Die Ringvorlesung „Wohlstand ohne Wachstum?“, organisiert vom Deutschen Gewerkschaftsbund und der Technischen Universität Berlin, ist vielleicht für so manche Berliner*in zu einer Tradition der akademischen Donnerstagabend-Unterhaltung geworden. Nachdem die Reihe vor einer Woche am 14. Februar mit ihrer dreizehnten Veranstaltung abgeschlossen wurde, ist es nun höchste Zeit für einen kleinen Rückblick – für alle, die der Diskussion im vergangen Vierteljahr nicht folgen konnten. Aber auch für diejenigen, die nun ihren Donnerstagabend nicht mehr im Hörsaal 1012 verbringen.
Der Präsident der Technischen Universität, Jörg Steinbach, leitete den Abend mit einem kurzen Aufruf zur Kooperation der verschiedenen gesellschaftlichen Institutionen und akademischen Disziplinen ein. Tatsächlich wurde das Podium diesem Anspruch gerecht. Der DGB-Vorsitzende Michael Sommer, Michael Müller, Vorsitzender der Naturfreunde, sowie die Vize-Präsidentin der TU, Gabriele Wendorf, referierten aus verschiedenen Perspektiven zu einer gemeinsamen Frage: „Wohlstand ohne Wachstum – eine realistische Utopie?“
Was meint Wohlstand überhaupt?
Michael Sommer stellte in seiner sehr persönlichen Rede aber zunächst die Grundsatzfrage, von welchem Wohlstand eigentlich die Rede sei. Darauf fände jede*r eine andere Antwort, abhängig von den eigenen Interessen. Was allerdings ein öffentlicher Wohlstand braucht, sei Arbeit, die anstatt der aktuellen „unglaublich falschen“ eine gerechte und gleiche Verteilung ermöglicht. Reines quantitatives Wachstum würde bestehende Ungerechtigkeiten noch verschärfen, nicht nur in Deutschland, sondern vor allem in den Schwellen- und Entwicklungsländern. Wachstum sei besonders dort eine „Floskel für das Recht auf gerechte Verteilung“. Darum solle nicht die Frage gestellt werden, OB man wächst, sondern WIE und FÜR WEN dieses Wachstum gestaltet sein soll. Die Idee eines qualitativen Wachstums, von Sommer als Wunschkind der Arbeiter- und Umweltbewegungen verstanden, ist seine einleuchtende Antwort. Wohlstand für alle, im Sinne von Wohlergehen und Wohlfahrt, sei ein Ziel, das durch qualitatives Wachstum in strategischen Schritten erreichbar ist und keine Utopie bleiben muss.
Es braucht eine sozial-ökologische Transformation
Diesen Gedanken griff Michael Müller auf und nahm seine Zuhörer*innen zunächst mit auf einen intellektuellen Ritt durch die Geschichte der Wachstumstheorien. Seine These: Der technische Fortschritt und das Wirtschaftswachstum waren von Europa ausgehend der Weg der Moderne – doch statt mit diesen Instrumenten Gerechtigkeit und Emanzipation zu erreichen, werden sie heute als Ziel missverstanden. Statt Wachstum um des Wachsens willen fordert er eine sozial-ökologische Transformation. Diese brauche fünf Elemente: eine starke Demokratie; eine Abschaffung des Regimes der Kurzfristigkeit; Prozessverantwortung; ein Aufbrechen der Wachstumsfrage in Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen sowie wirkungsvolle zivilgesellschaftliche Allianzen, um Schwächen der Politik auszugleichen. Damit schafft Müller tatsächlich eine kleine Zusammenfassung der aus den vergangenen Vorlesungen gewonnenen Erkenntnisse und lässt so die Möglichkeit eines Wohlstands ohne zerstörerisches Wachstum ein Stück weit realer erscheinen. Er sieht gerade in der Transformationsdebatte die Chance, für das politisch missbrauchte Konzept der Nachhaltigkeit den Rahmen neu zu schaffen, den es verdient.
Es geht um Realisierbarkeit
Als dritte Rednerin bemerkte Gabriele Wendorf, dass es bei der Wachstumsdebatte weniger um Realismus als um Realisierbarkeit geht. Mit ihrem abschließenden Beitrag zeigte die Wirtschaftsingenieurin, wie Nachhaltigkeit tatsächlich in der Wissenschaft umgesetzt werden kann. In ihren Forschungsprojekten untersucht sie u.a., welche ökologisch-sozialen Potentiale in der Umgestaltung von Häusern liegen. Damit macht sie klar, dass Wohlstand auch eine Parallele zu Lebensqualität und individuellem Wohlbefinden bedeutet – und gute Wissenschaft einen großen Teil daran hat, diesen Wohlstand Wirklichkeit werden zu lassen.
Mein Fazit: Um tatsächlich an den realen Umständen wirksam zu sein, muss die Wachstumskritik selbst wachsen. Ihr Druck hin zu tatsächlichen Veränderungen scheint noch zu schwach zu sein, um konkrete Lösungsvorschläge und ihre Umsetzung hervorzubringen. Stehen wir denn noch ganz am Anfang? A wie Anfang – dann wären die beiden Schlagwörter der vorgeschlagenen Themen für eine Fortführung der Ringvorlesung symbolisch: Sommer schlägt eine genauere Auseinandersetzung mit Arbeit vor, Müller sieht Erkenntnispotential im Konzept des Anthropozän. Dass eine Fortführung der Vorlesungsreihe zu neuen Themen erwünscht, gar notwendig ist, darin waren sich alle einig.
Wer bis dahin eine Leere im Terminplaner verspürt, dem sei das von Michael Müller erwähnte Theaterstück „Das Himbeerreich“ am Deutschen Theater in Berlin empfohlen, eine gespielte Dokumentation über (Un-)Menschliches im Finanzwesen.