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Pluralising Degrowth: Grenz_ziehungen überwinden!

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In der deutschsprachigen Degrowth-Debatte wurden feministische Erkenntnisse in den letzten Jahren vor allem in Form des Diskurses um Care aufgegriffen und erweitert. Zugleich fand zuletzt eine Pluralisierung und Weiterentwicklung feministisch-emanzipatorischer Degrowth-Debatten statt. Es werden nun stärker post- und dekoloniale Kritiken von Wissenschaftler*innen aus dem Globalen Süden aufgenommen, sodass nicht nur patriarchale, sondern auch koloniale und anthropozentrische Logiken stärker hinterfragt werden. Die teils eng miteinander verknüpften, teils eigenständigen Debatten eint dabei, dass sie in dichotomen Grenz_ziehungen[1], z.B. zwischen “Mensch” und “Natur”, die normative und diskursive Grundlage für Wachstums- und Ausbeutungslogiken erkennen, die es auch im feministischen Degrowth-Diskurs zu überwinden gilt.

Patriarchale Grenz_ziehungen

Im Fokus des feministischen Degrowth-Diskurses stand in den letzten Jahren vor allem die gesellschaftliche Organisation und Aufwertung von ‘Care’, also Sorgearbeit. Gerade in Zeiten der Corona-Krise wird in feministischen Degrowth- und Transformationsdiskursen aktuell immer wieder die Forderung laut, Care ins Zentrum eines geschlechtergerechten Wirtschaftssystems zu stellen. Care soll dabei kollektiv als Gemeingut jenseits von Markt und Staat, also als ‘Common’, organisiert werden. Unter dem Stichwort  „Caring Commons“ werden dabei vielfach Potenziale von gemeinschaftlich organisierten, solidarischen Lebens- und (Sorge-) Arbeitszusammenhängen diskutiert.

Teile der feministischen Degrowth-Bewegung fordern damit einhergehend die Überwindung der dualistischen Grenz_ziehung zwischen der monetären Ökonomie und der nicht-monetären Versorgungsökonomie, zwischen Produktion und Reproduktion. Die dichotome Trennung und Hierarchisierung von Produktions- und Reproduktionssphäre, privat und öffentlich verrichteter, bezahlter und unbezahlter Arbeit wird dabei als grundlegend für ungleiche Geschlechterverhältnisse, aber auch krisenhafte ökonomische Dynamiken verstanden. Denn erst durch diese patriarchale Trennung kann die externalisierte, unbezahlte und als ‘weiblich’ markierte Arbeit angeeignet, abgewertet und ausgebeutet werden, obwohl sie das Fundament unserer Lebens- und Arbeitsweise bildet. Der Begriff der (Re)Produktivität, welcher ein Versuch der Überwindung dieses dichotomen Trennungsverhältnisses darstellt, fand zuletzt verstärkt Eingang in den feministischen Degrowth-Diskurs.

Koloniale Grenz_ziehungen

Zeitgleich wird seit einigen Jahren vor allem von Forscher*innen und sozialen Bewegungen aus dem Globalen Süden die Forderung laut, dass die (Degrowth-) Debatte um Care intersektionaler geführt werden muss. Dies macht z.B. die Analyse globaler Sorgeketten („Global Care Chains„) deutlich: Sorgearbeiten werden im Globalen Norden zunehmend an prekär beschäftigte Arbeitsmigrantinnen (aus dem Globalen Süden) ausgelagert. Sorgearbeit wird also nicht nur feminisiert, sondern auch rassifiziert, wodurch koloniale Kontinuitäten (re)produziert werden. Auch die moderne Herausbildung von Geschlechter- und Sexualitätsordnungen ist untrennbar mit der Geschichte und der fortdauernden Kontinuität des Kolonialismus verbunden. Denn die eurozentrische und koloniale Weltordnung hat Dichotomien wie “Mann vs. Frau” „entwickelt vs. unterentwickelt“, „modern vs. traditionell“, „Natur vs. Kultur“ oder „Körper vs. Geist“ erst hervorgebracht. Dieses koloniale binäre Weltverständnis hat dabei z.B. nicht nur zu einer Aufwertung des weißen, heterosexuellen, cis-männlichen Subjekts, sondern auch einer Abgrenzung von und damit einhergehender Abwertung aller anderen menschlichen und nicht-menschlichen Subjekte und Lebensformen geführt. Dekoloniale Ansätze und Kritiken am bisherigen Degrowth-Diskurs fordern daher die Überwindung dieser kolonialen Dichotomien und stehen für eine Transformation, welche die untrennbare Verbundenheit menschlicher und nicht-menschlicher Systeme und die Regeneration allen Lebens ins Zentrum stellt.

Anthropozentrische Grenz_ziehungen

Bisher wurde die Care-Debatte innerhalb des feministischen Degrowth-Diskurses häufig mit einem anthropozentrischen Fokus auf Mensch-Mensch-Beziehungen diskutiert, wenngleich dabei auch die Parallelen zwischen der Ausbeutung sozialer und natürlicher (Re)Produktivitäten gerade im Angesicht der ökologischen Krise immer eine Rolle gespielt haben. In letzter Zeit ist die Erweiterung des Sorgebegriffs für Mensch-Natur-Beziehungen zu (“Sorgen für/ mit Natur/en”) prominenter geworden. Care wird dabei als Handeln zur Aufrechterhaltung und zum Wiederherstellen des Lebens verstanden, welches explizit nicht-menschliche Lebewesen miteinschließt und diese auch als Handelnde verstanden werden können. Die Grenz_ziehung wird auch auf sprachlicher Ebene durch posthumanistische Begriffe wie more-than-human, NaturKulturen, Multispecies Feminism oder (nicht-) menschliche Entitäten aufgebrochen. Ökofeministische und posthumanistische Kritiken an der euro- und anthropozentrischen Binarität von “Kultur” und “Natur” greifen dabei auf dekoloniale und indigene Weltverständnisse zurück, in denen die komplexe und interdependente Verbundenheit von nicht-menschlichen und menschlichen Lebewesen eine zentrale Rolle spielt.

Für eine Pluralisierung des feministischen Degrowth-Diskurses ist es wichtig, sämtliche dichotome Logiken und Grenz_ziehungen stärker zu hinterfragen, denn diese sind Ausdruck eines patriarchalen, kolonialen und eurozentrischen Versuchs, die Welt zu ordnen und zu hierarchisieren. Es sind solche sozial konstruierten Grenz_ziehungen, die eine Hierarchisierung, Ausbeutung, Aneignung, Einverleibung und Externalisierung des jeweils Abgegrenzten erst ermöglichen und fortlaufend legitimieren. Postkoloniale und posthumanistische Theorien müssen also ebenso wie feministische Ansätze stärker in die Degrowth-Debatte integriert werden. Für eine solche Integration müssen weiße Degrowth-Forscher*innen jedoch die eigene Situiertheit, Positionierung und Perspektive reflektieren, explizit(er) machen und plurale Wissenssysteme, Narrative und Epistemologien aus dem Globalen Süden stärker anerkennen und rezipieren, ohne sie sich dabei in kolonialer Manier einzuverleiben.

 

Literatur:

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Hochschild, A. R. (2000). Global care chains and emotional surplus value. In A. Giddens & W. Hutton (Hg.), On the edge. Living with global capitalism (S. 130-146). London: Jonathan Cape.

Hofmeister, S., Mölders, T., Deininger, M. & Kapitza, K. (2019). Für welche ‚Natur/en‘ sorgen wir? Kritisch feministische Perspektiven auf aktuelle Care-Debatten im sozial-ökologischen Kontext. Gender – Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft, (1) 2019, S. 125-139.

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Winker, G. (2021). Solidarische Care Ökonomie. Revolutionäre Realpolitik für Care und Klima. Bielefeld: transcript Verlag.

 

Anmerkung:

[1] Mit dem Begriff bezeichnen wir dichotome Trennungs- und Hierarchisierungslogiken. Die Schreibweise Grenz_ziehungen mit Unterstrich soll den Lesefluss für einen Moment irritieren und dadurch die sonst unsichtbar gemachten diskursiven dualistischen Trennungsverhältnisse sichtbar(er) markieren.

Lina Hansen hat in Bremen, Groningen und Tiflis studiert und in Jena den soziologischen Master mit dem Schwerpunkt „Gesellschaftliche Transformation und Nachhaltigkeit“ erfolgreich abgeschlossen. Sie organisiert gerne transdisziplinäre feministische Konferenzen und arbeitet aktuell an einem Promotionsvorhaben zum Thema ökofeministische Solidarität. Dominique Just ist transdisziplinäre und forschende Aktivist*in in den Bereichen Klimagerechtigkeit, Degrowth und Feminismus. Dominique hat den Masterstudiengang ‚Sustainability, Society and the Environment‘ an der Universiät Kiel mit einer Masterarbeit zum Thema „Degrowth, Gender and the Re-Organisation of Work“ abgeschlossen. Aktuell arbeitet Dominique als Campaigner*in für Mobilitätsgerechtigkeit bei ROBIN WOOD e.V.

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