Neues aus der Wissenschaft

Staatsverschuldung als Wachstumstreiber

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Der breite Wachstumskonsens

Dass heutige Gesellschaften auf Wirtschaftswachstum getrimmt sind, ist keine allzu neue Erkenntnis mehr. Bekenntnisse zu wachstumsfreundlicher Politik finden sich quasi im gesamten politischen Spektrum – bei liberalen, konservativen und sozialdemokratischen, aber auch grünen Parteien. Dieser Konsens wird selten hinterfragt, obwohl Wachstum letztlich meist ein Platzhalter für sozioökonomischen Wohlstand ist, der anders erreicht und gesichert werden könnte bzw. angesichts der sich verschärfenden ökologischen Krisen sogar müsste. Erschwerend hinzu kommt aber, dass das Wachstumsimperativ jenseits öffentlicher Diskurse auch institutionell verankert ist.

Wie die Zukunft die Gegenwart prägt

Ein noch wenig bekanntes Beispiel für diese institutionelle Verankerung ist die gängige internationale Praxis, Prognosen zur Staatsverschuldung unter Annahme zukünftiger Wachstumsraten zu erstellen, wie ich in einem jüngst erschienenen Aufsatz darlege. Dieser Aufsatz ist Teil eines Sonderheftes der Zeitschrift „Global Society“, das sich damit befasst, wie die von internationalen Organisationen prognostizierten Zukünfte das politisch Machbare in der Gegenwart beeinflussen. Nicht selten wirken solche Prognosen so, dass sie den Handlungsspielraum politischer Akteure nicht erweitern, sondern einengen. So ist es auch im Fall von Staatsschulden, die gerade Länder mit hohen Armutsraten („heavily indebted poor countries“, HIPCs) besonders betreffen. Deren Möglichkeiten, sich an internationalen Finanzmärkten zu refinanzieren, sind sowieso schon stark eingeschränkt. Wenn diese Staaten überhaupt noch als kreditwürdig eingestuft werden, können sie Kredite oft nur zu hohen Zinssätzen aufnehmen.

Die (möglichen) Schulden von morgen

Vor diesem Hintergrund scheint der Ruf nach „debt sustainability“, also einer nachhaltigen Schuldenpolitik, zunächst gar nicht so deplatziert. Allerdings spielt „Nachhaltigkeit“ hier gar nicht auf das Erreichen sozialer Mindeststandards und die Einhaltung ökologischer Grenzen an, wie es etwa Kate Raworths „Doughnut“-Ansatz sinnbildlich beschreibt oder wie es andere Forschende in ähnlicher Weise vorsehen. Gemeint ist lediglich eine Politik, welche die Staatsverschuldung mittelfristig reduziert und langfristig in engen Grenzen hält. Meine Analyse zeigt am Beispiel gemeinsamer „debt sustainability analyses“ (DSAs) des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank für Somalia und Sudan, dass aus dieser Erwartung heraus ein erhöhter politischer Anpassungsdruck auf besonders stark verschuldete Staaten im Hier und Jetzt entsteht.

Dabei sind die DSA-Szenarien für die nächsten zwei Jahrzehnte an eine unhinterfragte Annahme gekoppelt, nämlich dass die Wirtschaft des betreffendes Landes mittel- bis langfristig wächst. Im Sinne des IWF und der Weltbank ist eine proaktive Wachstumspolitik demnach eine notwendige (aber noch nicht hinreichende) Bedingung für eine dauerhafte Senkung von Staatsschulden. Hochverschuldete Staaten können schon alleine aufgrund von Prognosen zukünftiger Verschuldung zu politischem Handeln gezwungen sein, wenn sie auf Kredite des IWF, der Weltbank oder anderer Institutionen, die sich an den DSA-Bewertungen orientieren, angewiesen sind. Die Verschuldung von Staaten vornehmlich deren eigenen politischen Maßnahmen zuzuschreiben, greift zudem zu kurz: Selbst wenn hochverschuldete Staaten solide Wachstumsraten erzielen, bleiben sie immer noch in die für sie typischerweise nachteiligen Strukturen der globalen Wirtschaft eingebettet. Abhängigkeiten von Weltmarktpreisen oder der Nachfrage nach bestimmten Exportgütern können die Aufnahme neuer Schulden bedingen, um grundlegende staatliche Aufgaben weiterhin finanzieren zu können.

Warum „nachhaltige“ Schulden ökologisch nicht nachhaltig sind

Ein ganz grundsätzliches Problem liegt außerdem darin, dass wachstumsgetriebene „debt sustainability“ aus ökologischer Sicht nicht nachhaltig ist. So bestehen immense Zweifel an der Vision vom „grünen Wachstum“, weil mehr Wachstum nach bisherigem Wissensstand trotz Effizienzsteigerungen weiterhin einen absolut höheren Ressourcenverbrauch (etwa seltener Erden) sowie stärkere Verschmutzung (etwa in Form von CO2-Emissionen) verursacht. Angesichts dieser Problematik scheinen viele Expert*innen für Umweltschutz in der Tat eher wachstumskritische Positionen zu vertreten. Solche Argumente bleiben in der Auseinandersetzung über Staatsverschuldung im IWF und der Weltbank bisher komplett außen vor. Dabei sind im Falle weiterer Umweltzerstörung, etwa durch die fortschreitende globale Erwärmung, enorme Anpassungskosten gerade für die heute schon hochverschuldeten, armen Staaten zu erwarten. Ein Mangel an ökologischer Nachhaltigkeit könnte somit langfristig den Spielraum für Schuldenreduktion selbst massiv einengen.

Rufe nach mehr Wachstum zum Zweck des Schuldenabbaus sind daher kurzsichtig. Auf Dauer kann keine Wirtschaftsordnung über die ihr gegebenen ökologischen Verhältnisse leben. Technologische Innovationen, die keinen ökologischen Fußabdruck haben, gibt es bis heute nicht und wird es wohl auf absehbare Zeit nicht geben. Die marktliberale Hoffnung, Umwelt- und Klimaschutz alleine durch neue Technologien erreichen zu können, ist vor allem angesichts wiederholt nachgewiesener Rebound-Effekte mehr als trügerisch. Und selbst dort in der internationalen Politik, wo Fragen ökologischer Nachhaltigkeit viel stärkere Beachtung finden als in den DSAs des IWF und der Weltbank, bleibt das Wachstumsnarrativ sinnstiftend. So versuchen sich ausgerechnet die Sustainable Development Goals (SDGs) an der Quadratur des Kreises von Wachstum und Nachhaltigkeit. Einige sehen die SDGs sogar in erster Linie der Wachstumsnorm verpflichtet, für die Nachhaltigkeitsziele im Zweifel hintangestellt werden.

Und nun?

Aus einer Postwachstumsperspektive ist die skizzierte Ausrichtung der internationalen Schuldenpolitik auf Wachstum besorgniserregend. Wirtschaftswachstum bleibt – auch in Zeiten der globalen Klimakrise – ein weithin akzeptiertes politisches Ziel. Eine kritische Auseinandersetzung muss allerdings neben den ideellen Wurzeln wachstumszentrierter Politik deren institutionelle Verankerung – sei es auf internationaler, nationaler oder lokaler Ebene – viel stärker in den Blick nehmen. Wie das Beispiel der „debt sustainability analyses“ eindrücklich zeigt, ist die Norm des Wirtschaftswachstums mittlerweile so tief in bestimmte politische Instrumente eingeschrieben, dass Wachstum als unabdingbare Voraussetzung für die Erreichung vieler anderer Ziele angesehen wird. Wollen Postwachstumsinitiativen nachhaltig erfolgreich sein, müssen sie sich dieser Realität stellen.

 

Hintergrundinformationen zu diesem Beitrag können im folgendem Aufsatz nachgelesen werden:

Kranke, Matthias (2022): Tomorrow’s Debt, Today’s Duty: Debt Sustainability as Anticipatory Global Governance. In: Global Society, Vol. 36(2), 223-239, https://doi.org/10.1080/13600826.2021.2021152.

Das Sonderheft, in dem der Aufsatz veröffentlicht wurde, ist unter folgender Adresse abrufbar: https://www.tandfonline.com/toc/cgsj20/36/2.

Literatur:

Eisenmenger, N.; Pichler, M.; Krenmayr, N. et al (2020): The Sustainable Development Goals prioritize economic growth over sustainable resource use: a critical reflection on the SDGs from a socio-ecological perspective. In: Sustainable Science, Vol. 15(4), 1101-1110.

Fanning, A. L.; O’Neill, D. W.; Hickel, J. et al (2022): The social shortfall and ecological overshoot of nations. In: Nature Sustainability, Vol. 5(1), 26-36.

Hickel, J. (2019): The contradiction of the sustainable development goals: Growth versus ecology on a finite planet. In: Sustainable Development, Vol. 27(5), 873-884.

Hickel, J.; Kallis, G. (2019): Is Green Growth possible? In: New Political Economy, Vol. 25(4), 469-486.

Lehmann, C.; Lange, S. (2022): Umweltfachleute befürworten Postwachstum. Unter: https://www.postwachstum.de/umweltfachleute-befuerworten-postwachstum-20220302, zuletzt abgerufen am 15.07.2022.

Lehmann, K.; Perowanowitsch, I.; Rohrssen, A. (2021): Berlins Weg aus dem Wachstumszwang? Unter: https://www.postwachstum.de/berlins-weg-aus-dem-wachstumszwang-20210923, zuletzt abgerufen am 15.07.2022.

Raworth, K. (2022): What on Earth is the Doughnut? Unter: https://www.kateraworth.com/doughnut/, zuletzt abgerufen am 15.07.2022.

Santarius, T. (2014): Der Rebound-Effekt: Ein blinder Fleck der sozial-ökologischen Gesellschaftstransformation. In: GAIA – Ecological Perspectives for Science and Society, Vol. 23(2), 109-117.

Schmelzer, M. (2015): The growth paradigm: History, hegemony, and the contested making of economic growthmanship. In: Ecological Economics, Vol. 118, 262-271.

 

1 Kommentare

  1. Ein spannendes Thema. Irgendwie scheint es ja immer wieder möglich zu sein, vorhandene Schulden durch neue zu „tilgen“. Es ist kein Geheimnis, dass die USA auf einem nie abzahlbarem Schuldenberg sitzen. So hat man schnell das Gefühl, das Thema ist am Ende des Tages „egal“, sprich hat sowieso nie Konsequenzen. „Wenn die das dürfen, warum nicht alle anderen auch?“ Ob es so sein wird – wird die Zukunft zeigen.

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