Dieser Artikel ist Teil der Reihe Künstliche Intelligenz und Postwachstum.
Vorschläge für eine Postwachstumsökonomie beinhalten eine vielfältige Mischung aus makroökonomischen Reformen (z.B. Arbeitszeitverkürzung, Vermögensumverteilung), demokratischen Innovationen (z.B. Gesellschaftsräten), alternativen Organisationsformen (z.B. Genossenschaften, Solidarische Landwirtschaft) und kulturellen Veränderungen (Abkehr vom Wachstumsdenken). Was den meisten Ansätzen bisher jedoch fehlt, ist ein konkreter Mechanismus, der die koordinierende Rolle des Marktes im Kapitalismus ersetzt.
Dieser Beitrag ist eine Einladung an die Postwachstumsbewegung, sich mit der aufkeimenden Debatte über demokratische Wirtschaftsplanung auseinanderzusetzen und beide Ansätze zusammenzuführen. Zudem nehme ich auf Samuel Deckers Blogbeitrag „Planung statt Postwachstum“ Bezug. Dessen Kernaussage, dass demokratische Planung als strategisches Ziel in den Mittelpunkt gerückt werden sollte, teile ich zwar. Jedoch denke ich, dass der Planungsansatz den Postwachstumsansatz nicht ersetzen, sondern vielmehr ergänzen sollte.
Warum Planung?
Lokale, alternative Projekte sind von enormer Bedeutung als Keimzellen einer neuen Art des Wirtschaftens, doch für die Organisation komplexer, global vernetzter Volkswirtschaften bedarf es zusätzlicher Lösungen auf anderer Ebene. Denn auch wenn die Postwachstumsbewegung in vielen Bereichen für eine Vereinfachung und Regionalisierung eintritt, wird es weiterhin Bedarf an einer Vielzahl von Produkten geben, für die komplexe Lieferketten und industrielle Fertigung erforderlich sind. Denken wir etwa an Züge für den ÖPNV, Windkraftwerke, Medikamente oder Telekommunikationsinfrastruktur.
Hier kommen Künstliche Intelligenz und die Konzepte der demokratischen Wirtschaftsplanung ins Spiel, die in den letzten Jahren deutlich steigendes Interesse erfahren haben. In einem 2024 veröffentlichten Paper habe ich argumentiert, dass demokratische Wirtschaftsplanung mithilfe moderner Informationstechnologie ein Weg sein kann, systematische Wachstumszwänge zu überwinden und menschliche Bedürfnisse unter Einhaltung der planetaren Grenzen effizient zu befriedigen. Im Folgenden möchte ich meine Ideen dazu in kompakter Form skizzieren.
Zentrale Planwirtschaft in Verbindung mit einem autoritären Staatsapparat, wie sie in der Sowjetunion oder der DDR praktiziert wurde, hat (zurecht) einen miserablen Ruf. Sie ist allerdings nicht nur aus ethischen Gründen mit der Postwachstumsidee unvereinbar; sie funktioniert schlichtweg nicht. Das hat verschiedene Gründe, deren Ausführung hier den Rahmen sprengen würde. Einer davon aber ist, dass sie sich ihrer eigenen Informationsbasis beraubt.
Aus Angst vor Strafen bei Zielverfehlung leiteten Betriebe und Bürokraten regelmäßig geschönte Daten an übergeordnete Ebenen weiter oder rechneten ihre Kapazitäten künstlich herunter, um künftig niedrigere Quoten erfüllen zu müssen. Auf jeder Ebene gingen Informationen verloren oder wurden verfälscht. Die Wirtschaftsdaten, die der zentralen Planungsbehörde schließlich zur Verfügung standen, waren daher nur von minderer Qualität. Auch bestanden für Bürger:innen kaum Möglichkeiten, ihre Konsumwünsche zu äußern. Aus solch lücken- und fehlerhaften Daten könnten selbst die modernsten Computer keinen funktionierenden Plan berechnen.
Wirtschaftsplanung muss daher demokratisch und dezentral organisiert sein. Es muss für die handelnden Individuen rational sein, Kapazitäten und Bedarfe wahrheitsgemäß zu kommunizieren. Nur so können das lokal verteilte Wissen und die individuellen Bedürfnisse der Menschen ins System eingespeist werden. Die neuen Modelle demokratischer Wirtschaftsplanung berücksichtigen diese Prinzipien, weshalb es sich bei ihnen nicht um „alten Wein in neuen Schläuchen“ handelt, sondern um grundsätzlich andere Ansätze.
Doch ist die hochgradig vernetzte Wirtschaft von heute nicht viel zu komplex für Planung? Die technologischen Grundlagen dafür existieren jedenfalls bereits und finden im großen Stil Anwendung: in kapitalistischen Großunternehmen.
Planung ist bereits Realität
In The People’s Republic of Walmart legten Phillips & Rozworski bereits 2019 dar, wie umfangreich große kapitalistische Konzerne mittlerweile planen. Auch aktuelle akademische Veröffentlichungen beschreiben, wie sehr KI-Algorithmen mittlerweile in die Strukturen großer Unternehmen eingebunden sind (siehe etwa Nguyen 2023 oder Grünberg 2023). Produktionsprozesse werden optimiert, Konsummuster prognostiziert, Logistik perfektioniert.
Amazon etwa kann mittlerweile mit hoher Präzision vorhersagen, wo bestimmte Produkte in welcher Menge konsumiert werden und diese in nahegelegene Lagerhäuser transportieren – bevor die entsprechenden Bestellungen überhaupt getätigt wurden. Das hochprofitable Tochterunternehmen Amazon Web Services liefert die dafür nötige technische Infrastruktur. Walmart nutzt einen Ansatz namens Collaborative Planning, Forecasting and Replenishment, bei dem in einem mehrstufigen Prozess ein umfassender Geschäftsplan erstellt wird. Dieser basiert auf Verkaufsprognosen, die durch Kundendaten und Feedback von Lieferanten gewonnen werden. Ermöglicht wird dies durch eine gemeinsame digitale Plattform sowie präzise Daten zu Lagerbeständen und Verkäufen innerhalb von Walmart und seinen Partnern. Viele industrielle Großunternehmen nutzen ähnliche digitale Netzwerke, die Echtzeit-Produktionsdaten auswerten, um die Effizienz ihrer Lieferketten zu optimieren.
Diese teilweise automatisierte Integration formal unabhängiger Unternehmen in den Geschäftsplan eines einzigen Konzerns, der Hunderte Millionen verschiedener Produkte verkauft, ähnelt in Umfang und Komplexität einer geplanten Volkswirtschaft. Der klassische Koordinationsmechanismus des Marktes – Vermittlung über Preise – spielt innerhalb dieser Netzwerke nur noch eine sehr untergeordnete Rolle.
Seit den 1990ern und verstärkt innerhalb der letzten gut fünf Jahre gibt es Überlegungen, wie derartige Technologien in den Dienst von Beschäftigten, Gesellschaft und Natur gestellt werden könnten, anstatt die Profitmaximierung für Wenige und endloses Wachstum auf Kosten der natürlichen Lebensgrundlagen zu forcieren.
Demokratische Planung als Alternative zu neoliberaler Konzernplanung und zentralistischer Kommandowirtschaft
Theoretische Grundlage vieler dieser Überlegungen ist die Kybernetik, welche sich mit der Steuerung komplexer Systeme und Mechanismen zur Komplexitätsreduktion befasst. Während der kurzen Regierungszeit Salvador Allendes in Chile (1970-73) fanden kybernetische Prinzipien und (aus heutiger Sicht archaische) Computertechnologie bereits Anwendung beim Versuch, eine partizipative Planwirtschaft zu verwirklichen. Das dabei entstandene Projekt CyberSyn war ein faszinierender Versuch, vorhandene Technologie für emanzipatorische Zwecke zu nutzen. Trotz widriger Umstände zeigte das System beachtliche Erfolge, bis es durch den Putsch rechter Militärs ein jähes Ende fand. Das Beispiel Chile zeigt dabei auch: Progressive technologische Entwicklungen müssen nicht zwangsläufig dem technologisch fortschrittlichsten Teil der Welt entspringen.
Heutige Technologien wie maschinelles Lernen und Cloud Computing eröffnen – wie bereits beschrieben – Möglichkeiten, von denen die CyberSyn-Vordenker nur hätten träumen können. Unter diesem Eindruck wurden in den letzten Jahrzenten neue Modelle demokratischer Wirtschaftsplanung entwickelt. Im zweiten Teil dieses Beitrags stelle ich zwei dieser Modelle vor und diskutiere ihr Potenzial für die Postwachstumsökonomie.