Mit dem Buch „Degrowth/Postwachstum zur Einführung“ ist Matthias Schmelzer und Andrea Vetter eine außerordentlich gut strukturierte Gesamtdarstellung der vielfältigen akademischen und aktivistischen Degrowth-Landschaft in Deutschland und darüber hinaus gelungen, die zugleich einen kritischen und wichtigen Beitrag zur weiteren Ausrichtung der Diskussion leistet. Sie wird dem Anspruch der Buchreihe zur Einführung gerecht, anspruchsvoll, aber gut lesbar zu sein, und ist sowohl für Einsteiger*innen wie auch für langjährige Kenner*innen der Debatten bereichernd.
Andrea Vetter & Matthias Schmelzer arbeiten und veröffentlichen sowohl akademisch als auch aktivistisch seit Jahren zu Degrowth. Ihre intensive Auseinandersetzung mit dem Thema und ihre persönliche Eingebundenheit werden durch die exzellente Fachkenntnis sowie eine große Ernsthaftigkeit und Dringlichkeit deutlich. Mit dem Buch gelingt es ihnen, eine „kritische, aber eben auch engagierte Einordnung und Diskussion“ (S. 10) zu liefern. Der Band will jedoch mehr als eine bloße Einführung sein: Schmelzer & Vetter bieten eine Formulierung von Degrowth/Postwachstum als real-utopisches politisches Projekt, die in Deutschland bislang teilweise ungeklärt oder umstritten war.
Schon die Einleitung funktioniert als Einstieg in Degrowth und Postwachstum. Sie eignet sich hervorragend zum Einsatz in so manchem Uniseminar oder in Sommerschulen. Die Autor*innen legen die unterschiedlichen Stränge der Wachstumskritik und die unterschiedlichen Strömungen, Ziele und Transformationsansätze der Bewegung im Folgenden detailliert und facettenreich dar. Insbesondere das Kapitel zu politischen Handlungsvorschlägen ist sehr konkret. Es macht dabei stets die Vielfalt an Lösungsvorschlägen deutlich und verweist kenntnisreich auf eine breite Literaturbasis, die zum tieferen Einsteigen in einzelne besonders interessante Aspekte einlädt.
Durchgehend hervorragend organisierte Kapitel und Unterkapitel dienen den Leser*innen zur steten Orientierung. Für Komplexität und Unbestimmtheit bleibt nichtsdestotrotz genügend Raum. Es handelt sich eben je um eine mögliche Form der Präsentation, um ein Denkangebot, und nicht etwa um eine „absolute Abgrenzung“ (S. 23), beispielsweise zwischen den Strömungen.
Inhaltlich unterscheidet der Band sieben Stränge der Gesellschafts- und Wachstumskritik, skizziert fünf Strömungen der Postwachstumsdiskussion, definiert drei Zieldimensionen von Postwachstum, stellt politische Vorschläge in fünf Bereichen vor und diskutiert schließlich drei Transformationsstrategien. Mit feministischen und Süd-Nord-Perspektiven stellen Schmelzer & Vetter bekannteren Strängen wie der ökologischen, kulturellen und sozial-ökonomischen Kritik häufig vernachlässigte aber ebenso wichtige Sichtweisen zur Seite. Die Definition von Postwachstum als Streben nach globaler ökologischer Gerechtigkeit, der demokratischen Verwirklichung eines Guten Lebens für alle Menschen und dem Erreichen gesellschaftlicher Wachstumsunabhängigkeit dürften strömungsübergreifend Globalisierungs- und Kapitalismuskritiker*innen, commonsorientierte Feminist*innen und suffizienzorientierte Reformer*innen teilen. Unterschiede sind in der Frage nach den wichtigsten Transformationsstrategien besonders deutlich. Die Autorin und der Autor plädieren jedoch dafür, dass nur ein Verbinden von Freiraumstrategien, nicht-reformistischen Reformen – die im Sinne einer revolutionären Realpolitik (Rosa Luxemburg) realistisch und radikal zugleich im Bestehenden Räume für systemüberwindende Politiken öffnen sollen – und dem Aufbau von Gegenhegemonie und Gegenmacht erfolgreich sein kann.
Ein Überblick zum aktuellen Forschungsstand, Überlegungen zu weiterführenden Fragestellungen und eine kurze Diskussion und Abgrenzung von wachstumskritischen Ansätzen, die nicht zu Postwachstum/Degrowth gezählt werden, wie etwa konservative und rechtsextreme Wachstumskritik, ergänzen das Buch.
Über die Bereicherung der wissenschaftlichen Diskussion hierzulande hinaus leisten Schmelzer & Vetter aber noch Wesentlicheres. Unter anderem indem sie die bisher in Deutschland häufig gegeneinander ausgespielten Begriffe Postwachstum und Degrowth synonym verwenden, nehmen sie eine behutsame, aber entschiedene Politisierung vor. Dabei kritisieren sie Teile der deutschen Debatte, die sich allzu häufig auf das Aufbauen kleinster „suffizienter Halbinseln“ (Niko Paech), individuelle Suffizienz oder marktwirtschaftlich-reformerische Ansätze (Irmi Seidl, Angelika Zahrnt) begrenzt, jedoch ohne ihnen dabei ihren Wert abzusprechen. Vielmehr geht es Schmelzer & Vetter darum, Degrowth oder Postwachstum als real-utopischen Gesellschaftsentwurf zu formulieren, wie es sowohl in der aktivistischen Degrowth– und Klimagerechtigkeitsbewegung, die klar antikapitalistisch, feministisch und radikal-demokratisch positioniert ist, wie auch in großen Teilen des akademischen Diskurses etwa in Spanien und Frankreich längst selbstverständlich ist. Degrowth/Postwachstum ist ihnen zufolge ein „explizit normatives Konzept“ (S. 16), das soziale und ökologische Fragen vereint, im Kern einen Gegenentwurf zu Ökonomisierung und Ökonomismus darstellt und auf eine Repolitisierung und Demokratisierung von Wirtschaften und Zusammenleben abzielt. Es geht eben nicht (nur) um Schrumpfung, individuellen Verzicht, kapitalismuskonforme Reformen und auch nicht um den einen Weg, die eine Wahrheit, die man von oben durchsetzen könnte oder sollte (S. 24).
Dass in dem Buch die deutsche akademische Diskussion in die internationale Debatte und den Kontext weltweiter sozialer Bewegungen eingebettet wird, kann der bisher in Teilen selbstverschuldet peripheren deutschen wissenschaftlichen Diskussion nur guttun. Gerade in Zeiten, in denen Neoliberalismus und Vereinzelung jeden utopischen Entwurf zunichte zu machen drohen, könnte Vetters & Schmelzers wichtigstes Verdienst am Ende womöglich gar nicht die Erstellung einer informativen und lesbaren Einführung in die Postwachstumsdiskussion, sondern eine (Neu-)Formulierung von Degrowth/Postwachstum als attraktives politisches Projekt sein, das der Bewegung neue Aktualität und Energie verleiht.
Matthias Schmelzer & Andrea Vetter (2019): Degrowth/Postwachstum zur Einführung. Hamburg: Junius Verlag, 256 Seiten