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Räume für die Postwachstumsgesellschaft

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„However, most planners practice as if people were merely seekers of material comfort – economic men and women – and give little attention to human desires to live meaningfully, securely, and attached to significant others. Apparently, professional planning education and socialization promote amnesia, encouraging students and practitioners to forget what they know about their own desires when they think about clients, constituents, and colleagues, and to see people as one-dimensional seekers of physical well-being”.
(Baum 2017: 306)

Postwachstumsgesellschaft und räumliche Planung sind bisher wenig gemeinsam gedacht worden, obwohl beide Diskussionen zunehmend alle Menschen in den Mittelpunkt stellen. Das gemeinsame Ziel lebenswerter Städte für und durch alle Menschen ist Grund genug, neue Brücken zu schlagen.

Stadtplanung und die Räume, Akteure und Prozesse einer Postwachstumsgesellschaft zusammenzubringen ist der Anlass für eine Initiative der Regionalgruppe NRW im Jungen Forum der Akademie für Raumforschung und Landesplanung (ARL).

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Auf der Suche… (Foto: Christian Lamker)

Mögliche Räume einer Postwachstumsgesellschaft sollten anders erschlossen, erlebt und erfühlt werden. Als Auftakt für ein dreiteiliges Ideen-Labor haben sich am 18. Mai 2017 in Essen 13 Personen für drei Stunden ganz auf die Wahrnehmung städtischer Räume eingelassen und sich mit ihren Sinnen auf die Reise zu neuen Rauminterpretationen gemacht.

Was macht die Menschen einer Stadt glücklich? Ohne Wachstum braucht es eine positive Erzählung der gewünschten Entwicklung für den Gesamtraum und für jede Bewohnerin und jeden Bewohner, die inspiriert und motiviert. Die Abkehr von klassischem Wachstumsdenken bietet den Anlass, über Planung auch verstärkt aus emotionaler und künstlerischer Perspektive nachzudenken, alternative Geschichten über den Erfolg zu entwickeln und dabei gemeinsam zu lernen. Wer verfügt heute und zukünftig über die Macht in einer Stadt? Wie können unterschiedliche Entwicklungen über räumliche, institutionelle und mentale Grenzen hinweg ausgeglichen werden?

Wir nehmen unsere Städte mit allen für uns verfügbaren Sinnen auf: Sehen, Hören, Riechen, Tasten und Schmecken. In den meisten Situationen sind wir uns nicht bewusst, wie unsere Sinne zusammenwirken und schließlich unsere Wahrnehmung eines Ortes prägen und sich zu einem persönlichen und emotionalen Bild des Raums verdichten. Glücklich machen uns sprichwörtlich Situationen, die wir mit allen Sinnen genießen können. Unsere Wahrnehmung und positive wie negative Gefühle entwickeln sich in uns aus vielfältigen Sinneseindrücken und unserer eigenen Interpretation, die auf Erfahrungen basiert. Welche Sinne aber sprechen städtische Räume tatsächlich an? Sieht die lebenswerte Stadt für mich schön aus? Hört sie sich gut an? Riecht sie gut? Fühlt sie sich gut an? Oder schmeckt sie gut? Weiter gefragt: Sind die von uns belebten und geplanten Räume mit allen Sinnen attraktiv? Wie wirken Sinneseindrücke auf unsere Emotionen und Handlungen? Wo grenzen Raume durch Sinnesreize bestimmte Personen und Handlungen aus?

In vier Teams ging es los. Jedes Team hatte die Aufgabe, sich den Raum nur mit jeweils einem Sinn zu erschließen. An drei Stationen wurde der Raum visuell betrachtet, gehört, gerochen und ertastet. Die Eindrücke haben ihren Weg in spontane Skizzen, Markierungen auf Karten und Stichpunkte gefunden. Der Weg brachte uns von der neuen ThyssenKrupp-Zentrale bis zum Niederfeldsee in Essen-Altendorf. Zu jedem Sinn haben die Teams angepasste Hinweise bekommen: Handlungsanleitungen zur Raumerkundung, Hinweise zu Möglichkeiten der Erfassung und Dokumentation sowie eine Einleitung in die Bedeutung ‚ihres‘ Sinns.

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Beispiele: Tasten (oben), Hören (unten)

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In der gemeinsamen Diskussion in lockerer Atmosphäre wurden die Sinneseindrücke und Raumwahrnehmungen wie ein Puzzle neben-, über- und untereinandergelegt. Für jeden lag ein anderes Teil oben, jedes Teil prägte ein anderes Gefühl. Eine visuell einheitliche große Fläche wie vor dem ThyssenKrupp-Hauptquartier gliedert sich nach ihrem Geruch in kleine unterschiedliche Abschnitte: Holz, Farbe, Abendessen. Chaos und Unordnung produzierten vielschichtige und abwechslungsreiche Sinneseindrücke, die Aufmerksamkeit auf bestimmte Orte lenkten und zur Auseinandersetzung mit dem Ort anregten. Offen blieb die Frage, wie viel Chaos wir mit allen Sinnen ertragen. Spannende Erkenntnis für uns: Die (für Planer/innen) ungewöhnliche Herangehensweise an Räume war eine ideale Basis, um kreativ, unabhängig von Vorerfahrungen und gleichberechtigt die individuellen Eindrücke in die Gruppe einzubringen.

Den Abschluss bildete der Ausblick darauf, wie Planung in Verbindung mit den gewonnenen Eindrücken steht. Die erlebten Räume wurden planvoll hergerichtet. Ziel war es, unseren vorgefertigten Eindruck beiseite zu schieben und einzutauchen in die Art und Weise, wie wir diesen Raum erleben. In Essen fanden wir Geruchsräume, ertasteten Stadtstrukturen, erspähten Verborgenes und ließen uns von Motorengeräusche und Vogelgezwitscher leiten. Unser Fazit: Ein Experiment, das neue Perspektiven auf Stadt und Planung öffnet. Unsere Empfehlung: Unbedingt ausprobieren!

Die Diskussion wird an zwei Terminen mit neuen Orten, anderen Herangehensweisen und weiteren Fragen fortgesetzt: am 29. Juni in Dortmund und am 21. September 2017 in Wuppertal. Informationen und Anmeldung unter www.postwachstumsplanung.de. Wir bleiben dran an der #postwachstumsplanung – mit euch allen!

 

Quelle: Good, Ryan et al. (2017). Confronting the challenge of humanist planning. Planning Theory & Practice, 18(2): 291–319.

Viola Schulze Dieckhoff ist Raumplanerin und arbeitet aktuell am Fachgebiet Raumordnung und Planungstheorie der TU Dortmund. Auf beruflichen Stationen in Berlin und Erfurt, Forschungsreisen nach Italien, Schweden und Australien sowie durch das Mitbegründen der Freiraumgalerie in Halle/Saale sammelte sie Fragen und Eindrücke, die sich insbesondere mit raumbezogenen Allmendegütern und dem Potenzial und Grenzen von Selbstorganisation für eine nachhaltige Stadtentwicklung auseinandersetzen. // Dr. Christian Lamker ist Raumplaner und seit 2010 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät Raumplanung der TU Dortmund tätig. In Dortmund, Auckland und Melbourne hat er studiert und gearbeitet. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Planungstheorie, Planungsprozesse und -verfahren, Raumordnung und der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Praxis. Er ist aktiv in der Akademie für Raumforschung und Landesplanung (ARL) als Mitglied des Lenkungskreises, Sprecher der Regionalgruppe NRW und Mitglied der NRW-Arbeitsgruppe Postwachstumsgesellschaft.

2 Kommentare

  1. Den gewählten Ansatz finde ich sehr gut. Es geht um die gebaute und freie Fläche in der Stadt: alle sinnlichen Bedürfnisse sollen angesprochen werden. Ein Maßstab für so eine lebensfreundliche Umwelt ist die Möglichkeit, dass sich Kinder den städtischen Raum gefahrlos erobern können (miteinander vernetzte Grünflächen). Es geht dabei nicht nur um gepflegten Rasen. Ich denke auch an das Ziel, mehr Natur in der Stadt zuzulassen: die planerische Sicherung von „Naturerfahrungsräumen“ im Siedlungsbereich. Das sind mindestens ein Hektar große gerätefreie Areale, in denen sich – nach einer zurückhaltenden Startgestaltung mit dem Ziel von natürlicher Vielfalt und Erlebnisqualität für Kinder – die Natur frei entfalten kann und wo ältere Kinder sich frei (ohne Verbote, möglichst ohne pädagogische Belehrung und Führung) bewegen können. Solche wohnungsnahen Natur-Spielräume, die eigentlich zu jedem Stadteil gehören, fördern die Eigenständigkeit, Kreativität und Risikokompetenz der Kinder und sind ein wichtiger Beitrag für eine lebendige, alle Sinne anregende Stadt. Einige konkrete Beispiele für NERäume gibt es schon, z.B. in Berlin, Bochum und München.

  2. Tobias Knorn sagt am 1. Juli 2017

    Ich denke der Begriff der Exklusion und die Frage, wer zukünftig überhaupt vom städtischen Leben partizipieren darf, gilt es zu hinterfragen. Die Zielgruppe derer, die in der Stadt Wohnraum suchen, überhaupt Wohnraum suchen können, wird sich verändern, davon ausgehend auch die Dienstleistungen und Angebote des städtischen Lebens.

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