Die Grenzen des Wachstums
Vor etwas mehr als einem Jahr wurde verkündet, dass Deutschland seine Klimaziele für 2020 nicht einhalten könne.[1] Die damalige Prognose sagte voraus, dass Deutschland die angestrebte Reduktion des CO2-Ausstoßes um 40% im Vergleich zu 1990 um ganze 8% verpassen würde. Mittlerweile liegen Prognosen vor, die von einem Erreichen der Klimaziele ausgehen.[2] Sogar eine Übererfüllung ist möglich. Ursachen dafür sind aber weder strukturelle Verbesserungen noch langfristig orientierte politische Entscheidungen. Hauptsächlich die Corona-Krise macht es möglich – sie führt zu einer Rezession und schränkt die Mobilität stark ein.
Das verdeutlicht einmal mehr, wie eng Wirtschaftswachstum und der CO2-Ausstoß (oder allgemein Ressourcenverbrauch bzw. Umweltbelastung) zusammenhängen. Ein Vergleich des Weltwirtschaftswachstums[3] mit dem weltweiten Ausstoß von CO2 über die letzten Jahrzehnte[4] lässt erkennen, dass das kein nationales und auch kein einmaliges Phänomen ist: In Folge der Ölkrisen 1973 und 1979, des Zusammenbruchs der Sowjetunion 1990, der Asienkrise 1997 und der Weltwirtschaftskrise 2007 sanken sowohl das Weltwirtschaftswachstum als auch der CO2-Ausstoß.
Eine relative Entkopplung des Ressourcenverbrauchs und der Umweltbelastung vom Wirtschaftswachstum ist global betrachtet eher die Regel, d.h. dass z. B. die Energieintensität sinkt.[5] Allerdings sorgt bisher das hohe Wirtschaftswachstum dafür, dass die absoluten Zahlen bei Ressourcenverbrauch und Umweltbelastung, z. B. in Form des Ausstoßes von Klimagasen, kontinuierlich ansteigen. Eine absolute Entkopplung kann bisher lediglich auf nationaler Ebene beobachtet werden. In Deutschland sank der CO2-Ausstoß im Zeitraum von 1990 bis 2017 um 27,5%.[6] Im selben Zeitraum wuchs das BIP Deutschlands etwa um den Faktor 2,5.[7] Das könnte Anlass zu Optimismus sein. Dazu müsste man allerdings mehrere Aspekte ausblenden: Wird der „ökologische Fußabdruck“ als Maßstab genommen, wird deutlich, dass Deutschland die Ressourcen und Kapazitäten der Erde immer noch massiv übernutzt. Etwa drei Erden wären nötig, um den Lebensstil der*s Durchschnittsdeutschen dauerhaft aufrecht zu erhalten.[8] Hinzu kommt, dass die Reduktion des Ausstoßes von Klimagasen sich zu einem Großteil damit erklären lässt, dass im Zuge der Globalisierung emissionsintensive Produktionsprozesse von Industrieländern in ärmere Länder ausgelagert wurden. Naomi Klein quantifiziert in Ihrem Buch „Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima“ diesen Effekt: „der Anstieg der Emissionen aus Gütern, die in Entwicklungsländern produziert, aber in Industrieländern konsumiert werden, war [2011] sechsmal größer als die Emissionseinsparungen der Industrieländer“.[9] Eine Berechnung von Tim Jackson, in der er den ökologischen Fußabdruck als Maßstab heranzieht, macht diesen Effekt am Beispiel Großbritannien deutlich: Im Zeitraum von 1990 bis 2007 gingen die Treibhausgasemissionen um 18% zurück. Unter Einbeziehung der Emissionen, die außer Landes für die Bürger*innen Großbritanniens ausgestoßen wurden, wurde daraus ein Anstieg um 9%.[10] Der ökologische Fußabdruck der gesamten Menschheit übersteigt seit 1970 die Biokapazität der Erde, wobei sich das Ausmaß der Übernutzung stetig vergrößert.[11]
Kipppunkte ökologischer Systeme
Doch selbst wenn es möglich wäre, eine absolute Entkopplung zu erreichen, setzen drohende Kipppunkte ein Zeitlimit: Kipppunkte sind „nichtlineare Prozesse“ bzw. „Reaktionen von Systemkomponenten“, die „irreversible Veränderungen bewirken“ und „substantielle Auswirkungen auf die Lebensgrundlagen eines Großteils der Menschheit haben“ können.[12] Der WBGU definiert verschiedene globale Bedrohungen: Klimakrise, Versauerung der Meere, Verlust biologischer Vielfalt, anthropogene Land- und Bodendegradation, Gefährdung durch langlebige anthropogene Schadstoffe, Verlust von nicht rückgewinnbarem Phosphor.[13]
Den Kippunkten setzt der WBGU die „planetarischen Leitplanken“ entgegen. Sie kennzeichnen „quantitativ definierbare Schadensgrenzen, deren Überschreitung heute oder in Zukunft intolerable
Folgen mit sich brächte, so dass auch großer Nutzen in anderen Bereichen diese Schäden nicht ausgleichen könnte“.[14] Mit der Einhaltung der planetarischen Leitplanken soll also ein Überschreiten von Kipppunkten verhindert werden. Beispielsweise wird für die Klimakrise eine Begrenzung der Erhitzung der Erde auf 2°C, verglichen mit vorindustriellen Werten, angestrebt. Damit sollen katastrophale Entwicklungen verhindert werden, wie bspw. eine Häufung von Hitze- und Kältewellen, von Schwerstniederschlägen und Stürmen, von Dürren und Überschwemmungen (mit jeweils gravierenden Auswirkungen auf die Ernährungssicherheit). Das extreme Ansteigen des Meeresspiegels soll verhindert werden, ebenso das Auftauen der Permafrostböden, was die Erhitzung weiter verstärken würde. Es droht ein Absterben des Regenwaldes und eine Abschwächung (langfristig auch der Kollaps) des Golfstromes.[15] Je stärker sich die Erde erwärmt, desto wahrscheinlicher ist das Überschreiten verschiedener Kipppunkte und desto mehr drohen Kettenreaktionen, die letztlich menschliches Leben auf dem Planeten in Frage stellen.
Um diese „planetarischen Leitplanken“ einhalten zu können, um die Erderhitzung sogar auf 1,5 °C begrenzen zu können (wie es im Pariser Klimaabkommen von 2015 als Ziel definiert wurde), darf nur noch eine bestimmte Menge Treibhausgase ausgestoßen werden. Berechnungen von Tim Jackson verdeutlichen, wie illusorisch diese Vorstellung unter Beibehaltung der derzeitigen Struktur der Marktwirtschaften und des Wachstumsdogmas ist: Die Emissionsintensität müsste jährlich um 8% verbessert werden – ein im Vergleich zu den letzten zehn Jahren verfünfzigfachter Wert. Wenn, was im Sinne einer Nachhaltigen Entwicklung wäre (der Lebensstil der Industrieländer als Maßstab genommen), die ungerechte globale Verteilung von Wohlstand und Chancen überwunden werden soll, müsste sich das globale BSP bis zum Jahr 2050 verelffachen. Und die Kohlenstoffintensität müsste von heute bis zum Jahr 2050 um den Faktor 200 verbessert werden.[16]
Das Kippmodell der Nachhaltigkeit
Dieselben blinden Flecken, die in diesem Artikel bisher vorgestellt wurden, kennzeichnen die weitverbreitetsten Nachhaltigkeitsmodelle (z. B. das Säulenmodell, das Nachhaltigkeitsdreieck, das Schnittmengenmodell): Sie lassen keine Grenzen des Wachstums erkennen und ignorieren ökologische, soziale und wirtschaftliche Kipppunkte. Zudem stellen sie die Dimensionen der Nachhaltigkeit (Ökologie, Soziales und Ökonomie) als gleichwertig dar. Sie vermögen nicht, die Labilität unseres Ökosystems, unseres Sozialsystems und unseres Wirtschaftssystems darzustellen und blenden den Anthropozentrismus, sowie die intra- und intergenerationelle Gerechtigkeit, die das Konzept der Nachhaltigkeit beinhaltet, aus.
Über das „Kippmodell der Nachhaltigkeit“ soll dieser Missstand behoben werden. Es soll Nachhaltigkeit in globalem Maßstab anschaulich machen.
Die ökologische Dimension wird im Modell am stärksten gewichtet, aus dem einfachen Grund heraus, dass das Sozial- und das Wirtschaftssystem ohne eine Bewahrung der Ökologie als Lebensgrundlage der Menschheit zwangsläufig zerfallen müssen. Auch Soziales und Ökonomie sind nicht gleichwertig. Die Wirtschaftswissenschaft ist eine von vielen Sozialwissenschaften, somit Teil des Sozialen. Ein Teil des Ganzen kann das Ganze nicht aufwiegen.
Der Rahmen dieses Artikels erlaubt es nicht, das Modell im Detail vorzustellen. Bestenfalls reicht ein Blick um die wesentlichen Überlegungen zu erfassen, denn dazu werden Modelle schließlich erstellt. Wenn Fragen auftauchen oder Sie weitere Überlegungen erfahren möchten, die dem Modell zu Grunde liegen, empfehle ich Ihnen das Buch zum Modell zu lesen.[17]
Das Modell stellt ein Ideal dar, also das Ziel, das die Menschheit erreichen sollte. Als Diskussionsgrundlage kann es hilfreich sein, das Modell nach der Realität zu formen, da dadurch die Dynamik viel klarer wird, die hinter dem Bild steckt. Das folgende Modell soll die nicht-nachhaltige Entwicklung der Gegenwart darstellen:
Das Modell betont einen Aspekt, der bei einer oberflächlichen Thematisierung von Nachhaltigkeit gerne vernachlässigt wird: Die Soziale Frage ist eng mit den ökologischen Herausforderungen verknüpft. Die systematische Transformation muss sozial-ökologisch sein und die Ökonomie beschränken, damit sie gelingen kann. Die Corona-Krise verdeutlicht, was politisch möglich ist, wenn es gewollt ist. Es bleibt zu hoffen, dass der Mut zu unbequemen Entscheidungen die Corona-Krise überdauert. Denn eines ist sicher: Die Klimakrise wird in zwei Jahren nicht verschwunden sein.
[1] Spiegel online (Hrsg.)(06.02.2019): Deutschland verpasst Klimaziele für 2020. In: Spiegel online (abgerufen am 03.05.20) – https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/deutschland-verpasst-klimaziele-fuer-2020-a-1251847.html
[2] Rueter, Gero (20.03.2020): Coronakrise: Deutschland schafft Klimaziel für 2020. In: dw online. Abgerufen am 03.05.20) – https://www.dw.com/de/corona-krise-deutschland-schafft-klimaziel-f%C3%BCr-2020-pandemie-merkel-deutschland-co2-covid-19/a-52862238
[3] World Data Bank (Hrsg.): GDP Growth (annual %). 1961 – 2017. In weltbank online. (abgerufen am 20.11.18) – https://data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.KD.ZG
[4] World Data Bank (Hrsg.): CO2 Emissions (kt). 1960 – 2014. In: weltbank online. (abgerufen am 20.11.18) – https://data.worldbank.org/indicator/EN.ATM.CO2E.KT
[5] Jackson, Tim (2017): Wohlstand ohne Wachstum. Grundlagen für eine zukunftsfähige Wirtschaft. München: Oekom. S. 141
[6] Umweltbundesamt (Hrsg.)(25.04.2019): Treibhausgas-Emissionen in Deutschland. Umweltbundesamt. (abgerufen am 03.05.20) – https://www.umweltbundesamt.de/daten/klima/treibhausgas-emissionen-in-deutschland#emissionsentwicklung-1990-bis-2017
[7] Statista (Hrsg.)(2020): Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Deutschland von 1950 bis 2019. Statista online. (abgerufen am 03.05.20) – https://de.statista.com/statistik/daten/studie/4878/umfrage/bruttoinlandsprodukt-von-deutschland-seit-dem-jahr-1950/
[8] Statista (Hrsg.)(29.07.2019): Die Welt ist nicht genug. Statista online. (abgerufen am 10.05.20) – https://de.statista.com/infografik/10574/oekologischer-fussabdruck-die-welt-ist-nicht-genug/
[9] Klein, Naomi (2014): Die Entscheidung. Kapitalismus vs. Klima. Frankfurt a. M.: S. Fischer. S. 103f
[10] Jackson, Tim (2017): Wohlstand ohne Wachstum. Grundlagen für eine zukunftsfähige Wirtschaft. München: Oekom. S. 143f
[11] John, Klaus Dieter: Wirtschaftswachstum und Nachhaltigkeit aus systemdynamischer Perspektive. In: Von Hauff, Michael (Hrsg.) (2014): Nachhaltige Entwicklung. Aus der Perspektive verschiedener Disziplinen. Baden-Baden: Nomos. S. 70f
[12] WBGU (Hrsg.) (2014): Klimaschutz als Weltbürgerbewegung. Sondergutachten. Berlin: WBGU. S. 20
[13] WBGU (Hrsg.) (2014): Zivilisatorischer Fortschritt innerhalb planetarischer Leitplanken. Ein Beitrag zur SDG-Debatte. Politikpapier 8. Berlin: WBGU. S. 4
[14] WBGU (Hrsg.) (2006): Die Zukunft der Meere – zu warm, zu hoch, zu sauer. Sondergutachten. Berlin: WBGU. S. 6
[15] Schellnhuber, Hans Joachim (2015): Selbstverbrennung. Die fatale Dreiecksbeziehung zwischen Klima, Mensch und Kohlenstoff. München: C. Bertelsmann. S. 128ff, 486ff
[16] Jackson, Tim (2017): Wohlstand ohne Wachstum. Grundlagen für eine zukunftsfähige Wirtschaft. München: Oekom. S. 151ff
[17] Heimberger, Timo (2019): Die Menschheit in Schieflage. Ein neues Nachhaltigkeitsmodell: Was passiert, wenn wir ökologische und soziale Kipppunkte überschreiten. München: Oekom. – www.oekom.de/buch/die-menschheit-in-schieflage-9783962381912/t-1/pressemappe.pdf
Beitragsbild: © Timo Heimberger