Standpunkte

Wachstum über allem und in (fast) allem

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Der Koalitionsvertrag ist mit der Regierungsbildung jetzt Arbeitsprogramm. Er ist mit seinen 177 Seiten ein Programm, das von Umfang und Detailliertheit durchaus beeindruckend ist. In der Öffentlichkeit hat gerade dies zu dem Eindruck und zu der Kritik geführt, dass er keine Visionen biete.

Dabei gibt es eine Vision. In der Kurzfassung lautet sie: Wachstum und Wohlstand! Oder etwas ausführlicher:

  • „Eine neue Dynamik für Deutschland“;
  • Deutschland als wirtschaftlich starkes und sozial gerechtes Land, an dem alle teilhaben;
  • Ein Land mit gestärktem Zusammenhalt, in dem die Bürgerinnen und Bürger sicher und gut leben können;
  • Deutschland, das „noch gerechter, wirtschaftlich stärker, sicherer und lebenswerter in allen Regionen sein“ wird.

Wachstum soll Vollbeschäftigung und schließlich Wohlstand und Wohlergehen sichern.

Viele angesprochene Themenbereiche (von der Bildung über Energie bis zum Verkehr) werden in den Augen der neuen Regierung vom Wachstum profitieren. Gleichzeitig sollen diese Themenbereiche ihrerseits zum Wachstum beitragen: Die Kultur-und Kreativitätswirtschaft soll dem Innovationsstandort Deutschland nutzen; bessere Bedingungen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sollen den Anteil der Frauen im Erwerbsleben erhöhen und damit einen wesentlichen Beitrag zur Fachkräftesicherung leisten. Die Wahrung der Wettbewerbsfähigkeit und weiterer technischer Fortschritt, v. a. die Digitalisierung, sollen den wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands sichern. Die neue Regierung will für eine Umwelt-Klimapolitik stehen “die die Bewahrung der Schöpfung und den Schutz natürlicher Ressourcen mit wirtschaftlichem Erfolg und sozialer Verantwortung erfolgreich verbindet“- und so nachhaltiges Wachstum ermöglicht.

Und was ist, wenn sich diese Wachstumsvisionen nicht realisieren werden? Diese Möglichkeit ist im Koalitionsvertrag nicht vorgesehen, niemand scheint an einen Plan B zu denken. Gedanken an eine Postwachstumsgesellschaft kommen nicht vor.

Spurensuche über Wachstum hinaus

Wenn man – trotz des Wachstumscredos am Anfang und quer durch das Programm – Ansätze sucht, die in Richtung einer Postwachstumsgesellschaft gehen, so könnte man Folgendes dazu zählen: die Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Familie und variable Arbeitszeitregelungen, die Unterstützung von Modellen für eine CSA (Community Supported Agriculture), strengere Tierschutzregelungen, das Vorhaben, eine nationale Strategie zur Lebensmittelverschwendung zu erarbeiten, die Stärkung von Zivilgesellschaft und Ehrenamt. Doch das sind wirklich nur Spurenelemente.

Themen, die zu wirtschaftlichen Einbußen und Konflikten mit starken Wirtschaftsakteuren führen könnten, haben es nur dann in das Koalitionsprogramm geschafft, wenn sie in der Öffentlichkeit bereits starke politische Resonanz gefunden haben (Hühnerhaltung, Bienensterben, Glyphosat) – vor allem dank Aktivitäten der Verbände und Zivilgesellschaft. Und auch hierzu werden die Themen nur punktuell aufgegriffen und nicht als Anstoß für eine Neuorientierung – z. B. der Landwirtschaft. Auch haben Themen dann politische Chancen, wenn sie ihren Weg in die Praxis bereits gefunden haben (wie CSA und Car-Sharing), sie werden von der Politik als alternative Fundstücke aufgesammelt und integriert.

Dieses ernüchternde Fazit überrascht nicht, es wäre bei Jamaika kaum anders ausgefallen. Die Politik setzt auf eine Karte, nämlich Wachstum. Sie arbeitet minutiös ab, wie inkrementell mit Wachstum eine Verbesserung der Lebensumstände in Deutschland erreicht werden kann. Die großen Herausforderungen globale Gerechtigkeit und planetare Grenzen sowie die damit verbundene Große Transformation der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft bleiben weitgehend außen vor. Oder sie werden so dargestellt, als ob sie mit einem leicht modifizierten Weiter-so harmonisch zu bewältigen wären.

Vielleicht ist die von den Parteien angekündigte eigene Erneuerung eine Chance zu langfristigeren und offeneren anderen Perspektiven – auch über das Wachstumszeitalter hinaus, dessen Ende sich ohnehin abzeichnet. In der Wissenschaft und in der Praxis wird an solchen Perspektiven weiter gearbeitet werden – zumindest im Kontext der Themen Postwachstum und Degrowth. Teil davon muss ein verstärkter Transfer in die Politik sein, damit diese nicht weiter im überholten Wachstumsglauben der vergangenen Jahrzehnte stehen bleibt.

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