Modellierte Szenarien für ein klimaneutrales Europa gibt es inzwischen einige. Die meisten fokussieren stark auf technische Lösungen, im Zentrum steht der Ausbau der Erneuerbaren Energien sowie der entsprechenden Infrastruktur. Durch Sektorenkopplung wird sowohl im Wärme- als auch im Vekehrssektor viel Erneuerbarer Strom genutzt: Wärmepumpen und Elektroautos sorgen dafür, dass auch im Wärme- und Vekehrsbereich klimaneutraler Wind- und Solarstrom genutzt werden kann. Durch die höhere Effizienz von direkten Stromanwendungen sinkt in fast allen Szenarien auch der Endenergieverbrauch im Vergleich zu heute. Wir verbrauchen also weniger, bei gleichem Nutzen.
Um die dafür nötige Energie zu erzeugen, müssen die Ausbauraten für Solar und Wind sowie für das Netz in Deutschland höher als je zuvor sein, dahingehend sind viele der Modellergebnisse konsistent. In den meisten der Szenarien wird zusätzlich der Import von Energieträgern wie Wasserstoff, Ammoniak oder anderen E-Fuels notwendig und meist wird CCS (Carbon Capture and Storage) für die schwer vermeidbaren Prozessemissionen, z.B. von Zement eingesetzt.
Selten wird jedoch die Frage nach einer Reduktion der Service-Nachfrage gestellt. Damit gemeint sind z.B. die beheizte Fläche, die gefahrenen und geflogenen Kilometer, die Frachtkilometer, die Mengen an Stahl und Zement, die benötigt und produziert werden und auch der Konsum von Lebensmitteln. Hier setzt das Szenario CLEVER (Collaborative Low Energy Vision for the European Region) an [1]. Auch dieses Szenario für ein klimaneutrales Europa setzt auf hohe Wind- und Solar-Ausbauraten, Elektrifizierung etc., es ergänzt diese technischen Lösungen aber noch um Suffizienzstrategien, die die Service-Nachfragen reduzieren. Mit der dadurch erzielten absoluten Reduktion des Endenergieverbrauchs können Effizienz und Erneuerbare ihre volle Wirkung entfalten.
Für das europäische Gesamt-Szenario wurden von den jeweiligen beteiligten Länderexpert*innen Szenarien erstellt. Fachliche Arbeitsgruppen zu Gebäude, Verkehr, Industrie und Landwirtschaft erarbeiteten Korridore für verschiedene Indikatoren in den jeweiligen Nachfrage-Sektoren – ein Ansatz, um den Suffizienzgedanken aus planetaren Ober- und sozialen Untergrenzen abzubilden. Solche Ober- und Untergrenzen wurden beispielsweise festgelegt für den durchschnittlichen Wohnraum pro Person oder die gefahrenen Kilometer mit dem Auto pro Jahr, differenziert nach Ländern und basierend auf nationalen Projektionen. Länder, die aktuell unter den Untergrenzen des Korridors liegen, erhöhen die Werte der Serviceindikatoren bis zum Jahr 2050. Länder, die darüber liegen, schätzten ab, inwiefern eine Reduktion möglich ist.
Mit dieser Methode wurden unter anderem die Flugkilometer sowie die Pkw-Kilometer stark reduziert. Auch Produktionsmengen, insbesondere für die besonders energie- und emissionsintensiven Produkte Zement und Stahl wurden für manche Länder gesenkt. Im Gebäudesektor wurde für einige Länder mit sehr hoher pro-Kopf-Wohnfläche nur eine Stabilisierung dieser Werte angenommen, da es von den jeweiligen Länderexpert*innen als nicht realistisch bewertet wurde, den Gebäudebestand so weit zu reduzieren, dass die Werte im anvisierten Korridor liegen.
Eine weitere Stellschraube sind die Bioenergiepotenziale, die durch eine detaillierte Flächenmodellierung und eine Potenzialabschätzung auf nachhaltiger Basis ermittelt wurden. Die Menge an CO2, die in natürlichen Senken gespeichert werden kann, wird risikominimierend als geringer eingeschätzt als in sehr optimistischen Szenarien, reicht jedoch aus, um die Restemissionen zu neutralisieren. Technische Negativemissions-Technologien wie CCS werden im Szenario nicht genutzt. Ebenso wird der Ausstieg aus der Kernenergie in allen europäischen Ländern im Szenario bis zum Zieljahr gesetzt und der Import von Energieträgern nach Europa so weit wie möglich reduziert.
Im Ergebnis wird deutlich: Nimmt man vielfältige Suffizienzmaßnahmen in die Werkzeugkiste auf, kann der Endenergieverbrauch Europas um die Hälfte im Vergleich zu 2019 reduziert werden. Das ermöglicht das Einhalten eines 1,5 Grad Budgets für Europa, 77% Erneuerbare bis 2040, 100% bis 2050 – ohne Kernenergie, ohne CCS und mit minimalen Importen von Energieträgern. Gleichzeitig stellt das Szenario faire Niveaus von Energie-Service-Leveln für alle Länder ins Zentrum. Voraussetzung hierfür ist eine hohe Solidarität innerhalb Europas: zwischen den Ländern besteht ein hoher Austausch an Energieträgern, so ist Deutschland bspw. Netto-Importeur von Wasserstoff. Die starke Reduktion des Endenergieverbrauchs durch Suffizienz und die Solidarität führen dazu, dass der anfangs beschriebene Druck auf das Energieversorgungssystem deutlich sinkt, da weniger Anlagen neu gebaut werden müssen, und so die Erneuerbaren- und Klimaziele robuster als bei einer hohen Energienachfrage gedeckt werden können. So ist das hier skizzierte europäische Suffizienzszenario auch ökonomisch gesehen “clever”.
Politische Instrumente [2], die im Szenario angedacht sind, sind z.B. die Streichung von Flug-Destinationen innerhalb Europas, die auch innerhalb von 5 Stunden mit dem Zug erreicht werden können, der Fokus auf Flexibilisierung des Gebäudebestandes vor dem Neubau und eine starke Verbesserung des öffentlichen Verkehrs bei gleichzeitiger Deprivilegierung von privatem Autobesitz und viele weitere. Während im Szenario lediglich Überkonsum begrenzt wird und keine Maßnahmen angenommen werden, die den allgemeinen und durchschnittlichen individuellen Wohlstand insgesamt einschränken, eröffnen die Anpassungen der politischen Rahmenbedingungen die Versöhnung des Klimaneutralitätsziels mit anderen Zielen, die essentiell für bleibenden Wohlstand und hohe Lebensqualität sind: Reduktion von Flächen- und Rohstoffverbrauch sowie eine erhöhte Energie- und damit auch Ressourcensouveränität Europas.
So vorteilhaft Suffizienz sein kann – noch zeigen die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen nicht in Richtung dieses Pfades. Ein breiter Policy Mix an Maßnahmen aller Instrumententypen ist hierfür notwendig, von fiskalischen Anreizen über Regulierung und Bildungspolitik. Da Suffizienz zwar schon in kleinen Einzelmaßnahmen wie beispielsweise verpflichtender Verfügbarkeit von Ersatzteilen oder Ähnlichem wirkt, aber erst integriert gedacht, mit den richtigen Rahmenbedingungen sein Potenzial voll entfalten kann, ist eine umfassende Suffizienzstrategie aussichtsreich. Die Integration von Suffizienzmaßnahmen in das Template der Nationalen Energie- und Klimapläne der EU-Mitgliedsstaaten wäre ein kleiner Schritt in die richtige Richtung, um Suffizienz als essenzielle Politikstrategie mitzudenken.
[1] Weitere Informationen zum CLEVER Szenario sind auf der Projekt-Seite zu finden. Dort gibt es unter anderem auch ein spannendes Online Visualisation Tool.
[2] Eine Übersicht über politische Instrumente die im CLEVER Szenario angedacht sind findet sich im Supplementary Data des Artikels. Außerdem finden sich in der Suffizienzpolitik-Datenbank momentan etwa 400 Suffizienzpolitikmaßnahmen.