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Wie Zeit, Medien und Postwachstum zusammenhängen

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Von Digital Detox und Nutzungsdauerverlängerung

Zeit und Medien sind beides relevante Gegenstände im Postwachstumsdiskurs. So ist Zeit in der Postwachstumsökonomie eine wichtige Kategorie, u.a. wird die Relevanz von Zeitressourcen für postwachsumsrelevante Praktiken, wie der Eigenversorgung, betont (Paech 2021, 173). Und auch Medien als Technologien und Inhalte, sind Bezugspunkte des Postwachstumsdiskurses: Zum einen wird auf die Thematisierung der Grenzen des Wachstums in Medieninhalten verwiesen (z.B. Grahn 2010 und Blog Postwachstum 2016) und ist dieser Blog letztendlich ein Beispiel für Inhalte von Onlinemedien, die sich mit Postwachstum beschäftigen. Zum anderen kritisieren Postwachstumsvertreter*innen entgrenzte Produktions- und Konsumketten, in denen auch Medientechnologien produziert werden (Paech 2012, 37). Mit der Produktion fair gehandelter Medientechnologien, wie dem Fairphone, dem Shiftphone oder der fair und mit nachhaltigen Ressourcen produzierten Computermaus des Vereins Nager IT e.V., versuchen Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen diese globalen Produktionsketten nachhaltiger zu gestalten und durch das Reparieren von Medientechnologien die Produktion neuer Geräte durch eine Nutzungsdauerverlängerung zu vermeiden und damit auch das Wachstum der riesigen Müllberge von Elektroschrott zu reduzieren (Kannengießer 2022).

Hier wird bereits eine Dimension im Zusammenspiel von Zeit und Medien aus einer Postwachstumsperspektive deutlich: Die Nutzungsdauer von Medientechnologien ist relevant für Postwachstumsökonomien. Denn geplante Obsoleszenz und medientechnologische Innovationen und nicht zuletzt unsere Konsumgesellschaft, in der der Akt des Konsumierens auch neuer Medientechnologien wichtiger wird als das Konsumgut selbst (Oetzel 2012), führen zu einer Verkürzung der Nutzungsdauer der Medientechnologien und oftmals auch zur Reduktion der Lebensdauer, werden doch viele noch funktionsfähige Technologien als Elektroschrott entsorgt (Kannengießer 2022, 63ff.). In einer Postwachstumsökonomie gilt es, die Nutzungsdauer der Technologien zu verlängern, wie oben benannt z.B. durch das Reparieren der Technologien oder einen modularen Aufbau dieser, der das Reparieren ermöglicht (Kannengießer 2022, 142ff.).

 

Beschleunigung und Gefühle des „missing out“: Stressfaktoren in der Mediennutzung

Eine weitere Dimension im Verhältnis von Zeit und Medien aus einer Postwachstumsperspektive liegt in den Aneignungspraktiken der Mediennutzenden, wobei hier v.a. die Aneignung digitaler Medien relevant ist. Studien zur Nutzungsdauer zeigen, dass sich Menschen durch eine zeitlich umfassende Nutzung von Onlinemedien zunehmend „always on“ (Turkle 2008) und „permanently online“ (Vorderer und Kohring 2013) befinden. So summiert sich beispielsweise die mediale Internetnutzung mittlerweile auf durchschnittlich 136 Minuten (Beisch und Koch 2021). Nutzende von Internetmedien sind aber nicht nur zunehmend online, sondern erfahren die Aneignung von Onlinemedien als beschleunigt: Mediennutzungsepisoden wechseln sich immer schneller ab, sind durch einen flüchtigen Charakter geprägt und finden auch immer häufiger parallel statt, so wechseln Computernutzer*innen durchschnittlich alle 12 Sekunden einen Task (Görland 2020, S. 37; s. zu Zeit und Medienaneignung auch Görland und Kannengießer 2021).

Studien zeigen, dass diese zunehmende und auch als beschleunigt empfundene Nutzung von Onlinemedien ambivalente Auswirkungen auf das Wohlbefinden der Nutzenden hat, das zum einen positiv gestärkt werden kann durch den möglichen Austausch mit anderen (Vanden Abeele 2020), zum anderen aber auch negativen Einfluss haben kann durch zunehmendes Stressempfinden (Montag et al. 2015) und das Empfinden von Angst vor dem Offline-Gehen aufgrund eines Gefühls des „missing out“ (Przybylski 2013), also des Verpassens (vermeintlich) relevanter Medieninhalte.

 

Slow Media – für einen postwachstumsorientierten Umgang mit Medien

Praktiken des „Digital Detox“ sind Versuche, einer solchen Angst und einem solchen Stress zu entgehen, indem Menschen für eine bestimmte Zeit keine Onlinemedien nutzen (Syvertsen 2020). Eine solche digitale Entgiftung findet meist nur zeitlich begrenzt statt und entspricht oft einer kapitalistischen Logik, „entgiften“ doch viele Menschen, um danach u.a. in ihrer Erwerbstätigkeit wieder mehr leisten zu können. Die gängige Metapher „den Akku aufladen“ steht hier sinnbildlich für eine solche kurzfristige Strategie. Mehr noch, es hat sich eine komplexe „Digital Detox“-Industrie entwickelt, die von mobilen Applikationen bis hin zu „Detox-Kuren“ verschiedene Formate für solche Entgiftungen anbietet und von den Reduktionsbedürfnissen der Mediennutzenden ökonomisch profitiert. Schließlich sind solche Detox-Angebote geprägt durch Ungleichheiten, denn die Nutzenden müssen sich nicht nur sozial leisten können, offline zu gehen, sondern auch finanziell, da viele der Angebote (viel) Geld kosten.

Für einen Postwachstumsansatz sind solche temporären digitalen Entgiftungsprozesse daher wenig brauchbar. Vielmehr ist das Konzept des „Slow Media“ (s. das „Slow Media Manifest“: Köhler et al. 2010; wissenschaftlich z.B. Rauch 2018) postwachstumsorientiert, da hier reduzierte und konzentrierte Medienproduktions- und Aneignungsprozesse gefordert werden, welche wachstumskritisch orientiert sind.

Aus einer Postwachstumsperspektive ist das Verhältnis von Zeit und Medien also vielschichtig: Neben der Repräsentation von Postwachstum in Medieninhalten, sind es vor allem die Dauer der Nutzung von Medientechnologien und der zeitliche Umfang der Aneignungsprozesse von Medieninhalten, welche verlängert (Dauer der Nutzung von Medientechnologien) bzw. verkürzt (zeitlicher Umfang der Aneignungsprozesse von Medieninhalten) werden müssen. Dabei ist neben einer Individualethik im Postwachstumsdiskurs (u.a. Paech 2012; kritisch hierzu Schmelzer und Dengler 2022), in der die Handlungsoptionen und Verantwortung des Individuums betont wird, weitergehend das kapitalistische Gesellschaftssystem zu kritisieren.

Dies bedeutet für die Trias Zeit, Medien und Postwachstum konkret, dass zum einen individuelle Medienaneignung und ihre Relevanz für (Post)Wachstum kritisch hinterfragt und alternative Medienpraktiken wie das Reparieren, entwickelt und verbreitet werden müssen, dass aber auch das Zusammenspiel von Medien und Zeit auf der Makroebene in den Blick genommen werden muss, um nicht nur die dominierenden globalen Produktions- und Entsorgungsketten, in denen Medientechnologen hergestellt bzw. entsorgt werden zu kritisieren und letztendlich fairer und lokaler zu gestalten, sondern auch die Relevanz des „always on“ für ein wachstumsorientiertes Wirtschaftssystem kritisch herauszuarbeiten und Alternativen zu entwickeln, die z.B. als „Slow Media“ im Sinne einer Postwachstumsökonomie wirken.

 

 

Literatur:

 

Beisch, N., und  Koch, W. (2021). 25 Jahre ARD/ZDF-Onlinestudie: Unterwegsnutzung steigt wieder und Streaming/ Mediatheken sind weiterhin Treiber des medialen Internets. Media Perspektiven, 10, 486–503.

Blog Postwachstum (2016). Postwachstumsunternehmen in den Medien. Abgerufen unter: https://www.postwachstum.de/postwachstumsunternehmen-in-den-medien-20160523

Grahn, C. (2010). Die Postwachstumsgesellschaft in den Medien. Auszug aus Printmedien, Internet, Fernsehen und Radio. Abgerufen unter: https://www.postwachstum.de/die-postwachstumsgesellschaft-in-den-medien-auszug-aus-printmedien-internet-fernsehen-und-radio-20101027

Görland, S. O. (2020). Medien, Zeit und Beschleunigung: Mobile Mediennutzung in Interimszeiten. Wiesbaden: Springer VS, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29216-4

Görland, S. O. und Kannengießer, S. (2021). A matter of time? Sustainability and digital media use. Digital Policy, Regulation and Governance, https://doi.org/10.1108/DPRG-11-2020-0160

Kannengießer, S. (2022). Digitale Medien und Nachhaltigkeit. Medienpraktiken für ein gutes Leben. Wiesbaden: Springer VS.  https://doi.org/10.1007/978-3-658-36167-9

Köhler, B., Blumtritt, J., David, S. (2019). Das Slow Media Manifest. Abgerufen unter: http://www.slow-media.net/manifest.

Montag, C., B?aszkiewicz, K., Lachmann, B., Sariyska, R., Andone, I., Trendafilov, B. und Markowetz, A.

(2015). Recorded behavior as a valuable resource for diagnostics in mobile phone addiction: evidence from psychoinformatics. Behavioral Sciences 5(4), 434-442.

Oetzel, G. (2012). Das globale Müllsystem. Vom Verschwinden und Wieder-Auftauchen der Dinge. In: M. Maring (Hrsg.): Globale öffentliche Güter in interdisziplinären Perspektiven. Karlsruhe: KIT Scientific Publishing, 79–98.

Paech, N. (2021). Postwachstumsökonomie: Von der aussichtslosen Institutionen- zur Individualethik. Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik, 22(3), 168–190.

Paech, N. (2012). Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie. Mu?nchen: Oekom.

Przybylski, A.K., Murayama, K., DeHaan, C.R. und Gladwell, V. (2013). Motivational, emotional, and behavioral correlates of fear of missing out. Computers in Human Behavior 29(4), 1841-1848.

Rauch, J. (2018). Slow Media: Why ‘‘Slow’’ is Satisfying, Sustainable and Smart. Oxford: Oxford University Press.

Schmelzer, M. und Dengler, C. (2022). Anmerkungen zu Niko Paechs Postwachstumsökonomie. Abgerufen unter: https://www.postwachstum.de/anmerkungen-zu-niko-paechs-postwachstumsoekonomie-20220406

Turkle, S. (2008). Always-on/Always-on-you: The Tethered Self. In: J. E. Katz (Hrsg.): Handbook of mobile communication studies, MIT Press, pp. 227-241, Abgerufen unter: http://search.ebscohost.com/login.aspx?direct=true&scope=site&db=nlebk&db=nlabk&AN=228453

Syvertsen, T. (2020). Digital detox: The politics of disconnecting. Bingley: Emerald publishing.

Vanden Abeele, M. M. P. (2020). Digital Wellbeing as a Dynamic Construct. https://doi.org/10.31219/osf.io/ymtaf

Vorderer, P. und Kohring, M. (2013). Permanently online: a challenge for media and communication research, International Journal of Communication Vol. 7, 188-196.

Prof. Dr. Sigrid Kannengießer ist Professorin für Kommunikations- und Medienwissenschaft mit dem Schwerpunkt Mediengesellschaft an der Universität Bremen und hier Mitglied im artec Forschungszentrum Nachhaltigkeit und Zentrum für Medien-, Kommunikations- und Informationsforschung sowie dem Bremer Forschungszentrum für Energiesysteme. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Digitale Medien und Nachhaltigkeit, kritische Datenpraktiken, politische Bewegungen und Medien sowie der kommunikations- und medienwissenschaftlichen Geschlechterforschung. Dr. Stephan O. Görland ist freier Medienforscher, der momentan vor allem in zwei Bereichen tätig ist: Zum einen in der Forschung zur Transformation von Zeit durch den Einsatz von neuen Medien. Zum anderen besteht ein Schwerpunkt zu der Medienaneignung von Geflüchteten und Diaspora-Gruppierungen in Deutschland. Er war vorher an der Universität Rostock, der Humboldt Universität zu Berlin und der Universität Bremen als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig und ist assoziiertes Mitglied am „Berliner Institut für Migrations- und Integrationsforschung“ (BIM) der Humboldt Universität zu Berlin und am „Digital Diaspora Lab“ der Universität Bremen.

1 Kommentare

  1. Anonymous sagt am 11. Juni 2022

    Technologien sind keine Geräte, sondern die Praktiken ihrer Nutzung. Die Geräte werden zwar auch konsumiert, vor allem aber die Information, die sie übermittlen. Internetplattformen müssen daher auf die Obsoleszenz der Information hinarbeiten. Der Antrieb zur Nutzung von Medien beruht wesentlich auf einer positiven, nicht auf eine negativen Konditionierung, also nicht auf der Angst aufzuhören. Die Plattformkonzerne arbeiten daher mit positiver Konditionierung. Das „always on“ oder „permanently online“ ist nicht permanent sondern intermittent. Es ist nicht nur parallel mit sich selbst, sondern auch parallel mit anderem Verhalten wie Busfahren, Essen und Ruhen. In der kapitalistischen Gesellschaft kümmern wir uns nicht mehr direkt um unser Überleben, sondern darum, den Zustand, sich nicht direkt um das Überleben kümmern zu müssen, aufrechtzuerhalten. Die richtige Strategie ist nicht, Konsumenten die Angst zu nehmen, weniger zu Nutzen (diese Angst haben sie gar nicht), sondern sie die Erfahrung machen zu lassen, dass Busfahren, Essen und Ruhen nicht nur Mittel sind, sondern befriedigende Erfahrungen an sich.

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