Wenn wir über Zukunft nachdenken, herrschen in weniger dicht besiedelten Regionen eher pessimistische als utopische Vorstellungen vor und ländlichen Räumen wird selten viel Bedeutung für gesellschaftliche Transformation zugeschrieben. Insbesondere die Energie- und Mobilitätswende, der demographische Wandel und die digitale Versorgung, sowie der Umgang mit Biodiversität und Bodenübernutzung werden als kaum zu bewältigende Herausforderungen wahrgenommen. Diese Wahrnehmung ergibt sich u.a. aus Narrativen, als Region mit den Anforderungen eines globalisierten Weltmarkts mithalten zu müssen, sowie aus einem wachstumsorientierten Umgang mit multiplen Krisen (Raith et al. 2017). Gängige Lösungsansätze, wie die Idee einer ökologischen Modernisierung, verschleiern oft wie sehr vorherrschende Machtverhältnisse – inklusive der daraus resultierenden Konsum- und Produktionslogiken – ursächlich sind (Nightingale et al. 2020). Aufgrund dessen erscheint eine tiefgreifende Reorganisation unserer Gesellschaft hin zu solidarischen und nahräumlichen Wirtschaftsweisen weiterhin utopisch. Damit verknüpft werden oft Verzichts- und Einschränkungsbedenken, denen die grünen technologieaffinen Versprechen (Effizienz, Konsistenz) bereitwillig – bspw. durch Fördermittelstrukturen – begegnen (Hübler 2022: 202, 205; Kallert 2024: 213f.). Doch entgegen vielfacher politischer Argumentation, wird Regulation tatsächlich als viel weniger abschreckend wahrgenommen, wie auch Jonas Lange in seinem Blogbeitrag anhand einer Studie aufzeigt. Ist die Abkehr vom Wachstumsideal also utopisch, oder kann sie sogar als Chance für die Zukunft ländlicher Räume begriffen werden?
Diese Frage möchte ich anhand von Beobachtungen einer Zukunftswerkstatt in und für Lüchow-Dannenberg (Niedersachsen) aufwerfen. Der Bekanntheitsgrad des Landkreises Lüchow-Dannenberg verzeichnete seinen Peak wahrscheinlich eher in der Vergangenheit: In den 1980er/90er Jahren, als sich zahlreiche Proteste der Anti-AKW- und Umweltbewegungen breite Allianzen gegen das geplante Atommüllendlager in Gorleben bildeten. Dieselbe Region verzeichnet heute die höchste Biolandwirtschaftsdichte Niedersachsens und die Auseinandersetzung mit umweltpolitischen Fragen hat inzwischen Tradition (Holthaus 2019: 15). Zuletzt ploppt der Begriff ‚Suffizienz‘ auf politisch-administrativer Ebene in der neuen Zukunftsstrategie des Landkreises auf. Nach der Verabschiedung dieses Handlungskonzepts sollen Bürger:innenräte den Prozess begleiten. Neben den Querschnittsthemen „Gemeinwohlorientiertes Handeln“, „Zirkuläres Wirtschaften“ und „Familienfreundlichkeit“ steht der Begriff Suffizienz in einer Reihe mit Werten, die in der Entwicklungsplanung ländlicher Räume bisher selten eine derart zentrale Rolle einnehmen (Hübler 2022: 201).
Das Verhältnis von räumlicher Planung und utopischem Denken gleicht einer toxischen Beziehung: schon immer werden in planerischen Strategien Zukunftsbilder entworfen, die jedoch auf den etablierten Visionen im Hier und Jetzt aufbauen, was es erschwert, Entwicklungstendenzen grundlegend zu hinterfragen. Gleichzeitig wird gerade der Querschnittsorientierung von Planung eine Bedeutung für eine kollektive wachstumsunabhängige Raumorganisation zugeschrieben, die den Diskursraum erweitern und neue Wege eröffnen kann (Grabski-Kieron/Arens 2024: 201; Lamker/Schulze Dieckhoff 2020: 369). Eröffnet das Zukunftsentwicklungskonzept in Lüchow-Dannenberg also gerade eine (Postwachstums-)Vorstellung von Raumentwicklung?
Das Zukunftsentwicklungskonzept für den Landkreis fungiert in Lüchow-Dannenberg als Grundlage „für ein integriertes Zusammenwirken mit dem Ziel, die Lebensqualität aller zu erhöhen und die Wettbewerbsfähigkeit des Landkreises zu stärken“ (Landkreis Lüchow-Dannenberg 2024a). Beobachtungen des öffentlichen Beteiligungsprozesses im Oktober 2024 lassen tatsächlich sehr klassische Planungslogiken aufblitzen: Das Event „Zukunftswerkstatt: Suffizienz“ beginnt mit einem Inputvortrag von Niko Paech, gefolgt von der Aufforderung auf vorbereiteten Plakaten Zettelchen zu beschriften, wie Suffizienz umgesetzt werden kann und an welchen Stellen dabei Hindernisse wahrgenommen werden. Mit Fragen wie „Welche Herausforderungen stehen uns im Weg, um suffiziente Lebensstile zu fördern, und wie können wir diese überwinden?“ (Landkreis Lüchow-Dannenberg 2024b: 4) wird aktiv die individuelle Verantwortung angesprochen. Das Infragestellen von strukturellen Handlungsmaximen ist in diesem Partizipationsformat also nicht vorgesehen. Auch die Ergebnisse zeigen: Möglichkeiten, den eigenen Lebensstil durch Tauschbörsen, Unverpacktläden und Reparatur suffizienter zu gestalten werden in vielen der Ideen aufgegriffen und es wird auf bestehende Projekte verwiesen, die lediglich mehr Sichtbarkeit bräuchten (ebd.: 7, 16, 20, 22). Suffizienz als eine individuelle Aufgabe und Entscheidung zu verstehen, ist nicht nur gefährdet neoliberal instrumentalisiert zu werden, sondern gilt als Hemmnis für die Institutionalisierung von Suffizienzpolitiken (Hübler 2022: 207). Die gesellschaftliche Einbettung suffizienter Praktiken erfordert es, besonders Maßnahmen fiskalischer, makroökonomischer oder regulatorischer Art zu forcieren, worin der kommunalen Ebene weitreichende Kompetenz zugeschrieben wird (ebd.: 204; Alkemeyer 2018; Hahne 2018; Jackson 2011). Trotz der Rahmung durch die Beteiligungsagentur tauchen in Lüchow-Dannenberg auch Forderungen und Wünsche auf, die die übergeordneten Strukturen adressieren und sogar konkrete Beispiele anbringen wie zum Beispiel eine Vereinfachung von Bewilligungsprozessen für Genossenschaften, eine Arbeitszeitreduktion oder auch die Vergesellschaftung von Energieversorgung (Landkreis Lüchow-Dannenberg 2024b: 7, 16, 20).
Suffizienzpolitiken auf struktureller Ebene auszuhandeln wurde also eingefordert, aber es ist durchaus infrage zu stellen, inwieweit diese Forderungen schlussendlich gehört werden (um hier auf Debatten zu Post-Politik zu verweisen). Als strategisches Planungsinstrument legt das Handlungskonzept zudem ausschließlich Ziele und Maßnahmen für die zukünftige Entwicklung fest, die Orientierung für politische Entscheidungen und Verwaltung bieten. Direkte Bindungswirkung entfaltet es nur, wenn darin konkrete Maßnahmen für formelle Planungen festgelegt würden. Inwiefern in diesem Fall Regionalpläne oder Flächennutzungspläne eingebunden sind, ist vor der Verabschiedung allerdings noch unklar.
Nach der (vielleicht viel zu) langen Diskussion, ob die drängende Transformation ‚by design or by desaster‘ umgesetzt wird, liegt die Frage nahe, wie erkennen wir das Desaster? Und stehen schillernde Zukunftskonzepte immer für Transformation by design? Wird Suffizienz heute als Chance für ländlich geprägte Gemeinden erkannt und vermarktet, ist das alltägliche Leben an strukturschwachen Orten oft längst von kreativen Praktiken des Verzichts und der Knappheit geprägt, und befördert viel eher Genügsamkeit und Subsistenz – ob aufgrund von krisenhaften Bedingungen, Pragmatismus oder relativer Wachstumsunabhängigkeit. Wenn die räumliche Planung und Entwicklung ihrem Auftrag, dem Gemeinwohl zu dienen, folgen, muss ein Handlungskonzept für Suffizienz dennoch lokal das ‚Gute Leben‘ fördern. Dies erfordert auch Fragen von Gerechtigkeit und struktureller Benachteiligung im Blick behalten, was über Tauschläden und der Beteiligung einer akademischen Mittelschicht, die sich die Transformation leisten kann, hinausginge. Es gilt demnach genau zu beobachten, welche neue Strahlkraft der Suffizienzbegriff in Debatten um Zukunft entfaltet, und inwieweit diese schließlich für den altbekannten Wettbewerb eingesetzt wird, oder tatsächlich transformative Diskursverschiebungen anstößt.
Literatur
Alkemeyer, T. (2018). Reflexion der Beiträge. Verantwortung als Komplizenschaft oder als gesellschaftskritischer Gegen-Entwurf? In: Buschmann, N., Henkel, A., Hochmann, L., & Lüdtke, N. (Hrsg.). (2018). Reflexive Responsibilisierung: Verantwortung für nachhaltige Entwicklung. Transcript-Verlag.
Grabski-Kieron, U. & Arens, S. (2024). Utopien und räumliche Planung – ein Widerspruch? Eine Antwortsuche in der Regionalentwicklung Südwestfalens. In: Mießner, M., Naumann, M., Grabski-Kieron, U., Steinführer, A., Nell, W., & Weiland, M. (2024). Ländliche Utopien—Herausforderungen und Alternativen regionaler Entwicklungen.
Hahne, U. (2018). Hahne Die Region in der Postwachstumsdebatte 2017. In: Knieling, J. (Hrsg.). (2018). Wege zur großen Transformation: Herausforderungen für eine nachhaltige Stadt- und Regionalentwicklung: Ergebnisse des Interdisziplinären Doktorandenkollegs Dokonara. Dokonara (Veranstaltung), München. oekom verlag.
Holthaus, N. (2019). Gemeinschaft im Wendland. Zwischen Individualität und Zusammenhalt. Schriftenreihe: Entwicklungsperspektiven, Band 108.
Hübler, M. (2022). Suffizienz und Postwachstum in ländlichen Räumen. In: Belina, B., Kallert, A., Mießner, M., & Naumann, M. (Hrsg.). (2022). Ungleiche ländliche Räume: Widersprüche, Konzepte und Perspektiven (1. Aufl., Bd. 2).
Kallert, A. (2024). Kommunalfinanzen zwischen Utopie und Reformismus Perspektiven finanzieller (Selbst-)Ermächtigung der Kommunen. In: Mießner, M., Naumann, M., Grabski-Kieron, U., Steinführer, A., Nell, W., & Weiland, M. (2024). Ländliche Utopien—Herausforderungen und Alternativen regionaler Entwicklungen.
Lamker, C. & Schulze Dieckhoff, V. (2020). Neue Rollen kollektiver wachstumsunabhängiger Raumorganisation. In: Bastian Lange/Martina Hülz/Benedikt Schmid/Christian Schulz (Hg.): Postwachstumsgeographien. Raumbezüge diverser und alternativer Ökonomien. S. 369-386.
Landkreis Lüchow-Dannenberg (2024a). Wo wollen wir hin? Ein Plan für die Zukunft.
Landkreis Lüchow-Dannenberg (2024b). Nachbereitung ZKW Suffizienz.
Nightingale, A. J./Eriksen, S./Taylor, M./Forsyth, T./Pelling, M./Newsham, A./Boyd, E./Brown, K./Harvey, B./Jones, L./Bezner Kerr, R./Mehta, L./ Naess, L. O./Ockwell, D./Scoones, I./Tanner, T./Whitfield, S. (2020): Beyond Technical Fixes. Climate Solutions and the Great Derangement. In: Climate and Development 12(4), 343-352.
Raith, D./Deimling, D./Ungericht, B./Wenzel, E. (2017): Regionale Resilienz. Zukunftsfähig Wohlstand schaffen.
Raworth, Kate (2018): Die Donut-Ökonomie. Endlich ein Wirtschaftsmodell, das den Planeten nicht zerstört.
Schmid, B. (2020): »Räumliche Strategien für eine Postwachstumstransformation«, in: Bastian Lange/Martina Hülz/Benedikt Schmid/Christian Schulz (Hg.): Postwachstumsgeographien. Raumbezüge diverser und alternativer Ökonomien. S. 59–84.
Sommer, B. (2018): Postkapitalistische Organisationen als Keimzellen einer Postwachstumsgesellschaft?