Standpunkte

Die Welt auf den Kopf stellen

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von Tobias, Nilda, Jonas, Carla, Felix und Anton (I.L.A.-Kollektiv)

Eine Landkarte der Transformationsstrategien für soziale Bewegungen  

Das gute Leben für alle scheint in weite Ferne gerückt. Denn eine Krise jagt die nächste. Welche Perspektiven auf Krieg, Pandemie, Klimakrise sind emanzipatorisch? Wodurch überwinden wir die um sich greifende, wachstumsfixierte imperiale Lebens- und Produktionsweise? Angesichts der Unübersichtlichkeit der Verhältnisse wünschen sich viele Menschen klare Orientierung, wollen sich und ihr Engagement „einnorden“ und sich ihrer Position durch einen Blick auf eine Landkarte vergewissern. Nun, wir haben da was vorbereitet…  

Doch Stopp! Die Landkarte, die wir auf der neugestalteten Webseite des I.L.A. Kollektivs ausbreiten, gibt keinen Blick auf den Masterplan der Transformation frei. Denn das geht nicht: Transformationsstrategien können nicht am Reißbrett geplant und dann umgesetzt werden. Es bleibt unübersichtlich. Doch mit dem Projekt „Die Welt auf den Kopf stellen“ und der dazugehörigen interaktiven Karte möchten wir, Mitglieder des ILA-Kollektivs, Menschen in sozialen Bewegungen bei der Entwicklung von Strategien für radikale Transformation unterstützen. Wir geben einen Ein- und Überblick über Theorie und Praxis aus Wissenschaft und Aktivismus. Während die Navigation auf der Karte am besten selbst erkundet wird, erklären wir in diesem kurzen Beitrag, warum soziale Bewegungen die zentralen Gestalter*innen von Transformationsprozessen sind und wieso dabei strategische Fragen so wichtig sind.  

Zunächst, was genau meinen wir mit Transformation? Die Inhalte und die Richtung von gesellschaftlichem Wandel sind umkämpft – auch konservative und marktliberale Akteur*innen sprechen über die Notwendigkeit gesellschaftlicher Transformationsprozesse. In linken, ökologischen Kreisen wird oft der Begriff sozial-ökologische Transformation verwendet. Auch wir nutzen diesen Begriff und fordern eine sozial gerechte und ökologisch stabile Gesellschaft. Zugleich verstehen wir Transformation als umfassend emanzipatorischen Begriff, der die radikale Überwindung gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse von unten betont. Wenn wir von radikaler Transformation sprechen, folgen wir einem kritisch-emanzipatorischen Verständnis von Transformation als System Change. Drei Leitplanken halten wir dabei für zentral: Radikale Transformationsprozesse müssen anti-kapitalistisch, intersektional und internationalistisch ausgerichtet werden.    

 

Wer? Na klar: Soziale Bewegungen als Transformationsakteur*innen  

Ein Blick in die wissenschaftliche Transformationsliteratur kann einen hinsichtlich der Frage nach den zentralen Akteur*innen radikaler Transformation ratlos zurücklassen. Dort ist es wahlweise der Staat, der die Transformation planen und steuern soll. Doch was, wenn der Staat gar kein Interesse an radikaler Transformation zeigt? Die materialistische Staatstheorie geht schließlich davon aus, dass der Staat kein Akteur ist, sondern ein Terrain, auf dem verschiedene gesellschaftliche Kräfte darum kämpfen, dass ihre Interessen staatliches Handeln leiten. Ein anderer potenzieller Transformationsakteur sind die aufgeklärten Wirtschaftseliten, die vorausschauende Unternehmens- und Investitionsentscheidungen treffen und Kapital von fossilen in grüne Sektoren umleiten. Doch was, wenn fossile Geschäftsmodelle weiter funktionieren, wenn Wettbewerbsdruck und Shareholder-Orientierung bedeuten, dass kurzfristige Rendite mehr zählt als langfristiges nachhaltiges Handeln? Schließlich wird in der Transformationsdebatte viel Hoffnung in die sogenannten Pioniere des Wandels gesetzt. Diese entwickeln abseits bestehender Institutionen und Verwertungszwänge technologische und soziale Innovationen, die wir für eine nachhaltige Zukunft dringend brauchen. Doch was, wenn schon längst viele der wichtigen Zukunftstechnologien und das Wissen um gesellschaftliche Alternativen vorhanden sind, sie allerdings in von etablierten und  machtvollen Akteur*innen wissentlich ignoriert werden? 

 Soziale Bewegungen werden in den dominanten Transformationsdebatten (zu) wenig beachtet. Dabei wurden wichtige soziale und politische Errungenschaften – wie das Wort schon sagt – immer errungen von sozialen Bewegungen, beispielsweise das Frauenwahlrecht, die Abschaffung der Sklaverei oder Arbeitszeitreduzierungen. Dass radikale Transformation gegen die Widerstände im fossilen Kapitalismus ohne den Druck von der Straße passiert, ist kaum vorstellbar. Der letzte Sachstandberichts des (eigentlich eher konservativen) Weltklimarats unterstreicht das noch einmal: „Kollektives Handeln im Rahmen von sozialen oder lebensstilorientierten Bewegungen unterstützt den Systemwandel“ (IPCC 2022: 106). Wenn wir über Transformation sprechen, müssen wir also soziale Bewegungen als zentrale Transformationstreiberinnen in den Blick nehmen. 

 

Wie? Transformationsstrategien in sozialen Bewegungen entwickeln und anpassen  

Es sind die vielen Menschen, die für eine gerechte und ökologische Zukunft auf die Straße gehen, die Hoffnung machen in diesen Zeiten. Sei es in den Arbeitskämpfen von Beschäftigten im Pflegesektor, in Kämpfen von Geflüchteten für Bleiberecht, in Recht-auf-Stadt-Bewegungen, in der Klimabewegung oder in der (post)migrantischen Migrantifa. Viele dieser Bewegungen, Strömungen und Initiativen suchen nach Alternativen zum Wachstumszwang und sind Wegbereiter*innen eines Paradigmenwechsels hin zu Kooperation, Solidarität, Postwachstum. Doch trotz kreativer Aktionen, gezielter Kampagnen und teils großer Mobilisierungen ändert sich oft zu wenig. Das Gefühl, dem guten Leben für alle nicht näher zu kommen, sondern in Abwehrkämpfen verhaftet zu bleiben, macht sich breit. Bei vielen setzen irgendwann Ernüchterung, Ermüdung oder gar Burnout ein. Hoffnungslosigkeit und Resignation dominieren, und einige ziehen sich dauerhaft aus dem Aktivismus zurück. 

Wir als Verfasser*innen dieses Beitrags sind Mitglieder des ILA-Kollektivs und fragen uns, wie soziale Bewegungen aus der Defensive kommen und zu radikaler Transformation beitragen können. Wir haben festgestellt, dass die Debatten zu sozialem Wandel in der Wissenschaft und in sozialen Bewegungen oft parallel zueinander laufen. Dabei könnten beide viel voneinander lernen. Soziale Bewegungen haben einiges an Praxiswissen darüber, wie politische Forderungen durchgesetzt und sozialer Wandel erwirkt werden können, während in der Transformationsforschung Erkenntnisse über Verlauf, Dynamik und Bedingungen für den umfassenden Wandel gesellschaftlicher Systeme gewonnen werden.  

Mit dem Handbuch verfolgen wir einen bewegungszentrierten Transformationsansatz. Dabei geht es darum Transformationswissen zu vermitteln sowie dabei zu unterstützen, Strategien für radikale Transformation zu entwickeln. Das Handbuch und die dazugehörige Landkarte geht zwei Fragen nach: Welche Rolle können soziale Bewegungen in Transformationsprozessen spielen? Und wie können wir Strategien in Bewegungen entwickeln, um radikale Transformation voranzutreiben? Im Buch und auf der Webseite finden sich einerseits kurze theoretische Kapitel und andererseits praktische Bausteine für die Strategieentwicklung. In den Theoriekapiteln vermitteln wir Transformationswissen. Wir beschreiben die Ziele radikaler Transformation, über welche Wege diese Ziele erreicht werden können, wie soziale Bewegungen durch den Aufbau von Gegenhegemonie dazu beitragen können, welche Rolle der Staat in der Transformation spielt und wie sich soziale Bewegungen auf den Staat beziehen können. In den Bausteinen greifen wir Strategien aus der Geschichte sozialer Bewegungen aus verschiedenen Kontexten auf und zeigen, wie diese zu einer radikalen Transformation beitragen können. Darüber hinaus geben wir zu jedem Strategiebaustein praktische Tools und Übungen zur Strategieentwicklung mit an die Hand, die Aktivist*innen in ihren jeweiligen Gruppen durchführen können. Dabei geht es unter anderem um systemischen Aktivismus, Intersektionalität, Kämpfe verbinden, solidarische Beziehungsweisen, revolutionäre Realpolitik, Organizing, Storytelling, Kompliz*innenschaft, Traumabearbeitung, die Frage der Eskalation, und viele weitere.  

 

Wir hoffen, dass wir mit dem Handbuch Orientierung für Strategiedebatten in sozialen Bewegungen geben können. Wir wünschen uns, dass auch Degrowth-Bewegte durch die Transformations-Landkarte navigieren und wir in all unserer Vielfalt wagen, die Welt auf den Kopf zu stellen und ein gutes Leben für alle zu erkämpfen.  

 

 Wie kommt ihr an das Handbuch? 

Das Handbuch ist kostenlos auf unserer neuen Website zum Download verfügbar: https://ilakollektiv.org/ und kann dort auch über die Landkarte erkundet und gelesen werden. Wir bieten auch eine Suchfunktion an.  

Als Buch lässt es sich beim Oekom-Verlag bestellen: https://www.oekom.de/buch/die-welt-auf-den-kopf-stellen-9783962384050 

Falls ihr Lust drauf bekommen habt und das Buch für eure politische Gruppe haben wollt, schreibt an post@ilakollektiv.org (oder über das Kontaktformular auf der Website) und wir schicken euch ein Freiexemplar. 

 

Lasst uns doch gerne in den Kommentaren wissen, ob das Handbuch in den Postwachstumsdebatten hilfreich ist, welche Fragen es offenlässt und welche neuen Ideen und Diskussionen es bei euch oder in eurer Gruppe entfacht hat! 

 

 

Im I.L.A. Kollektiv organisieren sich junge Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen, die sich mit den Problemen der imperialen Lebensweise und Möglichkeiten solidarischer Alternativen auseinandersetzen. Unter dem Kürzel I.L.A. entwickeln und erproben sie Transformationsstrategien für einen sozial-ökologischen Wandel und verknüpfen wissenschaftliche Analyse mit politischer Praxis. Das I.L.A. Kollektiv führt Bildungs- und Forschungsprojekte durch und ist politisch und öffentlichkeitswirksam aktiv. Das gemeinsame Ziel: ein Gutes Leben für alle! Weitere Publikationen des I.L.A. Kollektivs im oekom verlag: »Auf Kosten Anderer? Wie die imperiale Lebensweise ein gutes Leben für alle verhindert« (2017), »Das Gute Leben für Alle. Wege in die solidarische Lebensweise« (2019), »Die Welt auf den Kopf stellen. Strategien für radikale Transformation« (2022). Das I.L.A. Kollektiv organisiert sich in verschiedenen Arbeitskreisen, z.B. zu den Themen Transformation und soziale Bewegungen.

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