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Wachstumspolitik sein lassen? Für ein menschenwürdiges Leben

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„Mehr, mehr, mehr“ – ist das zunehmend kritisierte Prinzip immerwährenden Wachstums immer noch die unumstößliche Grundlage unseres Wirtschaftssystems? Unter dem Motto „Sein lassen! Weg von der Wachstumspolitik – Freiheit gewinnen“ traf sich der wissenschaftliche Arbeitskreis (AK) Wirtschaft und Finanzen des BUND vom 18. bis 20.11.2016 in der Evangelischen Akademie Bad Boll.

Wie AK-Vorsitzender Dr. Joachim H. Spangenberg kommentierte, bringt der Tagungstitel eine Verantwortung vor dem Seienden mit der Notwendigkeit zusammen, Änderungen auf ihre Zukunftsfähigkeit hin zu überprüfen. Damit gab er den Startschuss für die Diskussion über die Überwindung des Wachstumsparadigmas zum Schutz ökologischer Ressourcen, aber auch die Bedeutung sozialer Aspekte in der Begründung, Kommunikation und Umsetzung ökonomischer Veränderungen.

Sowohl der BUND, nicht zuletzt durch die 1996 mit Misereor und 2008 mit Brot für die Welt veröffentlichten Studien „Zukunftsfähiges Deutschland“, als auch der Tagungsort Bad Boll blicken auf eine lange Tradition im Dialog zu Wachstum, Postwachstum und Suffizienz zurück. Tagungsleiter Pfarrer Romeo Edel (Boll/Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt) wies darauf hin, dass schon 1976 in Boll eine Tagung zu „Das unbewältigte Wachstum“ stattfand, bei der Herbert Gruhl ausführte: „Jede Zeit hat ihren Aberglauben. Und der heutige Aberglaube besteht in der Annahme, dass eine Richtung, die zu großen Erfolgen geführt hat, ohne Ende weiter beschritten werden könne.“

Prof. Dr. Ortwin Renn, wissenschaftlicher Direktor des Institute for Advanced Sustainability Studies in Potsdam, hob hervor, dass aus seiner Sicht Suffizienz kein Allheilmittel globaler Probleme sei, da Wachstumskritik als eine Arroganz der Wohlhabenden angesehen werden könne gegenüber denen, die weniger haben, global und in Deutschland. Er warb dafür, sich von „Wachstum-Ja-Nein-Diskussionen“ zu entfernen, um Fronten und Lagerbildung zu überwinden, und stattdessen zu fragen, wie Produktion, Distribution und Dienstleistungen so zu gewährleisten seien, dass sie den ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Anforderungen der Nachhaltigkeit gerecht werden. In ökologischer Hinsicht seien dabei Dekarbonisierung, Dematerialisierung und Renaturalisierung entscheidende Ansprüche.

Die Verknüpfung von Suffizienzgesichtspunkten mit sozialen Aspekten zog sich wie ein roter Faden durch die Veranstaltung. Prof. Dr. Hans Diefenbacher (FEST Heidelberg) hob die Wichtigkeit hervor, über ökologische Nachhaltigkeitsziele auch gesellschaftliche Ziele nicht zu vergessen, und rief dazu auf, gegen die Wachstumspolitik in den Köpfen vorzugehen. Er unterstrich, wie wichtig es für Zivilgesellschaft, aber auch Politik sei, nicht nur im Ankündigungsmodus zu verharren, sondern konkrete Schritte hin zu Veränderung zu unternehmen.

Die Bedeutung neuer Narrative, neuer Visionen und neuer Leitbilder griff auch Prof. Dr. Angelika Zahrnt (BUND-Ehrenvorsitzende/AK) auf – die UN-Ziele für Nachhaltige Entwicklung (SDGs) seien zwar ein wichtiger Schritt, doch es sei notwendig, Konflikte zwischen den Zielen zu thematisieren. Sie blickte insbesondere auf die Studie „Zukunftsfähiges Deutschland“ zurück, die nach dem UN-Erdgipfel 1992 als erste umfassende Nachhaltigkeitsstudie politische Ziele und Maßnahmen abgeleitet und gesellschaftliche Leitbilder entwickelt hat. Die Ergebnisse sahen sich damals Vorwürfen wie Ökodiktatur oder Planwirtschaft ausgesetzt. Insbesondere aus der Wirtschaft klinge dabei teils bis heute ein falscher Begriff von Gerechtigkeit an: Viele Auseinandersetzungen etwa im Bereich der Automobil- und Energiewirtschaft kreisten um Besitzstandsgerechtigkeit und die Verteidigung des Status Quo statt um die Erreichung einer Verteilungsgerechtigkeit gerade in der Distribution globaler Umweltgüter, so Zahrnt.

Unter der Überschrift ‚Ziele, Zahlen, Zombies und Zukunftsperspektiven‘ hob Prof. Dr. Rudi Kurz (Hochschule Pforzheim/AK) die Fortschritte bei der Zielformulierung hervor durch SDGs und Nationale Nachhaltigkeitsstrategie. Als Leitbild dominiere allerdings weiterhin Wachstum (Zombie). Dennoch habe eine gewisse Wandlung stattgefunden: Umweltschutz und Nachhaltigkeit gelten nun nicht mehr als ‚Jobkiller‘, sondern als ‚Green Growth‘, als ‚Modernisierungsstrategie‘ mit ‚win-win‘-Potential. Er belegte (Zahlen), dass die erhoffte Effizienz-Revolution bislang ausgeblieben ist. Daher ist auch die Suffizienz-Option zu prüfen: Welche Konsequenzen hätte es, wenn die Konsumausgaben jedes Jahr um 1-3% gesenkt werden könnten? Abschließend wies er auf die Bedeutung der Resilienz unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung angesichts sinkender Wachstumsraten und zunehmender Vermögenskonzentration hin.

Die positiven Assoziationen mit „Wachstum“ hob auch Prof. Dr. Hubert Weiger (BUND-Bundesvorsitzender) hervor, frisch zurückgekehrt von den Klimaverhandlungen in Marrakesch. Kein/e Politiker/in werde sich gegen Wachstum stellen: Es sei eine akademische, aber keine gesellschaftliche Debatte, und solange die Bevölkerung Angst vor geringem Wachstum habe, wolle sie sich auch mit negativen Folgen des Wachstums nicht auseinandersetzen. Er berichtete auch, dass sogar der BUND nicht vor Wachstumslogik gefeit sei: Für ihn als Vorsitzenden sei die Kommunikation dann am leichtesten, wenn der Verband und die Mitgliederbeiträge wüchsen.

Die auch von Hubert Weiger angesprochene Frage, wie Ziele entstehen und zu kommunizieren sind, führte Katharina Ebinger aus dem BUNDjugend-Vorstand näher aus. Sie rief dazu auf, in der Zielformulierung nicht nur die Interessen privilegierter, weißer Akademiker/innen zu repräsentieren: In Zielsetzung und –kommunikation sei zu überlegen, wer Zielgruppe sei und mit wem in Dialog zu treten und wer wie abzuholen sei, weshalb die BUNDjugend einen Dialogprozess mit Jugendorganisationen verschiedener Gewerkschaften begonnen hat. Eine kommunikative Chance für den BUND sei, sich als Interessenvertretung der Menschen zu positionieren, die nachhaltig leben wollen, wobei unterschiedlichen Lebensstilen mit Respekt zu begegnen sei. Zugleich sei die Bereitschaft zur Veränderung von Konsummustern nicht zu entkoppeln von der ebenfalls zu stellenden politischen Systemfrage.

Die Wichtigkeit von Kommunikation, Narrativen und dem „Mitnehmen“ der Menschen griff auch Dr. Bernd Bornhorst (Misereor) aus der Erfahrung mit Partnerorganisationen im globalen Süden auf: In seiner Beobachtung ist nachhaltige Entwicklung ein ausgehöhlter Begriff, der Zielkonflikte zukleistere und vielfach etwa hinsichtlich der Inwertsetzung von Natur und impliziten Wachstumsfixiertheit sehr kritisch gesehen werde. Er stellte auch die Frage, wie Wachstumsüberwindung so gefasst werden könne, dass man über die rationale Auseinandersetzung hinaus die Menschen da emotional abholen könne, wo gesellschaftliche Diskussion existiert.

Als praktische Inputs referierten Dr. Thomas Ernst und Andrej Cacilo vom Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation zur Transformation zu Nachhaltiger Mobilität und hoben dabei u. a. die Wichtigkeit hervor, die Wissensgrundlage und Betrachtungsgrenzen bei der Erstellung von Zukunftsszenarien und Zielwerten zu berücksichtigen. Helen Lückge aus dem Vorstand des Forums Ökologisch-soziale Marktwirtschaft (FÖS) präsentierte, wie durch ökologische Abgaben etwa auf Dienstwagen oder Flugverkehr oder den Abbau umweltschädlicher Subventionen zum Beispiel bei Diesel erhebliche Ressourcen freigesetzt werden könnten (z. B. €50Mrd. durch Subventionsabbau). Im Vergleich zu 2003, als ökologische Steuern noch 6,5% der Gesamtsteuerlast ausmachten, sind die Abgaben auf unter 5% zurückgegangen. Der Faktor Arbeit werde im Vergleich zu Energie und Material weiterhin viel stärker besteuert; eine Verschiebung könnte zum Beispiel wie in der Schweiz die Auszahlung eines Ökobonus durch die Krankenkasse am Jahresende ermöglichen.

Die vielleicht passendste Zusammenfassung des regen und vielfältigen Austauschs bietet das Wort des ‚menschenwürdigen Lebens‘ (Joachim Spangenberg) als entscheidende Zielgröße unserer Zeit: Insbesondere im Angesicht vieler Individuen, die sich abgehängt fühlen, ist gerade für den BUND als Nachhaltigkeitsverband die Verknüpfung ökologischer mit sozialen Themen ebenso entscheidend wie eine Sprache, die alle mitnehmen kann. Der BUND-AK Wirtschaft und Finanzen wird zweifellos auch weiterhin seinen Teil dazu beitragen.

Judith Krauß ist Studienleiterin für Nachhaltigkeit an der Evangelischen Akademie Bad Boll. Nach Tätigkeiten in Zivilgesellschaft, Privatwirtschaft und Entwicklungszusammenarbeit befasste sie sich als Doktorandin und post-doc am Global Development Institute der Universität Manchester mit Nachhaltigkeit im Kakaosektor aus der Wertschöpfungskettenperspektive. Die sozial-ökologische Transformation, die aus ihrer Sicht global wie national anzustreben ist, versucht sie auch privat mit Einfachheit, Ehrenamt und (Draht)Esel zu leben.

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