Durch die Wirtschafts- und Finanzkrise haben viele Menschen den Glauben an die Verlässlichkeit traditioneller, rein individualistisch und materiell geprägter Karrieremuster und Absicherungen verloren. Das hat die Offenheit für persönliche Umorientierungen gestärkt. In Kommunen ist angesichts der Finanznot die Bereitschaft gewachsen, Suffizienzprojekte zu unterstützen, weil sie wenig kosten, den sozialen Zusammenhalt stärken und positiv auf das Lebensgefühl in einer Stadt wirken können. Wissenschaftliche Erkenntnisse und vielfältige persönliche Erfahrungen mit Rebound- und Wachstums-Effekten bei Effizienzsteigerungen lassen bei immer mehr Menschen das Vertrauen schwinden, dass mit Technik alleine eine zukunftsfähige Entwicklung möglich sei.
All dies hat das gesellschaftliche Klima geändert, in dem heute über Lebensstile diskutiert wird und in dem neue Lebensstile vermehrt ausprobiert werden.
Neue Dynamiken für suffizientes Leben
In jungen und vornehmlich städtischen Milieus ist eine Dynamik für suffizientes Leben entstanden. Es gibt zahlreiche Initiativen und Projekte, die nicht nur über das gute Leben diskutieren, sondern es selbst leben wollen; die nicht auf Politik und Strukturveränderungen warten, sondern ihr eigenes Leben verändern und sich dafür Handlungsräume schaffen wollen. Stichworte dafür sind urban gardening, transition towns, repair cafes, second hand parties, öffentliche Bücherschränke.
So bunt und unkoordiniert diese Bewegung für die Gemeingüter, die Commons, ist, so stellt sie doch die Marktlogik und – mit ihrer Betonung des Gemeinsinns und der Kooperation – den individualistischen Homo oeconomicus in Frage. Wenn diese Bewegung sich ausbreitet, wenn sie mehr wird als eine liebenswürdige Nische und sozialentlastende Lebensform, dann werden zwangsläufig bestehende politische und wirtschaftliche Interessen berührt. Umso mehr ist es nötig, dass Suffizienz nicht nur aus Suffizienzprojekten besteht, sondern als politisches Thema ernst genommen wird – für eine Politik, die förderliche Rahmenbedingungen für eine Ausbreitung auch innerhalb bestehender Strukturen schafft. Für die politische Umsetzung muss aus den unterschiedlichen Bewegungen (den traditionellen wie den neuen) eine politische Kraft für eine Transformation zu Suffizienz und Wachstumsunabhängigkeit entstehen.
Etablierte zivilgesellschaftliche Organisationen – gerade solche mit dezentralen Strukturen und aktiven Mitgliedern vor Ort – spielen hier eine zentrale Rolle. Sie haben die Chance, gutes Leben für den Einzelnen und praktische Projekte und das Engagement für Suffizienzpolitik miteinander zu verbinden. Und sie können dies auf den unterschiedlichen Handlungsebenen von Kommune, Region und Land sowie auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene. Sie sind Schlüsselakteure, wenn es um Bürgerbeteiligung und bürgerschaftliches Engagement geht.
Umweltverbände als traditionelle Akteure einer Suffizienzpolitik
Den Umweltverbänden kommt in der Diskussion über eine Suffizienzpolitik eine besondere Bedeutung zu. Schon in den 1970iger-Jahren kritisierten sie Wachstumspolitik, Konsum und Verschwendung. Sie haben sich früh mit dem Konzept der Nachhaltigkeit und seiner Konkretisierung auseinandergesetzt und sich dieses Leitbild zu eigen gemacht.
Die Forderungen nach einem sparsamen Umgang mit Energie, Ressourcen und Fläche sind ein Kern ihrer politischen Arbeit; ebenso die Überzeugung, dass technische Verbesserungen zwar hilfreich aber nicht ausreichend sind, sondern ein kultureller Wandel und eine Veränderung der Lebensstile dazu gehören.
Für die Umweltverbände ist Suffizienz und Suffizienzpolitik also kein neues Feld. Aber sie können und sollten sich heute in einer veränderten gesellschaftlichen Situation neu die Frage stellen, wie sie strategisch mit dem Thema umgehen wollen. Umweltverbände haben kein Eigeninteresse an der Fortsetzung der Steigerungslogik. Durch ihre Unabhängigkeit können sie mutig sein und sich für Suffizienz stark machen. Sie können ihre Forderungen in verschiedenen Politikfeldern auf Suffizienzpolitik ausrichten, beispielsweise in der Verkehrspolitik, in der Landwirtschaftspolitik oder in der Abfallpolitik. Sie können neue Konzepte entwickeln und Visionen wagen, sie können die Alternativen zum „weiter, schneller, mehr“ in Projekten konkret machen, im eigenen Umfeld stilprägend sein und ihre Mitglieder als Suffizienzakteure motivieren. Sie können gleichzeitig Sand ins Getriebe der Steigerungslogik streuen, durch Blockaden Zeit gewinnen, durch öffentlichen Druck zum Nachdenken anregen und andere Lösungen – vor allem auch durch Bürgerbeteiligung – durchsetzen.
Kirchen für ein Gutes Leben
Doch ist das Thema Suffizienz bei weitem nicht nur eines für die Umweltverbände. Ein weiterer wichtiger Akteur sind die Kirchen. Gutes Leben, Gerechtigkeit, ein Miteinander jenseits von Eigeninteressen sind hier zentrale Themen und ein wichtiges Element nicht nur des christlichen Wertekanons.
So stand der evangelische Kirchentag in Hamburg im Jahr 2013 unter der Losung „Soviel du brauchst„. Er war damit auch ein Ausdruck dafür, welche Ausstrahlung die Debatte über gutes Leben jenseits von rein materiellen Gütern gesellschaftlich und kirchlich hat. Mit der auf Gerechtigkeit und die Armen der Welt setzenden Programmatik des neuen Papstes Franziskus ist das Thema auch in der katholischen Kirche von besonderer Aktualität.
Suffizienz als Herausforderung für die Arbeiterbewegung
Auch für Gewerkschaften ist „gutes Leben“ ein zentrales Thema. Das Streben nach einem solchen guten Leben für möglichst viele stand am Beginn der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert. Dort ging es neben Kernforderungen nach besseren gesetzlichen Regelungen zu Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen sowie für Gesundheitsschutz auch um den Einsatz für gemeinschaftliche Einrichtungen wie bessere Einkaufsmöglichkeiten, Gärten für die Eigenversorgung, Bildung und Erholung. Die Forderung nach allgemeiner Arbeitszeitverkürzung hat in den Gewerkschaften zwar an Gewicht verloren, aber Teilzeit, Eltern- und Pflegezeiten oder Sabbaticals sind inzwischen zu festen gewerkschaftlichen Themen geworden. Dabei stellt das Thema Suffizienzpolitik für die Gewerkschaften eine sehr viel größere innere Herausforderung dar als für Umweltverbände und Kirchen. Denn die Orientierung an Erwerbsarbeit, Vollzeitstellen und Lohnzuwächsen bleibt wichtiges Element gewerkschaftlicher Politik – und bisher auch die Forderung nach weiterem Wirtschaftswachstum.
Von Programmatik und Historie her gibt es in diesen und vielen anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen eine Basis dafür, sich mit Suffizienzpolitik auseinanderzusetzen und sich für eine mutige Suffizienzpolitik zu engagieren.
Eine Vertiefung dessen, wie Zivilgesellschaft als Akteur einer umfassenden Suffizienzpolitik aussehen kann, findet sich im Buch „Damit gutes Leben einfacher wird. Konturen einer Suffizienzpolitik„. Die Buchvorstellung findet statt am11. November 2013 um 19.00 Uhr im Auditorium des Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum der Humboldt-Universität, Geschwister-Scholl-Straße 3, 10117 Berlin (direkt am S-Bahnhof Friedrichstraße). Weitere Informationen zur Veranstaltung und zu dem Buch finden Sie hier.