Eine einheitliche Definition von Postwachstum gibt es nicht. Im Kern eint jedoch die wissenschaftlichen Vertreter/innen und die unterschiedlichen aktivistischen, sozialen Bewegungen die Kritik am Streben nach der unendlichen Steigerung des Wirtschaftswachstums. Dieser „Wachstumswahn“ wird für starke globale Ungleichheiten sowie ökologische Schäden weltweit verantwortlich gemacht. Daher wird ein gesellschaftlicher Wandel gefordert, der zu globaler sozialer Gerechtigkeit innerhalb der ökologischen Grenzen der Erde führen soll. Die Konzeption einer Postwachstumsgesellschaft verfolgt somit zwar eine globale Zielsetzung, doch mögliche Auswirkungen einer Umsetzung im Globalen Norden auf den Globalen Süden[1] sowie Perspektiven der Länder des Südens werden – insbesondere in der deutschen Debatte – selten einbezogen.[2]
Gefahren der Ausblendung des Globalen Südens
Größere Einflussmöglichkeiten auf globale Strukturen, die eine Kooperation mit Vertreter/innen ähnlicher Ansätze im Globalen Süden bieten können, bleiben größtenteils ungenutzt.[3] Bezüglich der Wissensproduktion sind diese Aspekte insbesondere von enormer Wichtigkeit, da die herrschenden hegemonialen Strukturen häufig dazu führen, dass westliche Wissenssysteme gegenüber anderen dominieren. Mögliche Lösungsansätze für globale Herausforderungen, die die gesamte Weltgemeinschaft betreffen, werden häufig von postkolonialen Überlegenheitsgedanken[4] dominiert. Somit besteht auch im Fall von Postwachstum die Gefahr, dass – obwohl Postwachstumsgedanken auf solidarischen und machtkritischen Werten gründen – die sozialen Realitäten anderer Länder ausgeblendet werden. Bestehende Machtverhältnisse können somit reproduziert und neue geschaffen werden.
Forschungsarbeit: Befragung von Expert/innen
Im Rahmen einer Forschungsarbeit an der Philipps-Universität in Marburg haben wir uns näher mit dieser Thematik befasst. Wir haben uns gefragt, inwiefern der Globale Süden derzeit in die deutsche Postwachstumsdebatte eingebunden wird. Leitfragen unter dem Aspekt waren:
- Kann und sollte das Konzept „Postwachstum“ global angewendet werden?
- Welche Auswirkungen auf den Globalen Süden können sich durch eine Umsetzung von Postwachstumsstrategien im Globalen Norden ergeben?
- Besteht die Gefahr der Reproduktion von Machtverhältnissen durch Postwachstum als ein westliches Konzept?
- Welche Vorteile und Herausforderungen bergen eine stärkere internationale Vernetzung und ein Austausch von Wissen? Wie können diese erreicht werden?
Um uns der Beantwortung dieser Fragen anzunähern haben wir mithilfe qualitativer Interviews Erfahrungen, Einschätzungen und Prognosen von insgesamt zehn Akteur/innen der Postwachstumsdebatte in Deutschland eingeholt. Der Einbezug postkolonialer Ansätze und das Bewusstsein über die Verschränkung von Wissen und Macht waren für uns dabei von elementarer Bedeutung. Insofern dienten uns machtkritische Aspekte als Orientierungshilfe für die gesamte Arbeit. Ziel war es, einen Beitrag dazu zu leisten die Gefahren, die aus der Ausblendung des Globalen Südens innerhalb der deutschen Postwachstumsdebatte entstehen können, aufzudecken und eine Reflexion darüber anzuregen. Weiterhin sollen Grundlagen für den weiteren Umgang mit der globalen Perspektive geschaffen werden.
Ergebnisse unserer Forschung
Die meisten Interviewten sind sich darüber einig, dass Postwachstum als Konzept im Globalen Norden entstanden ist und sich zunächst an diesen richtet. Der globale Gehalt von Postwachstum wird jedoch insofern anerkannt, als dass die Idee in unterschiedlichen Ausprägungen auch in Bewegungen im Globalen Süden zu finden ist. Auch diese sind aus einer ähnlichen Kritik entstanden. Es besteht Uneinigkeit darüber, inwiefern der Globale Norden als Vorbild für Länder des Südens dienen kann und sollte. Nicht von allen Befragten wird dies kritisch reflektiert.
Nach Meinung der Expert/innen waren globale Auswirkungen von bestehenden Postwachstumsinitiativen aufgrund ihres Nischen-Daseins noch nicht erkennbar. Jedoch wurde ihr Symbolcharakter, der als Motor für Veränderungen dienen kann, als wichtig bewertet.
Viele der Befragten haben sich mit der Gefahr der Reproduktion von Machtverhältnissen noch nicht auseinandergesetzt, der Bedarf an der Thematisierung machtkritischer Aspekte wird jedoch von einigen gesehen. Ein anderer Teil der Befragten geht jedoch davon aus, dass die Reproduktion globaler Machtverhältnisse eine Gefahr ist, mit der man sich erst beschäftigen muss, wenn sich das Konzept Postwachstum global durchsetzt.
Es besteht deutlicher Nachholbedarf hinsichtlich des globalen Austauschs und der Vernetzung mit ähnlichen Initiativen und sozialen Bewegungen aus dem Globalen Süden. Es wird zwar teilweise Bezug auf Bewegungen wie Post-Development oder Buen Vivir genommen und diese als beispielhafte Konzepte hervorgehoben, dabei bleibt jedoch unberücksichtigt, dass es eine Vielzahl von weiteren Ansätzen gibt, die bisher noch keine Aufmerksamkeit von Seiten der Postwachstumsdebatte erhalten haben. Andere Wissenssysteme werden bisher kaum als gleichwertig anerkannt. Außerdem findet der derzeitige Austausch noch stark auf Expert/innen-Ebene statt. Das Potential, das Kooperationen bieten, wird anerkannt und ein stärkerer Austausch angestrebt.
In Hinblick auf postkoloniale Aspekte wurde deutlich, dass die meisten der Interviewpartner/innen sich über koloniale Kontinuitäten in den aktuellen globalen Verhältnissen bewusst sind. Doch auch hier gibt es Ausnahmen, die zeigen, dass sich innerhalb der Postwachstumsdebatte nicht genügend mit postkolonialen Aspekten auseinandergesetzt wird. Beispielsweise sprachen manche von der uneingeschränkten Übertragbarkeit von Postwachstum auf den Globalen Süden.
Anregungen für die deutsche Postwachstumsdebatte
Für eine globale Vernetzung und Kooperation ist es notwendig, sich stärker mit Konzepten aus dem Globalen Süden auseinanderzusetzen, sie mit Postwachstum genauer zu vergleichen sowie der Frage nachzugehen, was sie voneinander lernen können. Eine stärkere Kooperation würde zu größeren Einflussmöglichkeiten auf globale Verhältnisse führen, sowohl in sozialer und ökologischer als auch ökonomischer Hinsicht. Zudem könnte Deutschland bzw. der Globale Norden in seinem Bestreben nach einer Postwachstumsgesellschaft durchaus von den Erfahrungen sozialer Bewegungen im Globalen Süden lernen und so die Perspektive der Debatte erweitern und ausgeblendete Aspekte einbeziehen. Gerade im Kontext von Kolonialismus und der ökologischen Schuld des Globalen Nordens gegenüber dem Globalen Süden ist es wichtig, gemeinsam an Konzepten zu arbeiten und sich auf Augenhöhe zu begegnen.
Die alle zwei Jahre stattfindenden internationalen Degrowth-Konferenzen bieten bereits eine gute Plattform, sich nicht nur auf europäischer Ebene, sondern auch global zu vernetzen. Die letzte Degrowth-Konferenz in Leipzig 2014 hat diesbezüglich schon viel angestoßen und teilweise Stimmen aus dem Globalen Süden in die Diskussion aufgenommen. Virtuellen Kommunikationsmedien könnte in der Diskussion um globalen Austausch eine größere Rolle zukommen. Bei Vorträgen, Sommerschulen, etc. könnten verstärkt Videokonferenzen abgehalten werden, um weite Anreisen – insbesondere mit dem Flugzeug – zu vermeiden und dennoch verschiedene Perspektiven zu integrieren.
Es bleibt zu hoffen, dass sich die deutsche Postwachstumsdebatte in den nächsten Jahren verstärkt dieses Themas annehmen wird.
Wir freuen uns über Fragen oder Rückmeldungen unter: forschungsprojekt.uni-marburg@gmx.de
[1] Wir verwenden das Begriffspaar Globaler Norden/Globaler Süden als Analysekategorien, wobei keinesfalls die Homogenität dieser Gebiete angenommen werden soll. Sie beziehen sich auf globale Asymmetrien, die sich aus bestehenden postkolonialen Machtverhältnissen ergeben.
[2] Im vergangenen Jahr (2015) lässt sich ein positiver Trend von Veröffentlichungen verzeichnen, die den Globalen Süden im Zusammenhang mit Postwachstum thematisieren. (vgl. z.B. Brand 2015; Escobar 2015)
[3] vgl. Brand 2015: 2
[4] Postkolonialismus verstehen wir nicht als historische Epoche, sondern als bis in die Gegenwart wirkende Machtverhältnisse des Kolonialismus, welche die heutigen Beziehungen zwischen dem Norden und Süden mitbestimmen (vgl. Danielzik 2013: 27).
Literatur
Brand, U. (2015): Degrowth und Post-Extraktivismus: Zwei Seiten einer Medaille?, Working Paper der DFG-Kollegforscher/innengruppe Postwachstumsgesellschaften, Nr. 5/2015. Jena: Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Danielzik, C.-M. (2013): Überlegenheitsdenken fällt nicht vom Himmel. Postkoloniale Perspektiven auf Globales Lernen und Bildung für nachhaltige Entwicklung. In: Zeitschrift für internationale Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik, Jg. 6, Nr. 1, S. 26-33.
Escobar, Arturo (2015): Degrowth, postdevelopment, and transitions: a preliminary conversation. In: Sustainability Science, Special Feature, Online Publikation. DOI: 10.1007/s11625-015-0297-5.
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