Im Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung bleiben ökologische und soziale Risiken unsichtbar, kritisieren Kerstin Andreae und Roland Zieschank. Zu diesen blinden Flecken bezieht der Jahreswohlstandsbericht 2019, verfasst von Roland Zieschank und Hans Diefenbacher für die Bundestagsfraktion der Grünen, Stellung. Dem BIP wird darin ein Set aus je zwei ökonomischen, ökologischen, sozialen und gesellschaftlichen Indikatoren an die Seite gestellt und es zeigt sich: die gegenwärtigen Entwicklungen werden zum Risiko.
Über Jahrzehnte hinweg ist in Deutschland eine Ökonomisierung der Umweltpolitik erfolgt, aber es gab keine vergleichbare Ökologisierung der Wirtschaftspolitik. Viele ökonomische Modelle, die Wirtschaftsberichte der Bundesregierung oder die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen sehen im Kern noch so aus wie in Zeiten ihrer Entstehung: Daher ist hier nach wie vor der Markt das tragende Fundament des gesellschaftlichen Wohlstands, das Wirtschaftswachstum bildet die Dynamik des Fortschritts.
Selbiges ist einerseits immer zu wenig, zu schwach, oder wenn vorhanden ist es auch schon wieder gefährdet. Andererseits muss es dann befeuert werden, mit Konjunkturprogrammen, Staatsschulden und Geldern bzw. Nullzinsen der Notenbanken. Dieses System verbraucht gerade in kurzer Zeit die natürlichen Rohstoffe der Vergangenheit und im globalen Maßstab die finanziellen Handlungsräume der Zukunft. Es widerlegt die Annahme, dass allein mit Wachsen der gesellschaftliche Wohlstand zu bewahren und zu fördern ist.
Was fehlt, ist die Erkenntnis der zweifachen Externalisierung: Die Folgen des Umweltverbrauchs wie zudem der Umweltbelastung tauchen erstens gar nicht erst als finanzielle Schäden im Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung auf. Zweitens fließen auch die natürlichen Reichtümer wie intakte Ökosysteme und die Biodiversität sowie die Leistungen dieser Ökosysteme als positiver Beitrag nicht ein: Das „Naturkapital“ wird bislang systematisch übersehen. So bleibt dann zwangsläufig auch im Dunkeln, wie die ökologischen Folgen den mühsam erarbeiteten gesellschaftlichen Wohlstand untergraben.
Neben dem fehlenden „Naturkapital“ wird das soziale „Kapital“ in der Wirtschafts- und Wohlstandsberichterstattung außer Acht gelassen. Dabei ist die Einkommensverteilung ein entscheidender Faktor für den Wohlstand eines Landes. Trotz langer Perioden wirtschaftlichen Wachstums ist die Ungleichheit von Einkommen in vielen Ländern nicht zurückgegangen. Zudem beeinflussen auch Bildung, Gesundheit, sozialer Zusammenhalt und Gerechtigkeit den Wohlstand einer Gesellschaft.
Solange Kenngrößen wie das BIP über Erfolg und Wohlstand eines Staates – vermeintlich – Auskunft geben, ist deren Steigerung um fast jeden Preis ein zwangsläufiges Ziel. Der französische Ökonom Serge Latouche hat dafür den Begriff einer „Kolonisierung des Denkens“ gefunden. Der Jahreswohlstandsbericht 2019 lädt nun dazu ein, diese Schablone zu verlassen und einen erweiterten Blick auf die gesellschaftliche Situation in Deutschland zu werfen.
Um eine moderne Wirtschaftsberichterstattung voranzubringen, wird dem BIP ein Set aus je zwei ökonomischen, ökologischen, sozialen und gesellschaftlichen Indikatoren an die Seite gestellt. Dabei ergibt sich das Bild eines Status Quo als Risikofaktor:
Die Kluft zwischen dem ökologischen Fußabdruck Deutschlands und der verfügbaren Biokapazität würde sich angesichts der bisherigen Wirtschaftspolitik bestenfalls in etwa 100 Jahren schließen. Artenvielfalt und Landschaftsqualität leiden unter Intensivlandwirtschaft und Schadstoffen, die Zersiedlung wirkt sich negativ aus. Was geht noch verloren? “Die Schönheit und Vielheit der Natur ist eine Brücke zwischen unserer Welt und dem Paradies“ (Claire Flowers) – um es mit Worten jenseits der Wissenschaft zu formulieren.
Der Anteil der Umweltschutzgüter und -dienstleistungen an der Wertschöpfung ist auf dem tiefsten Stand seit über zehn Jahren. Der ökologische Wandel zu einer Green Economy hat an Dynamik verloren. Die Einkommensschere hat sich kaum geschlossen. Bei guter und chancengleicher Bildung geht es nur langsam voran, denn der Anteil der Bildungsausgaben am BIP stagniert und liegt unter dem europäischen Durchschnitt.
Die Basis unseres Wohlstands erodiert, was sich erst bei näherem Hinsehen erschließt. Einige zaghafte Verbesserungen reichen nicht aus, um die längst erforderliche Trendwende einzuleiten. Mit dem Verharren im Status quo riskieren wir Phasen zu erreichen, in denen sich negative Entwicklungen beschleunigen.
Es ist an der Zeit, politische Maßnahmen zu ergreifen und die Wirtschaftsberichterstattung an die Realität anzupassen: das soziale und natürliche Vermögen einer Gesellschaft mit einzubeziehen und gleichermaßen auch zu fördern.