Standpunkte

Kontroversen um die Nachhaltigkeitsrevolution

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Anmerkungen zu Klaus Dörres ‚Utopie des Sozialismus‘

Klaus Dörre hat mit seinem Buch „Utopie des Sozialismus. Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution“ einen großen Wurf gewagt. Es lässt sich zugleich wie eine nach vorne gewandte und handlungsorientierte Weiterentwicklung der Diskussionen des Postwachstumskollegs an der Universität Jena lesen als auch als ein Vermächtnis an die junge For-Future Generation, die sich für Klimagerechtigkeit und System Change stark macht.

Auch aus Postwachstums-Perspektive ist das Buch ein Schwergewicht – und lohnt die intensive Lektüre und konstruktiv-kritische Auseinandersetzung. Daher habe ich mich sehr darüber gefreut, dass Klaus Dörre mir das Buch mit der Widmung „Für eine produktive Kontroverse mit der Degrowth-Bewegung“ zugeschickt hat und ich das Buch in seinem Kolloquium an der Universität Jena diskutieren durfte. Das Folgende sind die Anmerkungen und Fragen, die ich in diesem Kolloquium zur Diskussion gestellt habe – sie können in keiner Weise den ausführlichen Argumenten des Buches gerecht werden, sondern nur einige kritisch-konstruktive Schlaglichter werfen.

Aktualisierung des Sozialismus: ökologischer, feministischer, demokratischer

In „Utopie des Sozialismus“ findet sich – so lässt sich eingangs festhalten – die gleiche Frage- und Suchperspektive wie in Degrowth-Diskussionen. Zunächst gilt es, einige der Stärken des Buches hervorzuheben, durch die es sich auch positiv abhebt von anderen Vorschlägen zur Aktualisierung des Sozialismus:

  • die hohe Gewichtung der ökologischen Krisen
  • die Einbeziehung von Care-Arbeit
  • die Kritik an einem nur technikfokussierten Produktivismus bzw. naivem Produktivkraftoptimismus – und entsprechend Einbeziehung von Technikkritik in die Analyse und Vision
  • insgesamt den Versuch, autoritäre Sozialismen deutlich zu kritisieren und Sozialismus ökologischer, feministischer, demokratischer zu fassen.

Dabei beharrt Dörre darauf, die beiden Lager von Porto Alegre – das produktivistische Lager, das im vertikalen Konflikt „Arbeit-Kapital“ agiert und das eher anarchistische, wachstumskritische und vor alle ökologisch ausgerichtete Lager – nicht gegeneinander auszuspielen, sondern nach Allianzen zu suchen (mehr dazu in unserem Buch).

Abgrenzung zu Postwachstum – sinnvoll und begründet?

Diese herausstehenden Merkmale des Buches führen zum ersten meiner drei Kommentare bzw. konstruktiv-kritischen Fragen. Gleich zu Anfang führt Klaus Dörre den Begriff des Sozialismus in Abgrenzung zu Postwachstum und mit der Begründung ein, dass der einer demokratischen Postwachstumsgesellschaft zu wenig zu den Konturen einer anderen Gesellschaft sage, zu vage und diffus bleibe und „für nahezu alles und jedes benutzt werden kann“ (S. 28).

Zwei Dinge sind wichtig, um dies einzuordnen. Zum einen fasst Klaus Dörre Postwachstumsgesellschaft als einen analytischen Begriff zur Beschreibung für „alle zeitgenössischen sozialen Ordnungen, die ohne rasches und permanentes Wirtschaftswachstum auskommen müssen“ (S. 29). Dies beinhaltet dann nicht nur den krisenhaften Kapitalismus einer Corona-Krisenphase oder in Folge von Austerität an den Rändern der durch deutsche Interessen dominierten Europäischen Union – sondern auch rechte, rassistische oder konservative Visionen wie die von Bernd Höcke. In der Bewegung selbst sowie unter Akademiker*innen wird Postwachstum allerdings anders gefasst, nämlich als ein normatives Konzept für eine egalitäre und freiheitliche und global gerechte Gesellschaft und (daher erwähne ich das) ist in dieser Form dem nachhaltigen Sozialismus gar nicht so unähnlich.

Zum anderen basiert Klaus Dörres Abgrenzung auf der Behauptung, dass Degrowth zwar viele gute Vorschläge zur Verteilung habe, aber keine dazu, wie eine effektive Produktion organisiert werden kann – Degrowth „blende das Produktionsproblem aus“. Dass dieser Eindruck bei einigen – vor allem suffizienzorientierten Stimmen wie der Niko Paechs – entstehen kann, ist zwar verständlich.

Aber gleichzeitig ist diese Abgrenzung gegenüber der Postwachstumsdiskussion auch eine verpasste Chance – denn tatsächlich gibt es, vor allem in der internationalen Degrowth-Forschung, eine sehr umfassende und mittlerweile breite gefächerte Diskussion zu genau dieser Frage nach einer ressourcenschonenden, energieeffizienten, postkapitalistischen Produktion. In unserem Einführungsbuch beispielsweise beschäftigen sich vier von fünf Abschnitten zur Frage nach den Konturen einer Postwachstumsgesellschaft mit Fragen der Produktion – von „Wirtschaftsdemokratie“ über „partizipatorische Planung“, „Transformation von Arbeit“ und dem „demokratischen Umbau von Technik“ gäbe es hier viele Anknüpfungspunkte an die Vorschläge in Klaus Dörres Buch. Zusätzlich liegt auch noch ein Schwerpunkt auf dem aktiven Rück- und Umbau von Produktion im Sinne der Abwicklung nicht zukunftsfähiger Wirtschaftsbereiche. Gerade hier, beim Rückbau – so meine Einschätzung – sind die Vorschläge aus Degrowth-Perspektive teilweise weiterführender als in der „Utopie des Sozialismus“ (Obergrenzen für Energie- und Ressourcenverbrauch, Deinvestitionen, Maximaleinkommen etc.).

2. Fehlende Transformationskraft, oder: Ist der nachhaltige Sozialismus verallgemeinerbar?

Zweitens würde ich argumentieren, dass gemessen an dem selbst-gesetzten Anspruch einer wirklichen „Nachhaltigkeitsrevolution“ die konkreten Vorschläge für Politiken und Transformationsprojekte oft eher zahm, reformistisch und zu wenig transformativ bleiben. Und das vor allem aus einer globalen Gerechtigkeitsperspektive, die auch die Notwendigkeit einer Transformation der Lebensweise mit in den Blick nimmt. Am Ende des Buches heißt es beispielsweise: „Auch in den reichen Ländern ist es keineswegs erforderlich, der Putzfrau die Mallorca-Reise und dem Daimler-Arbeiter das Häuschen zu nehmen oder gar Personen im Hartz-IV-Bezug den Regelsatz beschneiden zu wollen“ (S. 257). Verzichten sollten vor allem die Reichen und Superreichen.

Das ist zwar eine seltsame Polemik – denn wer will aus ökologischen Gründen Hartz-IV-Bezüge kürzen? Und fliegen tun Putzfrauen nur ausgesprochen selten, meist reicht das Geld dafür nicht – und ich stimme dem in Teilen auch zu – vor allem, dass zuerst die Reichen weniger verbrauchen, fliegen et cetera sollten. Aber hier zeigt sich doch ein tiefergehendes Problem des nachhaltigen Sozialismus insgesamt. Denn: Wir brauchen systemische, gesellschaftliche Veränderungen unserer Lebensweise, die dazu führen, dass wir beispielsweise viel weniger fliegen (und zwar alle) und nicht mehr Häuser aus Beton bauen.

Aus globaler Gerechtigkeitsperspektive ist das CO2-Budget Deutschlands laut dem Sachverständigenrat für Umweltfragen bereits in vier Jahren aufgebraucht – das heißt es reicht bei weitem nicht, dass „die untere Hälfte der europäischen Haushalte ihre Emissionslast in etwa halbieren muss“. Diese Last muss innerhalb sehr kurzer Zeit auf null gehen. Und das geht auch mit Veränderungen der Lebensweise für alle einher – beim Beispiel Fliegen wird das besonders deutlich.

Daher meine Frage: Ist der nachhaltige Sozialismus global verallgemeinerbar? Und wenn ja, sollte nicht eine Thematisierung genau dieser schwierigen Fragen Aufgabe eines Sozialismus des 21. Jahrhunderts sein?

3. Zu starke Staatszentrierung und Vernachlässigung von Commons

Dritter Punkt: Insgesamt scheinen mir die Vorschläge etwas zu staatszentriert zu sein und Alternativen aus dem Bereich der Commons zu vernachlässigen. Klar, es spricht vieles dafür, öffentliche Versorgung zu stärken und soziale Infrastruktur auszubauen – da geht Degrowth sogar noch weiter, indem es sich nicht nur auf Gesundheit, Bildung, und Nahverkehr bezieht – sondern auch Bereiche wie Wohnraum, Energie und Lebensmittel mit einschließt– als Gratisgüter, die allen zustehen.

Und auch für den Vorschlag, Großunternehmen als Bruch mit der Eigentumslogik zu verstaatlichen und dann zu vergesellschaften gibt es gute Gründe. Aber warum dann die Polemik gegen Commons und Commonismus (S. 123) ? Denn das sind die Ansätze, wo das thematisiert wird – und zwar sowohl konzeptionell als auch praktisch, und wo auch weiter gegangen wird dabei neue Rechtsformen zu entwickeln jenseits des Privat- und Staatseigentums. Es fehlt hier beispielsweise die ganze Diskussion um Besitz statt Eigentum.

Insgesamt frage ich mich, ob der nachhaltige Sozialismus nicht doch im Kern produktivistischer und staatszentrierter ist, als es für eine Erneuerung und die ökologischen Bedingungen des 21. Jahrhunderts gut wäre.

Also: Warum gibt es im Buch – neben der sehr anregenden Diskussion zu demokratischer Planung – nicht auch eine stärkere Betonung von Commons und anderen Vorschlägen, ohne Geld und von unten kooperativ und partizipatorisch zu wirtschaften?

Drei Wege für anderes Wirtschaften aus dem Netzwerk Ökonomischer Wandel

Abschließend möchte ich die drei Wege vorstellen, die wir im Netzwerk Ökonomischer Wandel entwickelt haben – einem Zusammenschluss, den wir letztes Jahr gegründet haben um altenativökonomische Strömungen von den Commons – Silke Helfrich, die leider kürzlich verstorben ist – über Gemeinwohlökonomie (Christian Felber), tauschlogikfreies Wirtschaften (Friederike Habermann) und solidarische Ökonomie (Dagmar Embshoff) – und Degrowth zusammenzubringen.

Diese drei Wege für ein anderes Wirtschaften finden sich in Ansätzen im nachhaltigen Sozialismus. Zu einer zukunfstfähigen Ökonomie jenseits von Kapitalismus, Wachstum und Wettbewerb kommen wir unserer Ansicht nach über diese Wege:

  1. Märkte am Gemeinwohl ausrichten und zurückdrängen
  2. Commons und andere nicht-marktförmige und selbstorganisierte Versorgungsstrukturen stärken
  3. Den Staat uns aneignen, demokratisieren – und so als öffentliches Gut und über soziales Recht umfassende soziale Teilhabe für alle sicherstellen

Insgesamt ist das Buch ein absolut empfehlenswerter Beitrag für eine zeitgemäße Diskussion über die notwendige Nachhaltigkeitsrevolution. Ich habe viel gelernt, das Lesen macht Spaß, und ich freue mich sehr auf die kritische Diskussion, die es sicherlich auslösen wird.

 

Dörre, Klaus (2021): Die Utopie des Sozialismus. Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution. Berlin: Matthes & Seitz.

Matthias Schmelzer ist Aktivist und arbeitet als Wirtschaftshistoriker an der Universität Zürich. Er hat Geschichte, Politikwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft und Philosophie an der Humboldt-Universität Berlin und der University of California, Berkeley studiert und an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) mit einer Arbeit über “The Hegemony of Growth. The OECD and the Making of the Economic Growth Paradigm” promoviert, die 2016 von der Cambridge University Press verlegt wurde. Er ist außerdem freier Mitarbeiter beim Konzeptwerk Neue Ökonomie und hat als Fellow am DFG-Kolleg Postwachstumsgesellschaften in Jena zur Degrowth-Bewegung geforscht.

1 Kommentare

  1. Genügt es nicht, den Rohstoffverbrauch erheblich zu erhöhen und die Einnahmen als Öko-BGE (rück) umzuverteilen?
    Je nach erzielter Wirkung kann die CO2-Abgabe (Umlage) jederzeit erhöht werden. Es zahlen nur diejenigen Netto-Abgaben, die mehr als der gesellschaftliche Durchschnitt Ressourcen verbrauchen.
    „Mehr Freiheit für alle“, die Ziele von Marx, Engels und viele andere Sozialisten, lassen sich mit mehr Herrschaft, Regulierung und Fremdbestimmung für mich nur schwer vereinbaren – egal wie lobenswert ich die Ziele auch finde.
    Werden auch die neuen Kaufmittel (Kontoguthaben, Geld etc.) direkt von der Notenbank als „Schenkgeld“ produziert und als sogenanntes „Helikopter-Geld“ in gleicher Höhe an alle Menschen des Landes verteilt, bei Abschaffung des „Geld-Schöpfungs-Privilegs“ der Geschafts-Banken, erzielen wir auch in der Gegenwart mehr Gerechtigkeit.
    Es gibt weitere Ideen, die ich in meinem Aufsatz „Der gute Staat – Vom wesen der Herrschaft“ diskutiere. Gerne sende ich ihn als PDF nach Anfrage unter info@alfredreimann.de zu. Danke für Ihre Aufmerksamkeit!

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