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Neosozialismus als Gesellschaftsutopie?

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Klaus Dörre und Christine Schickert diskutieren in ihrem Sammelband „Neosozialismus – Solidarität, Demokratie und Ökologie vs. Kapitalismus“ zusammen mit weiteren Autor*innen eine wichtige Leerstelle zeitgenössischer linker Debatten: Das weitgehende Fehlen gesellschaftlicher Utopien und konkreter Vorschläge zur Einrichtung einer humaneren Gesellschaft. In Zeiten, in denen eine Verringerung oder gar Aufhebung der dramatischen sozialen Ungleichheiten und eine Lösung der sich verschärfenden ökologischen Krise innerhalb des Kapitalismus kaum noch denkbar erscheinen, ist dies umso bemerkenswerter. Das Buch versucht diese Leerstelle zu füllen und plädiert ausgehend von einem Thesenpapier für eine Revitalisierung des sozialistischen Gesellschaftsentwurfs unter dem Label „Neosozialismus“.

Zu Beginn diskutiert Klaus Dörre diese Idee theoretisch und konkretisiert sie durch Analyse des Scheiterns bisheriger sozialistischer Gesellschaftsexperimente. So mahnt er beispielsweise das Fehlen wirksamer Mittel zur Verhinderung der Akkumulation politischer Macht an und schlägt demokratisch verfasste Zivilgesellschaften, welche Freiheiten und Grundrechte auch für politisch Andersdenkende garantieren, als Lösung vor. Dörre bezieht sich dabei allerdings wenig auf bereits formulierte Kritik an sozialistischen Gesellschaftsentwürfen, wie die Analysen von Ludwig von Mises und Milton Friedman zur strukturell schlechteren wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zentralstaatlich gesteuerter sozialistischer Produktion. Er diagnostiziert ohne weitere Belege eine „historisch einmalige ökonomisch-ökologisch Zangenkrise“, die bereits heute eine gesellschaftliche Transformation ausgelöst hätte, welche „sich nicht mehr aufhalten“ ließe. Vermutlich gerade durch seine stellenweise argumentative Offenheit bietet das einleitende Thesenpapier eine gute Grundlage für die folgenden Beiträge im Buch.

Hubertus Buchstein formuliert eine sehr treffende Kritik an Dörres Krisendiagnose und konstatiert, dass die „Landnahme“ des Kapitalismus noch lange nicht an ihr Ende gekommen sein müsse und ein stabiler digitalisierter und grüner Kapitalismus‘ heute wahrscheinlicher scheint als die unvermeidliche Krise, die Karl Marx bereits in den 1850er Jahren prognostizierte.

Brigitte Aulenbacher verweist in ihrem Beitrag auf das in der bürgerlich kapitalistischen Gesellschaft zwangsläufig uneingelöste Versprechen der französischen Revolution von Freiheit und Gleichheit und diskutiert eines der zentralen Probleme für die Organisation von gesellschaftlichem Wandel: Die kapitalistische Gesellschaft ist dem Menschen „nicht äußerlich“, sondern bringt sie als Subjekte in ihrem Denken und Wollen erst hervor.

In einem kenntnisreichen Text zum „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ (Hugo Chávez) in Venezuela erläutert Raul Zelik, wieso dieses zeitgenössische sozialistische Gesellschaftsexperiment in einer dramatischen Sackgasse steckt und was dies für künftige linke Politik bedeuten könnte. Statt übermäßiger staatlicher Kontrolle sei zum einen ein experimentelles Lernen aus bisherigen gesellschaftlichen solidarökonomischen Erfahrungen und zum anderen die Etablierung netzwerkartiger Machtstrukturen bei Beibehaltung der Gewaltenteilung nötig.

Bob Jessop ergänzt eine gut strukturierte Analyse für und gegen ein neues sozialistisches Projekt, welches er lieber „demokratischer Ökosozialismus“ nennen würde. Er macht zudem einen interessanten Vorschlag zur Organisation von Wandel. Dies geschehe durch die kontinuierliche Reduktion profitproduzierender Produktion und Reproduktion. Dieser Bereich wäre nun der nicht gewinnorientierten Produktion und Reproduktion untergeordnet. Diese ist wiederum mit einem stark vergrößerten Bereich der freien Zeitverfügung verknüpft, welche der potentiell solidarisch orientierten Selbstverwirklichung dient.

Dies führt Erik Olin Wright sehr fundiert fort und diskutiert konkrete Strategien für gesellschaftlichen Wandel. Diese „realen Utopien‘“ beschreibt er unter anderem am Beispiel des bedingungslosen Grundeinkommens und kulminiert in der Forderung nach einer fairen Wirtschaft, echten Demokratie und gerechten Gesellschaft. Unter realen Utopien versteht er solche Projekte, die sowohl die Werte der Utopie – also Gleichheit, Demokratie und Solidarität – verwirklichen als auch im derzeitigen kapitalistischen System entstehen können. Solche „Halbinseln gegen den Strom“, wie Friederike Habermann sie bezeichnen würde, zeigen den Weg nach vorn und erlauben eine Evaluierung.

In Anlehnung an frühere Arbeiten von Wright entwirft Hans-Jürgen Urban als Transformationsstrategie eine effiziente und naturverträgliche Wirtschaftsdemokratie, die den bestehenden Kapitalismus sukzessive überwinden soll.

Der Beitrag von Ulrich Brand und Christine Schickert beschließt die Diskussion und betont nochmals die virulente ökologische Krise als zentralen Antrieb postkapitalistischer Transformationsideen. Er kritisiert die Idee, dass der Staat zentraler Akteur einer emanzipatorischen Transformation sein könne. Im Buch finden andere alternative Entwürfe des Wirtschaftens wie Degrowth und solidarische Ökonomie immer wieder Erwähnung, allerdings wird die Beziehung dieser Konzepte zum Neosozialismus nicht ausführlich analysiert. Einige gute Ansätze sind jedoch in Brands und Schickerts lesenswertem Beitrag formuliert.

Abschließend ergänzt Dörre eine detaillierte Replik auf mehrere der Beiträge. Er beschäftigt sich durchaus erhellend mit dem Neuen am Neosozialismus und erläutert seine Krisendiagnose und die Kernprojekte.

Das Buch schafft es aufgrund seiner besonderen Form als ein aus zahlreichen Perspektiven diskutiertes Thesenpapier, Leser*innen das Konzept Neosozialismus vielseitig und kritisch nahezubringen. Es stellt damit einen sehr lesenswerten Beitrag zu einer notwendigen Debatte dar, die als Kompass für den Weg zu einer besseren Gesellschaft durchaus nützlich sein dürfte.

 

Dörre, Klaus, und Christine Schickert (Hrsg.): Neosozialismus. Solidarität, Demokratie und Ökologie vs. Kapitalismus. München: oekom verlag, 2019.

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