Überall in Europa und darüber hinaus haben die Forschungsanstrengungen zum Postwachstum zugenommen. Spätestens seit der Internationalen Degrowth-Konferenz in Malmö 2018 gilt Schweden und speziell Lund als „Hub“, insbesondere was Fragen sozialer Sicherheit und ökologisch-sozialer Politik anbelangt. Hier nahm die Spezialdisziplin des sustainable welfare ihren Ausgang oder der Versuch zu verstehen, wie menschliche Grundbedürfnisse innerhalb planetarer Grenzen befriedigt werden können. Heute sind allein im Sustainable Welfare and Eco-Social Policy Network über 700 ForscherInnen und PraktikerInnen organisiert. ForscherInnen aus Lund haben außerdem entscheidend dazu beigetragen, den Begriff der human needs und mehr oder weniger nachhaltiger needs satisfiers im internationalen Postwachstumsdiskurs zu zentraler Bedeutung zu verhelfen. Besonders im Rahmen des interdisziplinären Forschungsprojekts Postgrowth Welfare Systems entstanden eine größere Anzahl an wissenschaftlichen Beiträgen etwa zur Rolle des Staates in der sozial-ökologischen Transformation oder der damit korrespondierenden neuen Rolle von Sozialpolitik. Zudem wurden Brücken zur feministischen politischen Ökonomie und allgemeineren Nachhaltigkeitsforschung gebaut.
Während Lund und das Malmöer Institute for Degrowth Studies im skandinavischen Raum eine Vorreiterrolle gespielt haben, gibt es mittlerweile auch in Norwegen eine Vielzahl engagierter PostwachstumsforscherInnen. Nicht nur haben norwegische KollegInnen das Nordic Network of Postgrowth Research aus der Taufe gehoben, sondern auch die aktuelle International Degrowth Conference in Oslo organisiert. Es gibt vielerlei Bemühungen, in Zukunft die nordische Forschungszusammenarbeit zum Postwachstum zu verstärken und vertiefen. Forschungsbedarf besteht unter anderem in den folgenden drei Bereichen:
1. Entkopplung von Bedürfnisbefriedigung vom Wirtschaftswachstum
Es ist ermutigend, dass hinsichtlich der Befriedigung in dem von Doyal und Gough definierten Bedürfnisbereich „physische und mentale Gesundheit“ diminishing returns zu verzeichnen sind, da die reichsten Länder hier kaum besser abschneiden als die nächstwohlhabende Ländergruppe. Anders sieht es hingegen in Bezug auf die zweite Bedürfniskategorie aus: „Autonomie“, verstanden als „die Fähigkeit …, fundierte Entscheidungen darüber zu treffen, was getan werden und wie dabei vorgegangen werden soll“ (Doyal/Gough 1991, S. 53, eigene Übersetzung). Hier performen die reichsten Länder gemessen am BIP/Capita derzeit am besten. Soll ein Mindestmaß an Autonomie bei signifikant reduziertem Stoff- und Energieverbrauch und in einem Postwachstumskontext gewährleistet werden, bedarf es zum Teil tiefgreifender und aufeinander abgestimmter Veränderungen in zentralen und vielfach miteinander vernetzten gesellschaftlichen Feldern, welche im Zuge des Nachkriegsbooms expandierten und auch gegenwärtig mit Wirtschaftswachstum verkoppelt sind. Da eine derartige Great Transformation angesichts der fortgeschrittenen ökologischen Krise gleichwohl alternativlos ist, müssen die bisherigen Bemühungen zu begreifen, wie der entsprechende multi-dimensionale und -skalare Wandel zu bewerkstelligen sein könnte – sowohl innerhalb zentraler gesellschaftlicher Bereiche wie Arbeit, Bildung und politischer Teilhabe als auch in Bezug auf deren Wechselwirkungen – deutlich verstärkt werden.
2. Demokratische Planung in der multidimensionalen Krise
In Postwachstumskreisen besteht Konsens, dass die Bedeutung des wirtschaftlichen Steuerungsinstruments der Planung auf Kosten der Markregulation zunehmen muss. Dies ist allerdings bei den WählerInnen angesichts der negativen Erfahrungen mit staatlicher Zentralplanung in Osteuropa alles andere als populär. Um dies zu ändern, gilt es besser zu verstehen, wie die alle Planung erschwerende Komplexität in Volkswirtschaften mit gegenwärtig Millionen von Gebrauchswerten reduziert werden kann. Wichtige Inputs für einen planvollen Rückgang des Stoff- und Energieverbrauchs kommen nicht nur von der etablierten Consumption Corridors-Forschung. In den komplementären „Produktionskorridoren“ wird ein möglichst schnell abzuwickelnder „Überschussproduktionssektor“ (z.B. die Luxusindustrie, Teile der Finanz- und Militärwirtschaft und des fossilen Sektors) von einem in kommunaler oder staatlicher Regie zu betreibenden „essenziellen Sektor“ (Grundversorgung in den Bereichen Wohnen, Wasser, Energie, Nahverkehr oder Internetanschluss) und einer hauptsächlich privaten „Zwischenwirtschaft“ (vor allem Dienstleistungen wie Friseur- und Schönheitssalons, Fitnessstudios, Musik- und Kunstproduktion, Handwerk und Restaurants) unterschieden. In Zeiten des ökologischen Notstandes können Konsumtions- und Produktionskorridore als Wegweiser dienen, um Wirtschaft und Gesellschaft in planetare Grenzen einzubetten und Planung zu erleichtern. Es bedarf aber weitaus mehr Arbeit, nicht zuletzt konkrete Operationalisierungen der Produktionskorridore anbelangend.
3. Regulierung der Super-Reichen und wirtschaftlichen Eliten
Bei der sozial-ökologischen Transformation geht es vor allem um die Gewährleistung sozialer Mindestsicherungen und die Einhaltung ökologischer Schwellenwerte. Was den Ausbau der sozialen Mindestsicherungen anbelangt, sind die Zustimmungsraten in Schweden hoch. Sie liegen nicht nur in etablierten Bereichen wie Pflege, Schule und Hochschule bei über 50%, sondern auch in denkbaren neuen wie Internetversorgung, öffentlichem Nahverkehr oder Zugang zu Wasser und Elektrizität. Zum Unterhalt solcher universal basic services müsste im Postwachstumskontext in weitaus höherem Ausmaß als derzeit auf die Besteuerung von Vermögen, Anlage- und Kapitalgewinnen gesetzt werden. Dies jedoch ist in Schweden derzeit weitaus weniger populär als der Ausbau nachhaltiger sozialer Sicherheitssysteme. Aus ökologisch-sozialer Sicht sinnvolle Maßnahmen zur Einhaltung von kritischen biophysikalischen Schwellenwerten wie die Begrenzung von Einkommen aus Vermögen und Arbeit, Wohnraumnutzung, Flugreisen oder Fleischkonsumtion sind derzeit Minderheitenpositionen. Eine Schlüsselfrage für zukünftige Forschung und auf strukturelle Veränderung abzielende Politik ist daher, wie sich der gesellschaftliche Zuspruch für eine auf ecological ceilings abzielende Politik erhöhen lässt. In Lund versuchen wir dies durch eine soziologische Erforschung von Eliten in Wirtschaft, Staat und Zivilgesellschaft. Während die ökonomische und soziale Macht und auch der skandalöse ökologische Fußabdruck von Eliten und extrem Reichen oft thematisiert wird, äußert sich ihre symbolische Macht nicht zuletzt im allgemeinen Glauben an das meritokratische Prinzip und der damit verbundenen Annahme, dass Wohlstand sich in letzter Instanz auf eigener Arbeit und Leistung gründet. Soll der katastrophale Einfluss von Eliten auf Ökologie und Gesellschaft dennoch per Gesetz eingedämmt werden, gilt es weitaus besser als bisher zu verstehen, warum Reichtum und exklusive Lebensstile als legitim oder sogar natürlich erscheinen.
Literatur
Doyal, L. & Gough, I. (1991). A Theory of Human Needs. Basingstoke.