz, begleitet von den Annahmen, Individuen seien „rational“ und in ihrer Wahl „konsistent“.

Das Maximierungskalkül unterliegt der Annahme, dass ein Individuum aus seinem gegeben finanziellen Einkommen den maximalen Konsum erreichen möchte. Es würde also zwei Äpfel einem Apfel stets vorziehen: Mehr ist besser.

Diese Verhaltensannahmen werden innerhalb der neoklassischen Theorie nicht variiert oder wenigstens debattiert, denn der „Nutzen“ des Konsums ist der Maßstab individueller Zufriedenheit, die Summe derer ist die Wohlfahrt einer Gesellschaft. Und somit folgt aus einer vordergründig scheinbar positiven Wissenschaft doch ein normativer Rattenschwanz, der sich durch das gesamte neoklassische Theoriegebilde zieht.

Es hilft nichts neoklassische Wachstumsmodelle zu kritisieren

Die oben geschilderten Annahmen gelten als fundamentale Annahmen der Mikroökonomie, also der Lehre einzelner Märkte. Die Analyse des Wachstums fällt in den Bereich der Makroökonomie, welche die Zusammenhänge verschiedener Märkte erklärt.

Die frühen Wachstumsmodelle, insbesondere im Rahmen des Solow Modells [5], versuchten Wachstumsursachen abzuleiten, ohne die Notwendigkeit des Wachstums tiefer zu thematisieren. Zudem stand die Makroökonomie mit ihren Annahmen losgelöst von denen in der Mikroökonomie.

Dies hat sich allerdings mit der sogenannten „Mikrofundierung“ der 1980er und 1990er Jahre geändert.[6] Makroökonomische Modelle wurden nun mit dem Optimierungskalkül der Mikroökonomie ausgestattet und unterliegen im Kern den gleichen Modellannahmen und deren normativen Fußnoten. Wachstumsmodelle sind demnach ein Ergebnis des theoretischen Konstrukts, nicht die Ursache der unreflektierten Wachstumsbetrachtung innerhalb der Volkswirtschaftslehre.

Was bleibt

Das neoklassische Modellwesen bewies über die Jahre zwar eine starke Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit. Das Optimierungskalkül bildet jedoch immer noch das Fundament des Kartenhauses, sodass eine Abkehr davon nicht in Frage zu kommen scheint. Die methodische Fokussierung auf mathematische Modelle machen diese gar nahezu unmöglich. So versuchen beispielsweise die Verhaltensökonomie [7] (die mehr zum Rationalitätsbegriff sagen könnte) und die Glücksforschung [8] (die mehr zur Zielsetzung des wirtschaftlichen Handels sagen könnte) seit einigen Jahren diese Annahmen empirisch zu hinterfragen. Ernsthaft beeinflussen konnten diese neuen Strömungen die Lehre bisher nicht, trotz widersprüchlicher Ergebnisse.

Mit der monistischen Präsenz der Neoklassik in der Lehre, schnüren sich deren Vertreter/innen über die Jahre ihrer Ausbildung selbst ein enges Korsett, welches kaum Raum für neue Ideen und Konzepte außerhalb dieser Grundannahmen bietet. Mit der Idee des Postwachstums sind neoklassische Modelle somit nicht vereinbar.

 

[1] Olson, M. (2008). The rise and decline of nations: Economic growth, stagflation, and social rigidities. Yale University Press.

[2] Jones, D. S. (2014). Masters of the universe: Hayek, Friedman, and the birth of neoliberal politics. Princeton University Press.

[3] Keynes, J. M. (1936). The General Theory of Employment, Interest and Money. Cambridge University Press.

[4] Pareto, V. (1906). Manuale di economia politica (Vol. 13). Societa Editrice.

[5] Solow, R. M. (1956). A contribution to the theory of economic growth. The quarterly journal of economics, 65-94.

[6] Mankiw, N. G., & Romer, D. (1991). New Keynesian Economics: Coordination failures and real rigidities (Vol. 2). MIT press.

[7] Kahneman, D. (2003). Maps of bounded rationality: Psychology for behavioral economics. The American economic review, 93(5), 1449-1475.

[8] Graham, C. (2005). The economics of happiness. World economics, 6(3), 41-55.

 

 

 

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