Handlungsfelder und Herausforderungen für KMU
1. Einleitung
Das wirtschaftliche Wachstum – gemessen am BIP – gilt seit dem Zweiten Weltkrieg als Indikator für gesellschaftlichen Wohlstand. Bis heute identifizieren Unternehmen ihr ökonomisches Wachstum als entscheidenden Faktor für das eigene Fortbestehen und Wettbewerbsfähigkeit. Jedoch hat diese gegenwärtig dominierende Perspektive auf das stetige Wirtschaftswachstum blinde Flecken, denn unsere Lebensgrundlage und damit auch der erreichte Wohlstand drohen durch die Fixierung auf Wachstum zerstört zu werden. In Anbetracht eines limitierenden Zeitfaktors zur Abwendung der schlimmsten sozialen und ökologischen Auswirkungen wird die Notwendigkeit alternativer gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Modelle, die Wohlstand unabhängig vom Wirtschaftswachstum machen und dadurch mehr Nachhaltigkeit ermöglichen, immer präsenter.
Es stellt sich daher die Frage: Wie können sich Unternehmen von einem als notwendig, alternativlos und erstrebenswert geframten ökonomischen Wachstumsparadigma lösen?
Der Artikel zeigt anhand von konkreten Handlungsfeldern für KMU (kleine und mittelständige Unternehmen) Spielräume und Rahmenbedingungen für eine Transformation auf. Deutlich wird dabei: Die Digitalisierung kann helfen. Zentral ist jedoch ein Kulturwandel in Kooperation mit der Politik. Er beruft sich dabei auf den Forschungsbericht „Digitalisierung und Wachstums(un)abhängigkeit“ von Felix Sühlmann-Faul, der bei der Bits & Bäume Konferenz 2022 vorgestellt wurde.
2. Wachstum(-sunabhängigkeit) und Nachhaltigkeit
In der Gesellschaft des 21. Jhd. gilt wirtschaftliches Wachstum noch immer als Garant für Wohlstand. In internationalen Diskursen wird Wohlstand dabei im Kontext der Wirtschaftsleistung hauptsächlich an der prozentualen Veränderung des Bruttoinlandprodukts (BIP) innerhalb eines Jahres festgemacht. Das BIP wird oft analog mit dem gesellschaftlichen Wohlstand verstanden und dient folglich als wirtschaftliches und gesellschaftliches Ziel. Für Unternehmen wird Wachstum als entscheidender Faktor für das eigene Bestehen angesehen, wobei eine Produktivitätssteigerung durch technische Innovationen zentral für die Wettbewerbsfähigkeit ist. Die aus Arbeit generierten Löhne finanzieren durch Steuern und Sozialversicherungsbeiträge als Haupteinnahmequelle westlicher Staaten die grundlegende gesellschaftliche Infrastruktur. Dadurch entsteht eine systemische Abhängigkeit zwischen wirtschaftlichen und öffentlichen Akteuren– und somit auch eine systemische Abhängigkeit von wirtschaftlichem Wachstum.
Jedoch lässt das BIP als quantitatives Instrument der Wohlstandsmessung qualitative Merkmale wie eine verbesserte Lebensqualität oder den Erhalt der Umwelt unberücksichtigt. Wir stoßen mit dem kontinuierlichen Wirtschaftswachstum an physikalische Grenzen, beuten (natürliche) Ressourcen aus und zerstören die Umwelt teils unwideruflich. Diese blinden Flecken des Wohlstands durch Wirtschaftswachstum vernachlässigen die dadurch entstehenden verheerenden ökologischen und sozialen Auswirkungen. Der Weltklimarat weist seit Jahren auf diese Problemlagen hin und macht deutlich, dass wir nur ein limitiertes Zeitbudget haben, um die Folgen abzumildern. Die vollständige Entkopplung des BIP vom Ressourcenverbrauch durch Effizienz- und Konsistenzsteigerungen ist, u.a. aufgrund von Rebound-Effekten, bisher nicht gelungen. Das unterstreicht – besonders in Anbetracht des bereits angesprochenen limitierenden Zeitfaktors – die Notwendigkeit alternativer gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Modelle, die Wohlstand unabhängig vom Wirtschaftswachstum und dadurch mehr Nachhaltigkeit ermöglichen.
3. Handlungsfelder für KMU
Laut des statistischen Bundesamts besteht die Unternehmenslandschaft in Deutschland zu 99,4% aus KMU – also ca. 2,6 Millionen Unternehmen. Diese erzeugen 42 % des BIP. Dadurch haben KMU durch ihren großen Einfluss auf die Volkswirtschaft auch wichtige Stellhebel für eine sozial-ökologische Transformation der Wirtschaft in der Hand. Zusätzlich handelt es sich bei KMUs nur in den seltensten Fällen um börsennotierte Unternehmen. Bei diesen besteht alleine durch den Faktor von Fremdinvestitionen schon eine recht alternativlose Ausrichtung auf Wachstum. Und: Für KMU ist Unternehmenswachstum ein zweischneidiges Schwert. Einerseits erleben viele KMU einen Wachstumszwang, gleichzeitig geht Wachstum mit unternehmerischem Risiko und unternehmensintern mit teilweise großen strukturellen Veränderungen einher. Eine Entlastung vom Wachstumszwang und eine Orientierung auf das Ziel der Wachstumsunabhängigkeit kann durchaus attraktiv sein. Die Wachstumsunabhängigkeit definiert sich hier durch einen Verzicht auf quantitatives Wachstum, wenn bestimmte selbst gewählte Qualitätsziele – die sich an Produkten, Dienstleistungen, Arbeitsprozessen oder Beziehungen innerhalb der Firma oder zur Kundschaft sowie zur Region festmachen – erfüllt werden können.
Von den 2,6 Millionen Unternehmen – diese stellen zunächst die Grundgesamtheit der Zielgruppe für die Option der Wachstumsunabhängigkeit dar – müssen einige Branchen des Dienstleistungsgewerbes abgezogen werden. Das umfasst u.a. medizinische Praxen, verschiedene Handwerke oder spezielle Gewerbe wie Bestattungsinstitute oder Fitnessstudios. Bei diesen ist ein intrinsisch getriebes Wachstum nicht möglich, sondern von exogene Faktoren (z.B. gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen) abhängig. Medizinische Praxen sind ein Sonderfall, da diese von der Vergabe von Kassensitzen regional bestimmt wird, was eher einer Planwirtschaft entspricht. Damit verbleiben in Deutschland knapp 1,7 Mio. KMU die potenziell intrinsisch motiviert wachsen können. Ca. ¾ davon – 1,3 Mio. KMU – verfolgen das Ziel zu wachsen, da sie mit Wachstum mehr Stabilität, Unabhängigkeit und Kundenbindung assoziieren.
Psychologischen Studien zufolge bedarf es einer kritische Masse von engagierten 25 %, um in einer Gruppe Menschen eine soziale Innovation – bspw. eine politische Idee – durchzusetzen und den Rest davon zu überzeugen. Auf Unternehmen übertragen werden 325.000 wachstumsunabhängiger KMU benötigt, um bei den restlichen 975.000 KMU ein Hinterfragen des Wachstumsdogmas zu erreichen. Wie kann hier die Digitalisierung einen positiven Beitrag leisten, damit wachstumsunabhängige Unternehmen für die breite Masse attraktiv werden und nicht vom den Idealismus einer kleinen Kundengruppe abhängig sind?
3.1. Kulturwandel
Bevor das Thema Digitalisierung in Unternehmen zur Realisierung der Wachstumsunabhängigkeit relevant wird, ist ein grundlegender kultureller Wandel auf Unternehmens- und politischer Ebene sowie im Konsument*innenverhalten notwendig, damit Wachstumsunabhängigkeit für die breite Masse attraktiv wird. Dabei geht es vor allem um das Schaffen von Rahmenbedingungen für Unternehmensformen, die Kooperation statt Konkurrenz , neue Finanzierungsmodelle umsetzbar und engere Bindungen zwischen den Akteur*innen möglich machen. Besonders relevant sind dabei Kooperationen mit regionalen Verbündeten zur gegenseitigen Unterstützung – das stärkt die gesamte Wirtschaftsregion und stabilisiert Lieferketten. Ohne diesen Wandel verbleiben wachstumsunabhängige Pionierunternehmen in ihren Nischen und sind auf den Idealismus ihrer Kund*innen angewiesen. Die Digitalisierung bietet schon heute in erster Linie verbesserte Möglichkeiten für die Kommunikation von Unternehmen mit Kund*innen und anderen Unternehmen. Kommunikation ist für diese Transformation absolut zentral – daher kommt es darauf an, den Einsatz der Digitalisierung auf dieser Ebene zu optimieren.
3.2. Wachstumsentlastung
Einer der Hauptgründe für das als alternativlos wahrgenommene Wachstum in Unternehmen ist der Druck, gegen Wettbewerber bestehen zu müssen. Möglichkeiten zur Reduzierung dieses Konkurrenzdrucks können somit auch eine Wachstumsentlastung mit sich bringen. Hier helfen besonders kooperative Strategien, einerseits die Fixkosten bei gleichbleibendem Individualisierungsgrad und Produktpalette der Produkte beizubehalten. Andererseits können dadurch Transaktionskosten gesenkt werden. Enge (regionale) Beziehungen können außerdem die Priorität von Werten zur Stärkung der Region, Vertrauen und gemeinsame Nachhaltigkeitsinteressen vor die Renditeerwartung stellen. Eine weitere Entlastung kann auch das Ausweiten von Dienstleistungsangeboten – wie beispielsweise Reparaturdienstleistungen, Sharing-Modelle und Verleihservices – anstelle einer Steigerung der Produktion bringen. Mit Hilfe von digitalen Tools können Unternehmen dabei ihre selbst gesteckten Ziele besser tracken.
3.3. Nachhaltigkeit
Effizienzsteigerungen durch technische Innovationen werden durch den Rebound-Effekt oft Großteils reduziert oder führen sogar zu kontraproduktiven Ergebnissen. Um Produktions- und Arbeitsprozesse effizient, zirkulär und bedürfnisorientiert zu gestalten, ist daher auch die Betrachtung von Konsistenz- und Suffizienzpotentialen notwendig. Konsistenzstrategien können im jetzigen Wirtschaftssystem direkt anknüpfen, während Suffizienzstrategien einen Wandel politischer, persönlicher und betrieblicher Einstellungen zum Wirtschaften voraussetzen. Eine Möglichkeit, wie die Digitalisierung zu mehr Nachhaltigkeit verhelfen kann, ist der Einsatz von digitalen Zwillingen: Simulationen können die Nachhaltigkeitswirkung und ggfls. negative Auswirkungen frühzeitig erkennen und zu ihrer Vermeidung beitragen. Interessant ist auch, dass gerade Unternehmen mit hohem Digitalisierungsgrad bei der Einführung zirkulärer Geschäftsmodelle erfolgreicher und schneller bei der Umsetzung sind, wie Sarah Fluchs und Adriana Nelgan herausfinden konnten.
4. Fazit
Die perspektivischen Auswirkungen des kontinuierlichen Wirtschaftswachstums sind fatal. Daher ist die Abkehr vom ökonomischen Wachstumsdogma zur Einhaltung ökologischer Grenzen und für mehr Nachhaltigkeit dringend notwendig. Diese Erkenntnis ist nicht neu, sondern seit knapp 70 Jahren breiter wissenschaftlicher Konsens.
Die Forschungsergebnisse zeigen, dass die Digitalisierung KMU als Werkzeug bei dem Transformationsprozess zur Wachstumsunabhängigkeit und dem Fortbestehen als wachstumsunabhängiges Unternehmen unterstützen kann. Jedoch ist dafür eine kulturelle Neuausrichtung in Unternehmen, begleitet von entsprechenden politischen Maßnahmen, eine zentrale Voraussetzung. Es braucht Pioniere, die den Kulturwandel als elementare Ebene ohne Rücksicht auf den globalen wirtschaftlichen Wettbewerb durchsetzen, den Weg für weitere Unternehmen ebnen und sendungsbewusst zeigen, dass Wachstumsunabhängigkeit nicht in Widerspruch zu einer langfristigen, erfolgreichen Existenz steht.