Zivilisationskrise und Gegenbewegungen
Auch wenn sich die Finanzkrise von 2008 beruhigt zu haben scheint und die Banken, Unternehmen und politischen Eliten wieder zum Business as usual zurückgekehrt sind, zeigt eine etwas genauere Analyse, dass es sich dabei nur um die Spitze des berühmten Eisbergs handelt. Die Krisen jagen sich in den letzten zwanzig Jahren: Umweltkrise, Wirtschaftskrise, Eurokrise, Schuldenkrise, Steuerkrise, Sinnkrise, aber auch die Krise des globalen Zusammenlebens und der zunehmenden Ungleichheit auf dem Planeten Erde. Da die verschiedenen Krisen immer wieder auf eine aus dem Ruder gelaufene abendländische Moderne verweisen, ist es nicht übertrieben, von einer umfassenden Zivilisationskrise zu sprechen, welche die neuzeitlichen abendländischen Errungenschaften in den Grundfesten erschüttert.
Die Postmoderne und die neoliberale Globalisierung haben diesen Befund nicht etwa dementiert oder abgeschwächt, sondern vielmehr „globalisiert“. Das vorherrschende Wirtschafts- und Entwicklungsmodell abendländischer Prägung scheint die Erde immer näher an den sprichwörtlichen Abgrund zu bringen, und trotz der vielen Anzeichen einer Verschlimmerung der vielen Krisen wird in den Chefetagen der Multinationals, des Finanzadels und in der G8 (Gruppe der acht mächtigsten Wirtschaftsnationen) getan, als ob alles zum Besten stünde.
Zugleich sind in Nord und Süd zivilgesellschaftliche Bewegungen entstanden, die das vorherrschende Zivilisationsmodell der kapitalistischen und medialen Globalisierung immer radikaler kritisieren und ihm alternative Modelle von Zivilisation, Zusammenleben und Wirtschaften entgegenhalten. Zu erwähnen sind die Weltsozialforen (seit 2001), die neuen Jugendbewegungen der „Empörten“ (seit 2008), der „arabische Frühling“ (seit 2011), aber auch die indigenen Bewegungen auf den verschiedenen Kontinenten, die Décroissance-Bewegung (Postwachstum) und ganz allgemein die Anti-Globalisierungs-Bewegung (ATTAC). Es geht dabei um Wachstumskritik in einem umfassenden und fundamentalen Sinne: das gegenwärtige kapitalistische Wachstums- und Entwicklungsparadigma ist nicht „globaliserbar“, es sei denn, wir verfügten über sieben Planeten Erde.
‚Gutes Leben‘ im Norden und Süden
In diesem Kontext wurden sowohl im Norden wie im Süden Stimmen laut, die Begriffe wie „Rücknahme des Wachstums“ (Décroissance), „Selbstbeschränkung“ oder „solidarisches Wirtschaften“ in die Debatte um Alternativen einführten, die zudem zum Teil durch Erkenntnisse aus der Frauenbewegung („Weiberwirtschaft“) und der Dekolonisierungskampagne im Süden genährt werden. Und in diesem Sinne findet auch der Diskurs des „Guten Lebens“ Eingang in die öffentliche Diskussion, sowohl im Süden wie im Norden. Allerdings tut man gut daran, die unterschiedliche Genese und Bedeutung dieses Begriffs vor Augen zu führen.
Während der ursprünglich von Aristoteles stammende Begriff des „guten Lebens“ (eubios) im Norden (Europa und USA) vor allem in der aktuellen Ethikdiskussion zur „globalen Gerechtigkeit“ eine wichtige Rolle spielt, verweist der aus den indigenen Weisheitstraditionen Lateinamerikas – oder Abya Yala, wie der Kontinent von den indigenen Völkern genannt wird – stammende Begriff des Buen Vivir („Gut Leben“) auf zivilisatorische Grundlagen, die der abendländischen Neuzeit diametral entgegengesetzt sind. Das lateinamerikanische „Gut Leben“ – eine sehr mangelhafte Übersetzung von Begriffen (suma qamaña; allin kawsay; sumak kawsay) aus den indigenen Sprachen – wurde seit 1992 im Zuge der 500-Gedenkfeiern zur Conquista und dem Völkermord an die Oberfläche gespült und wird seitdem von Intellektuellen als Inbegriff indigener Weltanschauung und Zivilisationskritik gehandelt. Dabei ging es ursprünglich überhaupt nicht um eine Alternative zum vorherrschenden Modell der kapitalistischen Globalisierung, sondern einfach um ein Symbol der kulturellen und religiösen Selbstbestimmung der indigenen Völker.
Jenseits von anthropozentrischen Entwicklungs- und Wachstumsmodellen
Durch die Gleichzeitigkeit der (unterschiedlichen) Prozesse im Norden und Süden aber wird der Begriff auch hierzulande immer häufiger aufgegriffen als Inbegriff eines „postkapitalistischen“ Entwicklungs- und Zivilisationsmodelles, also gleichsam als Synonym einer Postwachstumsgesellschaft. Aber was ist denn eigentlich das amerindianische „Gut Leben“? Und ist es wirklich mehr als eine Beschwörungsformel oder ein Deus ex machina?
Zunächst sei betont, dass das indigene „Gut Leben“ Lateinamerikas ohne seinen weisheitlichen und zivilisatorischen Hintergrund in den jahrtausendealten Traditionen nicht zu verstehen ist. Es geht – im Vergleich zur abendländischen Weltanschauung – um total andere Welt- und Menschenbilder. Während die abendländische Moderne die Welt seit Descartes als „Maschine“ und unerschöpfliche Ressource für die menschliche Selbstverwirklichung sieht, ist diese in amerindianischer Perspektive ein „Organismus“, ein lebendiges Wesen, das von intakten Beziehungen und Verbindungen lebt. Etwas plakativ gesagt: abendländisches Denken bevorzugt das vereinzelte Seiende (Substanz, Individuum), während indigenes Denken auf dem Vorrang der Beziehung (Kräfte, Energien) aufbaut. Dies schlägt sich natürlich in allen Bereichen nieder, vom Menschenbild über die Ethik und Ökonomie bis hin zu den religiösen Beziehungen.
Das aristotelische „Gute Leben“ ist ganz deutlich anthropozentrisch und auf das Individuum (bei Aristoteles war es der freie erwachsene männliche Eigentümer) fokussiert; das indigene „Gut Leben“ dagegen geht von einer kosmo- und biozentrischen Weltanschauung aus und rollt es von der Gemeinschaft her auf. Wie der grammatikalische Unterschied von Adjektiv/Adverb („gutes/gut“) und Substantiv/Verb („Leben/leben“) zeigt, geht es bei der indigenen Vorstellung nicht um einen an Gütern oder Besitz messbaren individuellen Lebensstil (eben das postmoderne hedonistische „gute Leben“), sondern um eine Haltung, um eine ganzheitliche und umfassende Art und Weise, das Leben insgesamt (das weit über das Biologische hinaus geht) zu gestalten und aufrecht zu erhalten. Es geht, um es knapp zu sagen, um die „gute“ Art und Weise zu leben, und dies impliziert im indigenen Verständnis notwendigerweise eine Ausrichtung auf und die Begründung durch das Ganze (pacha).
Buen Vivir als Einklang und Konvivenz
„Gut leben“ meint deshalb zuallererst, im Einklang mit dem kosmischen, spirituellen, religiösen und natürlichen Gleichgewicht und seinen Ordnungsgesetzen zu leben. Nur wenn das menschliche Leben mit der Natur, den Urahnen (Geistwelt), dem Göttlichen und den zukünftigen Generationen im Einklang (Gleichgewicht, Harmonie) ist, gilt es als „gut“ in einem umfassenden Sinne. „Gut leben“ meint deshalb schon von Anfang an „zusammen leben“ (Konvivenz), also eine Existenz in einem umfassenden Beziehungsgefüge, in dem der einzelne Mensch einen bestimmten „Ort“, eine spezifische „Funktion“ einnimmt, aber niemals als Subjekt einer objektiven leblosen Natur gegenübersteht.
Das indigene „Gut leben“ der südamerikanischen Anden (wie auch anderer indigener Traditionen) steht deshalb in schroffem Gegensatz zu wichtigen Prinzipien abendländischen Denkens, wie es sich in der Neuzeit herausgebildet und im Zuge von Kolonialisierung, Industrialisierung und wirtschaftlicher Globalisierung zum „einzig gültigen Denken“ entwickelt hat. Zuerst einmal ist die Vorstellung eines in sich und für sich existierenden Individuums, aber auch einer von der Natur völlig losgelösten Menschheit für andines indigenes Verständnis etwas Absurdes. Die Vereinzelung und „Verabsolutierung“ (im Sinne des „Los-Gelöstseins“) bedeutet für indigenes Verständnis Tod, Chaos, Unordnung und Verderben. Leben ist Beziehung, und ohne Beziehung gibt es kein Leben. Deshalb gehört es zur „Ursünde“ der abendländischen Neuzeit, den Menschen vermeintlich von der Natur und der spirituellen Welt losgekoppelt zu haben, und dies zudem als prometheischen Freiheitsakt anzusehen. Die Folgen sind Tod in der Gestalt von Klimaveränderung, Einsamkeit, Depression, Suizid, Suchtverhalten und anderen „Zivilisationskrankheiten“ der nördlichen Hemisphäre.
Ist Buen Vivir ein Synonym für Postwachstumsgesellschaft?
Beide Ansätze treffen sich in der Überzeugung, dass ein unbegrenztes Wachstum in einer endlichen Welt nicht möglich ist, oder aber wie der Krebs unweigerlich zum Tod führen wird. In einer endlichen Welt bedeutet ein Mehr auf der einen Seite ein Weniger auf der anderen. Buen Vivir geht gepaart mit einer „spirituellen Revolution“, wonach es um eine prinzipielle Dekonstruktion des auch in alternativen Ansätzen des Nordens noch immer virulenten Anthropozentrismus geht: Die Welt ist nicht dem Menschen zugeordnet, sondern der Mensch der Welt. Und dies bedeutet, dass „Wirtschaft“ im Tiefsten Sorge und Gestaltung des Lebens insgesamt ist; im kosmischen Haus (oikos) wohnen nicht nur Menschen. Es kann kein „Gut leben“ geben, wenn zwei Drittel der Menschheit arm sind und die Natur mit Füßen getreten wird.
In diesem Sinne hat das indigene Buen Vivir für Menschen im Norden weitgehende Konsequenzen, vor denen wir lieber die Augen verschließen. Es geht um „Entschleunigung“, um eine neue Art der Genügsamkeit, um die in Verruf geratene Tugend des „Verzichts“, um Wachstumskritik und um ein umfassendes kosmisches Bewusstsein, bei dem die Beziehung oder das Gemeinwohl vor dem abgesonderten und als autonom betrachteten menschlichen Individuum steht.