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Wenn schneller nicht besser ist

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Gesellschaftlicher Zeitwohlstand durch Systementschleunigung

Das Phänomen Beschleunigung ist ein alter Hut. Viele Wissenschaftler/innen haben sich an ihm abgearbeitet, haben Theorien formuliert (u.a. Luhmann, Nassehi, Virilio, Rosa), empirische Studien angefertigt (u.a. Levine, Robinson, Godbey, Kirchmann) und Zeitdiagnosen erstellt (u.a. Weber, Marx, Simmel, Conrad, Kosellek, Radkau, Harvey, Berman, Sennett, Reheis). Spätestens seit Hartmut Rosa und seiner gesellschaftlichen Beschleunigungstheorie wissen wir, dass sich soziale Beschleunigung genauso verhält wie physische Beschleunigung: Mengenzunahme pro Zeiteinheit. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass es ohne Mengenwachstum keine Beschleunigung gäbe. Da wir allerdings einem permanenten Wachstumszwang ausgesetzt sind, der bei endlichen Ressourcen (sowohl materieller als auch temporaler Natur) zu bewältigen ist, ergibt sich allgegenwärtige Beschleunigung.

Diese von Rosa ausgearbeitete Theorie bietet sowohl Ansätze für die Gestaltung eines individuellen Zeitwohlstands als auch Möglichkeiten für den Entwurf eines gesellschaftlichen Zeitwohlstands. Letzterer lässt sich vor allem vor dem Hintergrund seiner Analyse der sozio-kulturellen Beschleunigung formulieren.

Sozio-kulturelle Beschleunigung durch funktionale Differenzierung

Rosa beschreibt die soziale Beschleunigung als einen Akzelerationszirkel bestehend aus (1) technischer Beschleunigung, (2) sozio-kultureller Beschleunigung und (3) Beschleunigung des Lebenstempos. Motor der sozio-kulturellen Beschleunigung ist dabei primär die zunehmende funktionale Differenzierung in unterschiedliche Teilsysteme (Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Bildung, Kunst, Recht, Gesundheit, Sport etc.) mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten, die es zu synchronisieren gilt. Dies wird in der spätmodernen, beschleunigten Gesellschaft aber insofern zur Herausforderung, als sich nicht mehr nur die einzelnen teilsystemischen Geschwindigkeiten unterschiedlich schnell beschleunigen, sondern die Beschleunigung gleichzeitig auch immer mehr Teilsysteme erzeugt. Durch Beschleunigung wird die Gesellschaft demnach nicht nur immer weniger synchronisierbar, sondern auch zunehmend komplexer. Und dadurch wieder weniger synchronisierbar…

Hierarchisierung der Teilsysteme

Da die einzelnen Teilsysteme als Teile eines Gesamtsystems zusätzlich voneinander abhängig sind, müssen sie die Geschwindigkeiten der jeweils anderen Teilsysteme auch in ihre eigenen Handlungen miteinbeziehen. Dies wird allerdings spätestens dann zum Problem, wenn es zu einer Hierarchisierung der einzelnen Teilsysteme kommt und der wechselseitige Einfluss unausgeglichen wird. Wenn etwa die Vorherrschaft der schnellen, wirtschaftlichen Prozesse dazu führt, dass sich Politik, Bildung und Wissenschaft diesen beschleunigten Prozessen unterordnen müssen. Dass dies nicht bloße Hirngespinste sind, wird klar, wenn man gegenwärtige Diskurse und Entwicklungen näher betrachtet. In der Politik wird darüber nachgedacht, Entscheidungsprozesse von der Legislative in die Exekutive zu verschieben, um den wirtschaftlichen Anforderungen nach Flexibilität und Reaktionsfähigkeit gerecht zu werden. In der Erziehung und der Wissenschaft wird Bildung zu Ausbildung, die in immer kürzerer Zeit auf den Arbeitsmarkt vorbereiten soll.

Zeitwohlstand durch Rückgewinn der funktionalen Eigenzeiten

Doch ist das der richtige Weg? Brauchen Reflexionen und qualitativ hochwertige, nachhaltige Entscheidungen auf gesellschaftlicher Ebene nicht mehr anstatt weniger Zeit? Sollen die schnellen, auf dem Wachstumszwang basierenden Prozesse der Wirtschaft wirklich das Tempo diktieren? Gerade da, wo Reflexion wichtig ist (Bildung) und Entscheidungen weitreichende Folgen haben (Politik), darf dies eigentlich nicht passieren. Beides benötigt Zeit. Und die gilt es zurückzugewinnen.

Für einen normativ formulierten gesellschaftlichen Zeitwohlstand bedeutet dies zum einen die Entkopplung der einzelnen Prozesse von der exponentiellen Beschleunigung. Dadurch würde nicht nur die Komplexität der Gesellschaft in geringerem Maße wachsen, sondern sich die unterschiedlichen Geschwindigkeiten der einzelnen Teilsysteme auch besser synchronisieren lassen. Zum anderen würde eine Änderung des innersystemischen Machtgefüges die Teilsysteme von der wirtschaftlichen Logik entbinden und ihnen die Möglichkeit geben, ihrer eigenen Zeithorizonte entsprechend zu handeln.

Kurz gesagt geht es also darum, der Wirtschaft ihre diktatorische Herrschaft über die Zeit zu entziehen und den unterschiedlichen gesellschaftlichen Funktionen ihre Eigenzeiten zurückzugeben.

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