Der Wachstumsimperativ ist naturgegeben
Meist geht es nicht um eine Ja/Nein-Entscheidung, Wachstum oder kein Wachstum, sondern um Geschwindigkeiten: das Tempo mit dem neue Schulden aufgenommen werden, die Rate mit der das BIP vergrößert wird. Oft ist auch hier die Umwelt Taktgeber. Interessanter sind jedoch Regulierungsinstrumente, die vom Organismus selbst ausgehen.
Nach einer Phase der Unterversorgung oder bei einer Verletzung können viele Lebewesen die Wachstumsgeschwindigkeit örtlich und/oder zeitlich begrenzt erhöhen, bis der vorher entstandene Nachteil ausgeglichen ist (Dmitriew, 2011). Sogar eine partielle Beschleunigung ist möglich: Manche Pflanzen drehen ihre Blätter zum Licht hin, indem eine Blattseite schneller wächst, als die andere. Tatsächlich entspricht die real beobachtete Wachstumsgeschwindigkeit praktisch nie dem physiologisch möglichen Maximum. Es findet ein Tradeoff statt zwischen Kosten und Nutzen, den jedes Unternehmen kennt. Er ist gleichzeitig Schrittmacher und Bremse für das Streben nach Größe. Ich könnte nun die Entropie als universelle Triebkraft bemühen. Sie ist eine grundlegende thermodynamische Größe, beschreibt die Nutzbarkeit von Energie und kann nur größer, aber niemals kleiner werden. Stoffwechsel und Wachstumsvorgänge laufen demnach deshalb ab, weil sie mit einer Umwandlung von hochwertiger chemischer Energie in minderwertige Wärmeenergie einhergehen, bei der sich die Entropie vergrößert. Das Konzept wird übrigens auch außerhalb der Physik, etwa in der Informationstheorie, eingesetzt und wurde von Nicholas Georgescu-Roegen auf die Ökonomie übertragen (z. B.Gowdy and Mesner, 1998). Und weiter könnte ich die Ausdehnung des Universums als Indiz dafür anführen, dass alles immer größer werden muss. Ich beschränke mich aber auf eine evolutionsbiologische Argumentation, die überdies leicht auf ökonomische Zusammenhänge übertragbar ist: Wie schon mehrfach angedeutet, geht Wachstum in der Regel mit der Entwicklung von physischer Stärke und Durchsetzungskraft einher, und wer stärker ist, hat leichteren Zugang zu Ressourcen und ist weniger angreifbar. Größe ist im Wettbewerb folglich häufig ein Vorteil, der die Weitergabe des Merkmals an zukünftige Generationen begünstigt. Dadurch werden große Individuen mit der Zeit immer häufiger und es entsteht ein Druck, noch größer zu werden, um wiederum den Wettbewerbsvorteil zu erhalten (Dmitriew, 2011).
Wir leben nicht mehr in Höhlen. Und trotzdem…
Sind wir also von der Natur getrieben und können gar nicht anders, als immer mehr wollen, weil das Streben nach Wachstum ein natürlicher Grundzustand ist? Das ist zu flach argumentiert, schließlich leben wir nicht mehr in Höhlen. Und trotzdem gibt es beeindruckende Indizien dafür, dass auch anthropogenes Wachstum einer übergeordneten Regulation unterworfen ist. Eines davon ist die Entwicklung der Weltbevölkerung. Mit der Industrialisierung und den damit verbundenen Neuerungen in Landwirtschaft und Hygiene hat eine beispiellose Bevölkerungsentwicklung ihren Lauf genommen und wann immer die Umwelt dem Wachstum ein Ende setzen wollte, fanden wir Mittel und Wege, uns der Limits zu entledigen. Die Folge war ein exponentielles Wachstum, das charakteristisch ist für Populationen mit unbegrenztem Zugang zu Ressourcen. Eine andere das Gefühl, Herr über die Natur und unbesiegbar zu sein.
Zieht man aber Prognosen für die nächsten Jahrzehnte hinzu, wie Jorgen Randers in seinem Bericht „2052“ an den Club of Rome, (Randers, 2012, S. 88), so wird klar, dass die exponentielle Phase vorbei ist, das Wachstum ab Mitte des Jahrhunderts{Randers, 2012, 2052. Eine globale Prognose für die nächsten 40 Jahre.} stagniert und in spätestens 100 Jahren die Bevölkerung bezogen auf die gesamte Welt wieder schrumpfen wird. Vom exponentiellen Modell gehen wir zum logistischen über, einem Wachstumsmodell mit dem sich die Populationsentwicklung praktisch jeder langlebigen Tier- und Pflanzenart auf der Erde beschreiben lässt. Der Mensch ist eine davon. Die drastische Bevölkerungsentwicklung hört aber nicht auf, weil wir an die Grenzen der Umwelt stoßen. Nein. Sie hört auf, weil sich durch Urbanisierung und steigende Bildungsstandards, insbesondere bei Frauen, weltweit die Lebensbedingungen so verändern, dass es günstiger ist, wenige Kinder zu haben. Zusätzlich erhöhen ein gutes Gesundheitssystem und hygienische Standards die Überlebenschancen dieser Kinder, so dass eine Altersabsicherung der Eltern mit weniger Kindern gewährleistet ist, als noch vor 100 Jahren. Man könnte sagen, wir haben unsere Umwelt so verändert, dass sie bremsend auf unsere Fortpflanzung wirkt. In den Industriestaaten sind die Bevölkerungszahlen längst rückläufig. In wenigen Jahrzehnten werden die Entwicklungs- und Schwellenländer nachziehen. Nur ist das alles andere als ein von uns Menschen gesteuerter und kontrollierter Wandel. Die Wachstumsbremse ist unserer natürlichen und kulturellen Evolution geschuldet.
Die Natur regelt das. Aber das sollten wir nicht wollen.
Für die wirtschaftliche Entwicklung ergibt sich daraus aber keine Entwarnung. Bis das Schrumpfen der Weltbevölkerung sich entlastend auf die Erde auswirkt, sind die oben erwähnten Grenzen der Umwelt längst überschritten und schränken die ökonomische Aktivität ein. Imperativ hin oder her. Die Frage, die durch die Klimadebatte aufgeworfen und durch das Pariser Abkommen – eigentlich – klar beantwortet wurde, ist aber: Wollen wir es soweit kommen lassen? Legen wir es darauf an, dass sich die Tragfähigkeit unseres Lebensraumes dramatisch verringert, werden die Verteilungskämpfe und sozialen Verwerfungen, mit denen wir bereits jetzt konfrontiert sind, ein Ausmaß annehmen, das die Weltbevölkerung zahlenmäßig auf ein weitgehend unschädliches Maß reduziert – ganz simpel ökologisch ausgedrückt.
Felix Ekardt spricht aus, was kein Politiker zu sagen wagt (Die Zeit vom 23.02.16) [1]: Die Klimaziele sind nur einzuhalten, wenn sich die ganze Welt in Genügsamkeit übt. Höchstwahrscheinlich jedenfalls. Und Genügsamkeit heißt weniger Konsum, heißt weniger Produktion, heißt weniger Bruttoinlandsprodukt. Ergo: weniger Wachstum. Günstig, dass gerade ohnehin das Wirtschaftswachstum weltweit schwächelt, und wie eingangs erwähnt, ist das möglicherweise keine vorübergehende Erscheinung [2]. Die Märkte in der westlichen Welt sind gesättigt und unsere zuverlässigsten Abnehmer in den Schwellenländern sind dabei, selbst zu Produzenten aufzusteigen. Während dort die Wirtschaft vorerst noch weiter wächst – mit verheerenden Folgen in Bezug auf die Zwei-Grad-Idee – beschwört die Politik hier qualitatives Wachstum. Dahinter verbirgt sich der etwas unbeholfene Versuch von der eigenen Ratlosigkeit abzulenken. Wachstum ist per Definition ein quantitativer Prozess: Von irgendwas ist nachher mehr da, als vorher; Zellen, Spatzen, Güter. Das qualitative Pendant dazu – nachher ist etwas anderes da, als vorher – heißt Entwicklung; vom Affen zum Menschen, vom Rauchzeichen zum Mobiltelefon. Unter Wirtschaftswachstum versteht man nun eng gefasst den rein quantitativen Zuwachs in der gesamtwirtschaftlichen Produktion. Man kann den Begriff aber auch weiter fassen und den Zuwachs an gesellschaftlichem Wohlstand, die Verbesserung der Lebensqualität und die Schonung der Umwelt mit einschließen. Dieser zweite Teil ist das qualitative Wachstum [3], das bisher aus den Mitteln des quantitativen Wachstums finanziert wird. Dass Wirtschaft und Politik zwei an sich scharf abgrenzbare Phänomene in einem Begriff zu vereinen suchen, überrascht deswegen gar nicht. Dadurch entsteht eine Grauzone, die Märkte befriedet und Konsumenten beziehungsweise Wähler davon ablenkt, dass eine überzeugende Marschroute, entlang derer Wachstum von Ressourcenverbrauch und Schadstoffproduktion „abgekoppelt“ werden kann, bislang fehlt.
Herman E. Daly legt in Randers Prognose „2052“ dar, dass Wirtschaftswachstum bereits heute mehr kostet, als es einbringt. Er äußert sich verwundert darüber, dass die mikroökonomische Herangehensweise von Grenzkosten und Grenznutzen nie in die Makroökonomie übernommen wurde. Das ist leicht erklärt: Es ist der einfache Weg, weil niemand weiß, was nach dem Wachstum kommen könnte und der Lebensstandard einer großen Zahl von Menschen ohne Wirtschaftswachstum nicht zu halten ist. Niko Paech zeichnet eine Welt, in der alle Fahrrad fahren und jeder seine Waschmaschine selber repariert (Paech, 2013). Zeit dafür ist genug, denn gearbeitet wird nur halbtags. Wie sehr sich der Einzelne in diesem Bild wiederfindet, dürfte von Fall zu Fall verschieden sein. Mehrheitsfähig ist das Modell momentan sicher nicht. Es ist also davon auszugehen, dass es weiterhin Bemühungen geben wird, ein irgendwie geartetes Wachstum zu erzeugen.
Kulturelle Evolution versus Imperativ
Was die Weltgemeinschaft nun also zu tun hat, ist nichts weniger als ihr passiv durch die Umwelt gesteuertes Wachstum in eines zu überführen, das eine (ehrliche!) Zielgröße enthält sowie das Werkzeug, um das Wachstum zu bremsen, wenn – oder besser noch bevor – es die Zielgröße erreicht. So ein Wachstum, aktiv gesteuert und einen Plan verfolgend, funktioniert, wie oben dargestellt, nur bei in sich geschlossenen Einheiten: Pflanzen, Tiere, Firmen. Dass die Weltgemeinschaft als so eine Einheit auftritt, ist neu. Jeder Schritt in diese Richtung, egal wie klein, ist entgegen aller Polemik ein guter Schritt. Die Einigung von Paris war so einer. Klein ist er indes nicht, denn es geht darum, einen nie dagewesenen Wandel einzuleiten, bei dem rationale und ethische Motive über einen unmittelbaren Trieb, die Gier nach mehr, gestellt werden. Kulturelle Evolution versus Imperativ.
Als starke Ökonomie mit dem Ruf des ökologischen Vorreiters steht Deutschland nun in exponierter Position. Die Weltgemeinschaft erwartet, dass wir Vorbildfunktion übernehmen. Kritische Stimmen sagen allerdings voraus, dass sich auch die deutschen Bemühungen darauf beschränken könnten, technische Neuentwicklungen als zentrale Lösung zu sehen, die ganz nebenbei Wirtschaftswachstum generiert. Das wäre ein fundamentales Missverständnis. Mindestens so dringend wie neue Energieinfrastruktur und CO2-Eliminierung braucht die Welt soziale und ökonomische Veränderungen, die ein Bewusstsein dafür schaffen, dass „mehr“ irgendwo ein Ende haben muss. Mit der sozialen Marktwirtschaft verfügt Deutschland bereits über einen brauchbaren Rahmen, der wirtschaftliche Interessen mit rational-moralischen Standards verbindet. Wir sollten das Erhard’sche Erbe darum so erweitern, dass es nicht nur den Menschen, sondern auch seine Lebensgrundlagen angemessen berücksichtigt. Das regulierende Eingreifen durch den Staat ist geboten, weil eine nach sozialen und ökologischen Kriterien sinnvolle Maßnahme in der Regel teurer sein wird, als andere und vom Markt deswegen nicht ausreichend (schnell) befördert wird.
Es bleibt also weiterhin die Frage, ob und wie es gelingt, ein Wirtschaftssystem zu etablieren, das mit moderatem Wachstum oder gar Stagnation auskommt und die „planetaren Leitplanken“ (das neue Mode-Schlagwort) respektiert. Die Green Economy [4] [5] ist die momentane Antwort der Welt – ein hoffnungsvoller Ansatz, dem sich bereits 65 Staaten verschrieben haben. Die Details der globalen Umsetzung bleiben allerdings nebulös. Eine wichtige Rolle spielen wird definitiv der Dienstleistungssektor, da in den Industriestaaten eine Entwicklung vom materiellen Besitz hin zur Nutzung von Services stattfindet. Leistungen im Betreuungs- und Pflegebereich werden dabei aufgrund der demographischen Entwicklung bei uns besonders an Bedeutung gewinnen. Nicht zuletzt deshalb wäre eine Aufwertung hier dringend geboten.
Global gesehen kommt urbanen Ökonomien eine besondere Stellung zu, da bis zur Jahrhundertmitte der Anteil der Weltbevölkerung, der in Städten lebt, um weitere 12 Prozent auf zwei Drittel anwachsen wird [6]. Wie die Stadt selbst, besteht auch eine Ökonomie aus künstlichen und natürlichen Anteilen in einer Mischung, die es noch nie gab. Daraus erwächst die Hoffnung auf Lösungen, die das Beste von beiden Teilen verbinden. Wenn Experten beider Disziplinen, Ökologie und Ökonomie, mit einem offenen Ohr füreinander zusammenarbeiten, dann können daraus tatsächliche Innovationen entstehen. Wobei eine Innovation nicht die neueste technische Errungenschaft ist, sondern schlicht ein Weg um existenzielle Probleme zu lösen.
Ich erwarte von Deutschland einen Entwurf für eine echte „innovative“, inklusive und auf eine lebenswerte Zukunft ausgerichtete Wirtschaftsweise, die den Imperativ überwindet und deren Horizont nicht an geographischen oder sozialen Grenzen orientiert ist. Neben aller politischen und ökonomischen Größe gehört dazu mit Sicherheit auch, der Welt ein bisschen Bescheidenheit vorzuleben.
Den ersten Teil des Artikels finden Sie hier.
[1] http://pdf.zeit.de/wirtschaft/2016-02/klimawandel-abkommen-paris-wachstum-umweltschutz-konsum.pdf
[2] http://www.zeit.de/2016/12/wirtschaftswachstum-stagnation-inflation-zins-theorien-notenbanken
[3] http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/lexikon-der-wirtschaft/21136/wirtschaftswachstum
[4] http://www.oekologisches-wirtschaften.de/index.php/oew/article/view/1300/1286
[5] http://drustage.unep.org/greeneconomy/what-inclusive-green-economy
[6] United Nations, 2014, World Urbanization Prospects – Highlights, New York, United Nations.
Dmitriew, C. M., 2011, The evolution of growth trajectories: what limits growth rate?: Biological Reviews, v. 86, p. 97-116.
Gowdy, J., and S. Mesner, 1998, The evolution of Georgescu-Roegen’s Bioeconomics: Review of Social Economy, v. LVI No.2, p. 136-157.
Randers, J., 2012, 2052. Eine globale Prognose für die nächsten 40 Jahre.: München, oekom Verlag.
Simonis, U. E., 1982, Qualitatives Wachstum – Schlagwort oder neue Perspektive?, Wirtschaft ohne Wachstum: Erfahrungen, Konsequenzen, Perspektiven. Tagung vom 5. bis 7. Mai 1982: Rehburg-Loccum, Evangelische Akademie Loccum, p. 84-109.
[…] Lesen Sie hier weiter: Mein Beitrag auf dem Postwachstumsblog des IÖW Vom Zwang zu wachsen I und Vom Zwang zu wachsen II. […]