Neues aus der Wissenschaft

Von der Postwachstumsgesellschaft zur Suffizienzpolitik

Kommentare 3

Landkarte Suffizienzpolitik neu

„Postwachstum“ war 2010, als unser Buch Postwachstumsgesellschaft (Seidl, I./Zahrnt, A.) erschien, noch ein völlig unbekannter Begriff. Heute ist Postwachstum zwar in vielen Ländern (erzwungene) Realität, aber diese Situation wird offiziell als vorübergehendes Phänomen eingeschätzt, das mittels der üblichen wachstumsfördernden Maßnahmen überwunden werden soll – mit staatlicher Investitionsförderung und Infrastrukturprogrammen, Konsumförderung und einer investitionsfördernde Geldpolitik.

Weitere staatliche Ausgaben stoßen aber bei der hohen Staatsverschuldung an Grenzen. Die (traditionelle) Geldpolitik verfügt kaum noch über wirksame Instrumente. In Normalzeiten undenkbare Alternativen (negative Zinsen, Helikoptergeld u.a.) werden ernsthaft diskutiert und sogar in Ansätzen erprobt. Innerhalb der Debatte um eine säkulare Stagnation werden weitere Maßnahmen gegen die Wachstumsschwäche forciert. Andere (wenige) Politiker/innen, Wissenschaftler/innen und Wirtschaftspraktiker/innen beginnen, sich mit der gegebenen Situation als mögliche längerfristige Perspektive auseinanderzusetzen – einer Wirtschaftsentwicklung unter minimalen Wachstumsbedingungen. Eine längerfristige Schrumpfung als mögliche Entwicklung bleibt offiziell weiterhin ausgeblendet.

Aber die Diskussion über eine Postwachstumsgesellschaft findet in der Zivilgesellschaft inzwischen verstärkt statt – sei es bei den Degrowth-Konferenzen (wie jetzt im September 2016 in Budapest), in verschiedenen Initiativen und Projekten und auch auf diesem Blog.

Dabei war Konsum als Wachstumsmotor der Industriegesellschaften von Anfang an ein zentrales Thema der wachstumskritischen Debatte, sowohl in der theoretischen Diskussion wie auch in der Praxis mit individuellen Ansätzen für nachhaltige Lebensstile und gemeinschaftlichen Projekten. Auch in der Nachhaltigkeitspolitik ist das Thema verankert. Nachhaltige Produktions- und Konsumstile – die weltweit verallgemeinerungsfähig sind – zu entwickeln und umzusetzen, ist ein wesentliches Element einer nachhaltigen Entwicklung und ein Ziel der Sustainable Developoment Goals der Vereinten Nationen, die im Herbst 2015 verabschiedet wurden.

Obwohl Nachhaltigkeitsstrategien auf den Prinzipien von Effizienz, Konsistenz und Suffizienz fußen, haben sich Politik und Forschung allerdings bisher auf die Frage konzentriert, mit welchen Effizienzstrategien Nachhaltigkeitsziele erreicht werden können. Die Suffizienz, mit ihren Fragen nach einem Wieviel und Wozu der Produktion, blieb außen vor – auch weil Suffizienz mit dem inhärenten „Weniger“ in einem Spannungsfeld oder Widerspruch steht mit dem Wachstumsziel des „Mehr“.

Suffizienz: Aus Praxis und Theorie zum politischen Handlungsfeld

Aber das Thema Suffizienz gewinnt zunehmend an Aufmerksamkeit: Zum einen ist das gesellschaftliche Interesse an anderen Lebensstilen gestiegen und zum anderen haben Forschungen gezeigt, dass ein sorgloser Umgang mit effizienten Produkten, erhöhte Produktansprüche und erhöhte Produktzahlen Effizienzgewinne schnell zunichtemachen können (Reboundeffekt). Das dämpft den Optimismus, dass Effizienz als Strategie ausreicht. Es wächst die Erkenntnis, dass die Transformation zur Nachhaltigkeit nicht allein mit naturwissenschaftlich-technischen Veränderungen zu erreichen sein wird, sondern soziale und strukturelle Änderungen notwendig sein werden.

Folglich ist es nötig, nicht nur die Förderung von Effizienz sondern auch von Suffizienz als politisches Handlungsfeld zu verstehen und hierfür politische Strategien zu entwickeln. Mit dem Buch „Damit gutes Leben einfacher wird – Perspektiven einer Suffizienzpolitik“ haben Uwe Schneidewind und ich deshalb 2013 das Themenfeld der Suffizienzpolitik strukturiert und politisches Handeln gefordert.

Suffizienzpolitik reicht in zahlreiche Politikfelder hinein – in die Verbraucher- und Verkehrspolitik genauso wie in Stadtplanung, Gesundheits- und Sozialpolitik, in Wettbewerbsordnung und Steuerrecht. Suffizienzpolitik kann ebenso auf kommunaler Ebene ansetzen wie auf europäischer. Suffizienzpolitik ist ein neuer Politikansatz, er sollte experimentellen Wegen Raum geben und partizipativer Gestaltung Möglichkeiten und Zeit geben.

Suffizienzpolitik ist aber nicht nur ein komplexes Feld, sondern auch ein kommunikativ anspruchsvolles und kontroverses Thema. Denn die Neugestaltung der politischen Rahmenbedingungen zugunsten nachhaltiger Lebensstile kann auch eine Einschränkung für nicht-nachhaltige Verhaltensweisen bedeuten, z.B. wenn Fuß- und Radverkehr mehr Raum bekommen sollen. Dies sind in der Politik geläufige Aushandlungsprozesse, im Bereich der Suffizienzpolitik sind sie aber oft emotional aufgeladen, wenn es um den Abbau von Privilegien und gleichberechtigten Zugang geht.

Vom Politikfeld zu konkreten Strategien: die Landkarte Suffizienzpolitik

Strategien des Wandels brauchen gute Argumente und positive Bilder für das Ziel des Wandels – und sie brauchen Akteure. Um Akteure aus Zivilgesellschaft und Politik zu unterstützen, sich in diesem neuen und komplexen Feld zu orientieren, erfolgreich zu kommunizieren und vor allem politisch zu agieren, haben wir (Dominik und Angelika Zahrnt) das Buch zur „Suffizienzpolitik“ in eine digitale Landkarte übersetzt.

Zielgruppe sind Akteure aus Zivilgesellschaft, Politik und Wirtschaft, die bereits mit dem Thema vertraut sind, die Suffizienzpolitik voranbringen und auch eigene Strategien entwickeln wollen. Durch die digitale Form richtet die Landkarte sich insbesondere auch an jüngere Akteure, die Freude an neuen Formen der Kommunikation und des Zusammenarbeitens haben.

Die digitale „Landkarte Suffizienzpolitik“ wurde heute auf dem Blog Postwachstum anlässlich der 5. Internationalen Degrowth-Konferenz in Budapest veröffentlicht, am 1. September wird sie dort im Rahmen einer Session vorgestellt. Mit der Landkarten soll der rege Austausch über suffiziente Lebensstile und Projekte um die politische Dimension der Suffizienz erweitert werden. Über den Blog möchten wir zu Diskussionen und Aktionen im Bereich der Suffizienzpolitik einladen, diese mit Ihnen diskutieren und zu Reflektionen über die Verbindung mit der Debatte um die Postwachstumsgesellschaft anregen.

Weitere Informationen zur Landkarte finden Sie hier.

Prof. Dr. Angelika Zahrnt ist Ehrenvorsitzende des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und war von 1998 bis 2007 Vorsitzende. Von 2001 bis 2013 war sie Mitglied im Rat für Nachhaltige Entwicklung der deutschen Bundesregierung und im Strategiebeirat Sozial-ökologische Forschung des deutschen Bundesforschungsministeriums. Seit 2010 ist sie Fellow am Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW). Sie hat zahlreiche Publikationen veröffentlicht, u.a. zu den Themenbereichen Nachhaltigkeit, Produktlinienanalyse, Ökologische Steuerreform, Ökologie und Ökonomie, Frauen und Ökologie. Sie war u.a. Initiatorin der Studien „Zukunftsfähiges Deutschland“ (Basel 1997 und Frankfurt a.M. 2008). Zusammen mit Irmi Seidl ist sie außerdem Herausgeberin des Buches „Postwachstumsgesellschaft - Konzepte für die Zukunft“ und Mit-Initiatorin des Blogs Postwachstum.de. Mit Uwe Schneidewind hat sie das Buch „Damit gutes Leben einfacher wird – Perspektiven einer Suffizienzpolitik“ geschrieben. 2006 und 2013 wurde ihr das Bundesverdienstkreuz verliehen und 2009 der Deutsche Umweltpreis.

3 Kommentare

  1. Gerhard Lohß-Göres sagt am 5. November 2020

    Auch ich begrüße die oben aufgeführten Begriffe wie Suffizienz, Konsistenz, eben nicht nur die einzige Zielrichtung Effizienz. Bin zur Zeit an einer Petition zur Änderung des Wachstums- und Stabilitätsgesetzes und kenne den Gedanken der postindustrielllen Gesellschaft schon seit den 80ern. Es war ein biologisch- dynamisch arbeitender Berater, der Herr Oswald Hitschfeld, der ihn erfand, fand, zu einem Begriff für mich machte. Er schrieb die empfehlenswerte Abhandlung „Der Kleinsthof“ und spricht dabei von einer nachindustriellen Selbstversorgung, die sich an den Erfahrungen der Industriegesellschaft orientiert. Er will ausdrücklich nicht zurück zur vorindustriellen Selbstversorgergesellschaft.
    Das scheint dem modernen Menschen sehr fremd, ist aber sicher bedenkenswert. Ich selber habe mich an dieser Leitlinie entlang bewegt jetzt über 30 Jahre, konnte sie nie ganz über Bord werfen und halte sie heute im „Hier und Jetzt“ für sehr passend zur Idee von regional, saisonal, biologisch und ressourcenschonend. Projekte wie die SoLawi sind dem viel näher als die meisten Biohöfe. Das ist nämlich zukünftig für die, die Veränderungen wollen und offen sind für eine Abkehr vom Wachstum des BIP, was dann letztlich tatsächlich nur über ein solides Minuswachstum in den überentwickelten Industriestaaten zu erreichen ist.
    In diesem Sinne frage ich: soll die Erde kippen oder ein nicht zu Ende gedachtes System, das sich über kurz oder lang so oder so den eigenen Ast absägt, nämlich den auf dem es gewachsen ist?
    Wenn nicht jetzt, wann dann darüber weiter nachdenken und umsetzen? Wer meint, das sei eine Ökodiktatur, der möge mal die Wachstumsstrategien zu Ende denken. Die Erde ist zu einem ganz anderen Diktat fähig, wenn der Mensch sich nicht ihren begrenzenden Bedingungen anpaßt. Aus Fehlern kann man lernen.
    Wer A sagt, muß nicht B sagen, wenn er merkt, dass A falsch war.

  2. Hans Nieleck sagt am 13. Februar 2017

    Die Dimension Suffiziens müsste noch großer sein. Wieviel Menschen verträgt Deutschland? Wir brauchen mehr Wildnis für Vögel und andere Tiere, größere zusammenhängende Waldbereiche, eine effizientere Mülltrennung und besseres Recyclen, klügeres Landwirtschaften ohne Pestizide, ohne künstliche Dünger, mehr Wissenschaftliche Forschung über was für uns verträglich ist, nur noch „erneuerbare“ Energien usw. Die Gier nach Geld und Macht wird aber zu groß sein

  3. Alles was in dem Artikel steht ist richtig, bleibt aber auch vage. Die für Ökosystem, Lebensqualität und Gesellschaft zu dringend nötige Suffizienz ist nicht nur eine politische Frage, die Politik kann das nur durch durch Setzen der richtigen Rahmenbedingungen und Beseitigen von rechtlichen Hemmnissen begünstigen (etwa freiwilliger Verzicht auf Erwerbsarbeit, Strohballenhäuser, Homeschooling). Vor allem muss die Mehrheit der Menschen aber mitmachen. Und dazu müssen einige ideologische Grenzen überwunden werden. Suffizenz und Nachhaltigkeit bedeutet: Wohnen auf 12 Quadratmetern in großen Häusern und mit sparsamem Heizen, Verzicht auf jegliche motorisierte Mobilität, nichts neu kaufen außer Essen. Leider empfinden die meisten das derzeit als Zumutung, weil sich nach vielen Jahrzehnten von Überfluss und Wachstum nun Gier und Verlustangst fest eingeprägt haben. Aber wenn die Menschheit zukunftsfähig sein will ist eine Beschränkung auf das materiell wirklich nötige unumgänglich – im Gegenzug gewinnt man Zeitwohlstand, Freiheit und Resilienz, mit etwas Glück sogar überall ein freundliches Miteinander.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.