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Vom Zwang zu wachsen I

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Disziplinübergreifendes Denken eröffnet Ansatz für zukünftiges Handeln

Verschiedene Gesichtspunkte legen nahe, dass der Drang nach „mehr“ in der Natur als Imperativ angelegt ist. Trifft das tatsächlich zu, so gewinnt der transdisziplinäre Austausch zwischen Ökonom/innen und Ökolog/innen noch einmal zusätzlich an Bedeutung. Mein Beitrag soll diese Verbindung auf einer theoretischen Ebene illustrieren. Das Thema Wachstum ist dabei nur eines von vielen möglichen Beispielen. Die unvoreingenommene Begegnung von Expert/innen aus Ökologie und Ökonomie ist essenziell für die Entwicklung von langfristig tragfähigen Wirtschaftsmodellen.

Wir sind sediert

Fünf Prozent und mehr solle die Wirtschaft wachsen, versprachen Präsidentschaftsbewerber beider Lager im US-Wahlkampf in den vergangenen Monaten. Angesichts der Tatsache, dass die amerikanische Wirtschaft im Durchschnitt der letzten fünf Jahre um kaum zwei Prozent gewachsen ist, eine eher gewagte Prognose. Aber das Argument zieht, denn mit dem Versprechen von Wachstum verbinden Menschen quer durch alle Schichten hindurch Wohlstand und Zufriedenheit. So ist auch in Europa die lockere Geldpolitik der EZB nichts anderes, als der Versuch, die Konjunktur in Schwung zu bringen, um Wachstum zu erzeugen.

Seit der Erfindung der Dampfmaschine waren die Industrienationen von stetigem Wirtschaftswachstum geprägt. In Deutschland wuchs die Wirtschaft in den beiden Jahrzehnten des Aufbaus nach dem Ende des zweiten Weltkrieges besonders stark, was nicht zuletzt die Etablierung der sozialen Marktwirtschaft maßgeblich befördert hat. Wir sind sediert von einem Optimismuspräparat, schreibt die Zeit im vergangenen Sommer [1]. „Es heißt: Mehr.“

Woher kommt diese unerschütterliche Überzeugung, dass alles immer mehr werden muss? Ist es Gewöhnung? Liegt es daran, dass viele, die heute leben, es gar nicht anders kennen? Der westliche Wohlfahrtstaat, soviel ist klar, basiert auf fortwährendem Wachstum. Robert Gordon, Ökonom an der Northwestern University in Illinois [2], sagt voraus, dass es damit jetzt vorbei ist. Er hält das Wachstum der vergangenen 200 Jahre für einen historischen Ausnahmezustand. Und er steht damit nicht alleine. Die Degrowth-Bewegung geht noch weiter: Ihre Vertreter/innen, darunter der Oldenburger Ökonom Niko Paech, fordern glasklar eine Beendigung des Wachstumsstrebens von politischer Seite.

„Die Natur kennt zwar Wachstumsgrenzen, aber Regulierungsinstrumente wie Schuldenbremse oder gesetzlich verordnete Wachstumsbeschleunigung sind ausschließlich Menschenwerk. Der Wachstumsimperativ ist alles andere als naturgegeben“, schreibt Elmar Altvater 2015 im Atlas der Globalisierung. Ist das so?

Aktives und passives Wachstum

Bäume, Pilze, Menschen wachsen – ganz von alleine. Sie tun das indem sie Ressourcen und Energie aus der Umwelt in ein Produkt umwandeln, ihre eigene Biomasse. Wie dieses Wachstum angetrieben wird, ist in ihrer DNA festgeschrieben, einer Art systeminherentem „Plan“. Das grundsätzliche Schema ist vom Schimmelpilz bis zum Flachlandgorilla das gleiche: Zellen teilen sich und durchlaufen dabei einen iterierenden Zyklus aus Ausdehnung, Aufspaltung und Differenzierung. Ein Produktionsbetrieb funktioniert genauso. Dort heißt der Plan „Strategie“, aber es wird gleichfalls aus Ressourcen ein Produktionsvolumen erzeugt, das mit der Zeit größer und differenzierter wird. Beide, Lebewesen wie ökonomischer Akteur, erschließen sich dadurch Zugang zu Ressourcen, die vorher unerreichbar waren und die weiteres Wachstum ermöglichen.

Wachstum kann aber nicht nur aktiv, von innen heraus angetrieben sein, sondern auch passiv, durch die Umwelt getriggert. Erinnern Sie sich an die Kristallzuchtexperimente in der Grundschule? Man hängt ein kleines Körnchen in eine farbige Flüssigkeit und Tage später zieht man einen Stein heraus? So werden heute Unmengen von Kristallen für die Elektronikindustrie gezüchtet. Und genau so wachsen zum Beispiel Städte. In beiden Fällen entscheidet der Zustand der Umwelt über das Wachstum: hier die Konzentration der Lösung, dort der niedrige Lebensstandard im ländlichen Raum inklusive der Hoffnung auf eine Verbesserung durch den Umzug in die Stadt. Auch das Wachstum von Städten benötigt Ressourcen, die die Umwelt bereitstellt. Während beim Kristall aber die Anlagerung der neuen Moleküle einem chemisch festgelegten Schema folgt, verläuft das Wachstum einer Stadt oft ohne Plan. Das liegt in erster Linie an einer brisanten Spannung: Die Schaffung von Infrastruktur für Wohnen, Ver- und Entsorgung sowie Hygiene hinkt der Zuwanderung systematisch hinterher. Im Gegenzug nehmen soziale Interaktion und Energieverlust überproportional schnell zu (Alberti, 2015). In den westlichen Metropolen schlägt sich diese Entwicklung in Form von steigenden Mietpreisen, Arbeitslosigkeit und Feinstaubbelastung nieder. Was urbanes Wachstum für Entwicklungs- und Schwellenländer bedeutet, dringt unter Namen wie Dharavi und Kibera zu uns durch. Die Slums dieser Welt sind kaum kontrollierbare Biotope, in denen von Seuchen über Armut und Schattenwirtschaft bis hin zur Kriminalität alles gedeiht, was die Industrienationen gerne verdrängen. Lediglich Anreize durch verbesserte Lebensbedingungen im ländlichen Raum könnten den Zustrom bremsen. Die aber sind gerade dort, wo es am dringendsten geboten wäre, nicht zu schaffen. Als Hybridräume aus künstlichen und natürlichen Teilen geben die urbanen Ballungsräume Wissenschaft und Politik viele Rätsel auf. Erst langsam entsteht ein Gefühl dafür, dass diese Ambivalenz nicht nur Last, sondern auch Chance ist, weil sie gewaltiges Innovationspotenzial enthält (Alberti, 2015; Pejchar et al., 2015).

Die Umwelt setzt das Limit

Altvater hebt mit seiner Aussage zum Wachstumsimperativ aber nicht nur auf Treiberkräfte ab, sondern spricht zumindest implizit auch den Punkt an, an dem Wachstum eben nicht mehr möglich ist. Die Bevölkerung einer Stadt ist ökologisch gesehen eine Population, so wie ein Schwarm Fische oder eine Gruppe Spatzen im Park. Oftmals entscheidet, wie oben dargelegt, schlicht die Umwelt, wie weit die Population wachsen kann: Solange alle Spatzen satt werden und jeder ein Plätzchen für sein Nest findet, wird die Gruppe größer. Werden aber die Ressourcen knapp, müssen diejenigen weichen, die im Wettbewerb ihren Anspruch auf die Ressource vor Ort nicht verteidigen können. Die Umwelt hat Kapazitäten, um eine bestimmte Populationsgröße zu unterhalten und langfristig ist es nicht möglich, diese Umweltkapazität zu überschreiten. Das ist der Kern des stark strapazierten Begriffs „Nachhaltigkeit“.

Auch beim Wachstum mancher Organismen setzt die Umwelt das Limit: Bäume wachsen unendlich weiter. Theoretisch. Praktisch wachsen sie solange der Transport von Nährstoffen und Wasser durch den Stamm funktioniert, was maßgeblich vom Zusammenspiel von Leitsystem und Umweltgrößen wie Klima und Bodenbeschaffenheit abhängt (Ryan and Yoder, 1997). Ökonomisch gesehen eine Binsenweisheit: Wenn die Infrastruktur einer Organisation nicht ausreicht, um deren Versorgung zu gewährleisten, kommt das Wachstum zum Erliegen. Auf der Ebene des einzelnen Organismus entsteht hier aber ein Spielraum, den eine Population in dieser Form nicht hat: Manche Bäume können bis in größere Höhe wachsen, weil es ihnen gelingt, zusätzlich zum Wasser aus dem Boden Feuchtigkeit aus den Wolken aufzunehmen (Burns Limm et al., 2009). Der Plan, die DNA, hat sich dahingehend verändert, weil es mit einem Vorteil verbunden war. Durch Veränderung der Infrastruktur wird Wachstum wieder möglich.

Hochentwickelte Systeme planen das Ende ein

Im Verlauf der Höherentwicklung von Lebewesen wird die passive, umweltabhängige Wachstumsregulierung durch einen aktiven Vorgang ersetzt. Viele Tiere haben eine genetisch festgelegte Größe, die sich im Laufe der Evolution als die günstigste erwiesen hat. Das bedeutet, nicht nur Antrieb und Ablauf des Wachstums sind in der DNA fixiert, sondern auch sein Ende. Außerdem enthält die DNA Baupläne für das Werkzeug, mit dessen Hilfe bei Erreichen der Zielgröße dieses Ende planvoll herbeigeführt wird. Hefezellen messen zum Beispiel die Konzentration eines Stoffes im Zellinnenraum (Schmoller et al., 2015). Wird die Konzentration durch die Verdünnung beim Wachsen zu niedrig, stoppt die Zelle das Wachstum und teilt sich. Die Zelle ermittelt also eine Größe, ab der weiteres Wachstum unwirtschaftlich wird und reagiert darauf. Ein Unternehmen tut das auch. Es misst den Grenzertrag. Sinkt er, werden zusätzliche Investitionen unrentabel und eine strukturelle Veränderung wird eingeleitet – zum Beispiel die Auslagerung einer Sparte in eine Tochtergesellschaft. Hier wie dort ist also nicht nur der Antrieb, sondern auch ein Regulierungsinstrument von Anfang an eingeplant. Disziplinübergreifend handelt es sich dabei in fast allen Fällen um positives oder negatives Feedback beziehungsweise um eine Aufspaltung.

In Bezug auf den Imperativ stellt sich nun die Frage, inwiefern eine solche Wachstumsbegrenzung dauerhaft ist. Dauerhaft in dem Sinn, dass sie nicht überwunden oder zurückgenommen werden kann. Der Neurobiologe Frank Bradke vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen in Bonn vergleicht das Wachstum einer Nervenzelle mit einer Autofahrt: Es gibt einen Motor, eine Bremse und Stoppschilder, die regeln, wann das Auto fahren darf und wann nicht. Die Stoppschilder sind Substanzen, die der Organismus ausschüttet, wenn die Zielgröße erreicht ist. Der Motor aber läuft weiter. Und werden die Stoppschilder entfernt, wächst die Zelle wieder. So wird zum Beispiel die Reparatur von Verletzungen möglich, aber auch Tumoren sind das Ergebnis – fälschlich – entfernter Stoppschilder. Passiv regulierte Wachstumsprozesse reagieren ähnlich, wenn die Limitierung durch die Umwelt aufgehoben wird: Die Spatzenpopulation wächst wieder, wenn Hecken als zusätzliche Brutplätze entstehen; der Kristall wird größer, sobald man die Salzkonzentration in der Lösung erhöht; der Baum wächst, wenn wieder Wasser und Nährstoffe zur Verfügung stehen. In all diesen natürlichen Systemen ist Wachstum also kein Prozess, der unter Aufwendung von Kraft an- und anschließend wieder abgeschaltet wird. Was nicht heißt, dass Wachstum kein Kraftakt ist, ganz im Gegenteil, aber Wachstum hat bei der Ressourcenzuweisung in der Natur hohe Priorität. Es scheint so etwas wie der „Grundzustand“ zu sein, der gedrosselt werden kann, wenn die Umstände es verlangen, und der mit Aufhebung der Hemmung wieder hergestellt wird. Das kommt meiner Vorstellung von einem Imperativ schon recht nahe.

Den zweiten Teil des Artikels finden Sie in Kürze hier.


[1] http://www.zeit.de/2015/32/wirtschaftswachstum-krise

[2] http://www.zeit.de/2016/12/wirtschaftswachstum-stagnation-inflation-zins-theorien-notenbanken


Alberti, M., 2015, Eco-evolutionary dynamics in an urbanizing planet: Trends in Ecology & Evolution, v. 30, p. 114-126.

Burns Limm, E., K. A. Simonin, A. G. Bothman, and T. E. Dawson, 2009, Foliar water uptake: a common water acquisition strategy for plants of the redwood forest: Oecologia, v. 161, p. 449-459.

Paech, N., 2013, Befreiung vom Überfluss: München, oekom Verlag.

Pejchar, L., S. E. Reed, P. Bixler, L. Ex, and M. H. Hockrin, 2015, Consequences of residential development for biodiversity and human well-being: Frontiers in Ecology and Environment, v. 13, p. 146-153.

Ryan, M. G., and B. G. Yoder, 1997, Hydraulic limits to tree height and tree growth. What keeps trees from growing beyond a certain height?: BioScience, v. 47, p. 235-242.

Schmoller, K. M., J. J. Turner, K. and J. M. Skotheim, 2015, Dilution of the cell cycle inhibitor Whi5 controls budding-yeast cell size: Nature, v. 526, p. 268-272.

Simonis, U. E., 1982, Qualitatives Wachstum – Schlagwort oder neue Perspektive?, Wirtschaft ohne Wachstum: Erfahrungen, Konsequenzen, Perspektiven. Tagung vom 5. bis 7. Mai 1982: Rehburg-Loccum, Evangelische Akademie Loccum, p. 84-109.

Dr. Stefanie Geiselhardt hat in Freiburg Biologie studiert und wurde dort am Lehrstuhl für Evolutionsbiologie und Ökologie promoviert. Seit 2010 arbeitet sie in Berlin als selbstständige Redakteurin für Umwelt- und Wissenschaftskommunikation. Besonders am Herzen liegen ihr dabei Themen, die sich mit der Entwicklung einer langfristig tragfähigen Wirtschaft und Gesellschaft befassen. Mehr Informationen unter www.stefanie-geiselhardt.de

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