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Mäßigung: Von einer alten Tugend lernen

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Als der amerikanische Präsident im Jahre 1885 von der indigenen Bevölkerung Land kaufen wollte, brachte Häuptling Seattle vom Stamm der Duwamish in einer häufig zitierten Rede sein absolutes Unverständnis darüber zum Ausdruck, wie man Land kaufen und verkaufen und wie man so rücksichtslos wie ‚der weiße Mann‘ mit den Gaben und Schönheiten der Natur umgehen könne. Am Ende gelangt der Häuptling zu einer Erklärung für sein eigenes Nichtverstehen: „Vielleicht könnten wir es verstehen, wenn wir wüssten, wovon der ‚weiße Mann träumt‘ – welche Hoffnung er seinen Kindern an langen Winterabenden schildert, und welche Visionen er in ihre Vorstellungen brennt, so dass sie sich nach einem Morgen sehnen.“ Abgesehen davon, dass wir unseren Kindern wohl kaum noch etwas an langen Winterabenden erzählen, stellt sich uns tatsächlich heute die Frage, welche Visionen wir der nachwachsenden Generation explizit oder implizit vermitteln. Welche Träume der Moderne sind es, die die Menschen bewegen und sind es tatsächlich Erzählungen, die eine Sehnsucht in den nachwachsenden Generationen erzeugen können? Der Fortschrittsmythos der Moderne ist eine Erzählung von der Gottgleichheit des Menschen, seinen unbegrenzten Möglichkeiten sowie dem allgemeinen Streben nach immer mehr, immer schneller, immer weiter. Unseren Kindern brennt die Industriegesellschaft den Traum von der nächsten Smartphone-Generation, der aktuellsten Designerjeans oder dem nächsten Urlaub im Paradies in ihr Bewusstsein. Aber werden sie mit diesem Traum glücklich und zufrieden, werden sie sich damit nach einem Morgen sehnen – wenn es denn überhaupt noch ein Morgen gibt?

Wir brauchen eine „Kultur der Mäßigung“

Die Erzählung der Moderne neigt sich so oder so unweigerlich dem Ende zu. Sie vermittelt den Menschen immer weniger eine realistische Zukunftsvision, denn sie zerstört unsere Existenzgrundlagen und lässt die Menschen gestresst und unzufrieden zurück. Der Ausdruck ‚Postwachstum‘ verweist auf ein Ende der Wachstums- und Überflussgesellschaft und deutet an, dass die Erzählung der gegenwärtigen Industriegesellschaften kaum noch eine Überzeugungskraft entfalten kann und der Weg uns zunehmend in Krisen und Katastrophen führt. Aber welche alternativen Erzählungen gibt es für eine lebenswerte Zukunft? Eine andere Vision, die tatsächlich aufzeigt, wofür es sich lohnt zu leben und die eine neue Sehnsucht nach dem Morgen entfalten könnte, scheint gegenwärtig kaum in Sicht. Wenn wir aber tatsächlich die Wachstumsgesellschaft überwinden wollen, brauchen wir eine neue Erzählung. Bei der Suche nach einer solchen Erzählung könnte die Forderung nach einer „Kultur der Mäßigung“ einen Beitrag leisten.

Ohne Maß keine Kultur

Besonders im Hinblick auf die ökologische Krise kommt es heute darauf an, dass die Menschen ein rechtes Maß zwischen Kultur und Natur suchen und sich entsprechende Grenzen setzen. Die gegenwärtige Maßlosigkeit unserer Kultur zeugt von einer fatalen Ignoranz gegenüber der alten Weisheit, dass es ohne Begrenzung und ohne Maß nicht geht. Eine Kultur ist ohne Maß nicht möglich, aber gleichzeitig ist keine Kultur in der Lage, Maße absolut zu erkennen oder darf eigene Maßstäbe nicht verabsolutieren. Diese, von der gegenwärtigen Industriekultur konsequent ignorierte Einsicht, war schon Platon bekannt: Die Natur fordert nur wenig, der Wahn hingegen Unermessliches. Der griechische Philosoph Demokrit stellte fest, dass wenn man das rechte Maß überschreite, das Angenehmste zum Unangenehmsten werden könne. Diese Erkenntnis wird uns mittlerweile gesellschaftlich durch zahlreiche ökologische Krisen und Katastrophen sowie individuell durch zunehmenden Stress, Depressionen und Burn-out immer deutlicher vor Augen geführt.

Mit dem Problem der Mäßigung und der Maßlosigkeit beschäftigt sich der Mensch nicht erst seit der Wahrnehmung einer gesellschaftlichen Naturkrise infolge einer Übernutzung der natürlichen Ressourcen. Schon in der Antike wurde über das rechte Maß, das der Mensch zu einer harmonischen Lebensführung benötigt, philosophiert und reflektiert. Seit den Anfängen philosophischen Denkens spielen die Begriffe Maß, Mäßigung oder Mäßigkeit eine zentrale Rolle. Im deutschen Sprachraum war Mäßigung allerdings häufig negativ konnotiert und verwies oft nur auf Verzicht und Beschränkung unserer Freiheit. Diese negative Auslegung entspricht jedoch nicht hinreichend dem Kern dessen, was man in der über 2000-jährigen Geschichte mit der Philosophie der Mäßigung verband.

Mäßigung als Befreiung

Im Zentrum antiker Mäßigungsphilosophie – besonders bei den Epikureern – stand nicht die Beschränkung, die Beschneidung der Freiheit des Individuums und die Zügelung der Lust, sondern ganz im Gegenteil die Entwicklung und Förderung von Selbsterkenntnis und Selbstbeherrschung, die Freiheit des Menschen im Sinne seiner Unabhängigkeit von den unmittelbaren Verhältnissen sowie die Förderung der wahren Lust. Selbsterkenntnis sollte den Individuen ermöglichen, das rechte Maß in ihrem Leben zu finden und es selbst zu bestimmen, um letztlich und in Vollendung der Persönlichkeit die Herrschaft über sich selbst zu erlangen. Die Mäßigungsphilosophie zeigt auf, wie wir uns von den vielen Alltagszwängen befreien können, die uns das kapitalistische Wirtschaftssystem ständig abverlangt und die wir uns selbst immer wieder auferlegen.

Die Tugend der Mäßigung könnte eine wichtige Rolle spielen bei der Entwicklung einer neuen zukunftsorientierten Erzählung der Postwachstumsgesellschaft. Es besteht zumindest die Hoffnung, dass die Menschen angesichts zunehmender persönlicher (z. B. Depressionen, Burn-out, Stress u. a.) und ökologischer Krisen (Klimawandel, Artensterben etc.) in der Philosophie der Mäßigung eine Alternative zum Fortschrittsversprechen kapitalistischer Industriegesellschaft erkennen.

 

Thomas Vogel (2018): Mäßigung. Was wir von einer alten Tugend lernen können. München: oekom Verlag.

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