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Konstruktiven Journalismus neu denken

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Selten erreichen Informationen zur Klimakrise ein so großes Publikum: 22,55 Millionen Zuschauer*innen sahen die Niederlage Deutschlands gegen Frankreich in der Fußball-Europameisterschaft am 15. Juni im ZDF – und in der Halbzeitpause informierte das heute-journal über die alarmierenden Ergebnisse der Arktis-Expedition, die das deutsche Forschungsschiff „Polarstern“ unternommen hatte. „Das Eis der Arktis hat sich schneller zurückgezogen als jemals zuvor“, heißt es da, und: „Einige Wissenschaftler sagen voraus, dass die Arktis bereits im Sommer 2035 und nicht erst Mitte des Jahrhunderts eisfrei sein könnte.“

Unter den Tisch fiel die Einordnung und Analyse der diagnostizierten Entwicklung: Was bedeutet es, wenn die Arktis eisfrei ist? Warum steigen eigentlich die Temperaturen? Und was könnte man dagegen tun? Zurück blieben wohl eine Menge Zuschauer*innen, die spürten, dass es eine existenzielle Bedrohung gibt, gegen die man aber nicht wirklich etwas unternehmen kann. Gleich danach begann die zweite Halbzeit, und mit der Werbung für Qatar Airways, Volkswagen und Lieferando.de kam die Normalität wieder in die Wohnzimmer: die Normalität des „Romantischen Konsumismus“, der die Wachstums- und Ressourcenvernutzungsmaschine des Spätkapitalismus am Laufen hält (vgl. Krüger & Pfeiffer 2020).

In der Medienbranche wird seit einigen Jahren kritisiert, dass negative Nachrichten ohne Lösungsansätze und aktivierende Perspektiven die Menschen passiv und apathisch machen: So würden sie Hilflosigkeit erlernen. Ein neues Berichterstattungsmuster namens „Lösungsorientierter“ bzw. „Konstruktiver Journalismus“ will dem begegnen, indem es die Problembeschreibung um das Aufzeigen von Ideen und Versuchen zur Problembewältigung ergänzt. Eine Reihe von spezialisierten Magazinen („enorm“), Online-Portalen („Perspective Daily“) und Rubriken („NDR Info Perspektiven“) pflegen diesen journalistischen Ansatz bereits. In der journalistischen Community und im Publikum ist das nicht unumstritten, denn: Sollten Journalist*innen nicht neutrale, unparteiische und objektive Beobachter*innen sein, die sich „nicht gemein machen, auch nicht mit einer guten Sache“ (so der ehemalige Tagesthemen-Moderator Hanns Joachim Friedrichs)?

Entsprechend hält man sich in der Szene der Konstruktiven Journalist*innen zurück mit politischen Bekenntnissen und betont, man würde lediglich neben dem Schlechten auch etwas Gutes beleuchten und dadurch Objektivität und Ausgewogenheit überhaupt erst herstellen. Zwar wolle man auch die Menschen aktivieren und gesellschaftlichen Fortschritt befördern, aber die traditionelle Beobachterposition nicht verlassen. Doch reicht das angesichts der existenziellen Fragen, die die gegenwärtige Vielfachkrise der Weltgesellschaft aufwirft?

Wenn man die Schlussfolgerung des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderung teilt, dass unsere Gesellschaften auf eine „neue Geschäftsgrundlage“ gestellt werden müssen und eine „Große Transformation“ zur Nachhaltigkeit vollziehen müssen (WBGU 2011: 1–2), ist es an der Zeit, ein neues Berichterstattungsmuster zu proklamieren und zur Diskussion zu stellen, das eine grundlegende Veränderung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Strukturen gezielt befördert: einen „Transformativen Journalismus“.

Denn es ist nicht unerheblich, mit welcher Idee die Redakteurin oder der Reporter morgens aufsteht und ins Büro geht und welcher Art von Journalismus er oder sie sich verschreibt: Ist man mit dem gesellschaftlichen Status quo im Großen und Ganzen im Reinen und will vor allem die neuesten Entwicklungen vermelden, dann ist der tagesaktuelle Nachrichtenjournalismus das Berichterstattungsmuster der Wahl. Brennt man für die Enthüllung von Missständen und das Aufdecken von Korruption, dann ist der investigative Journalismus das passende Genre. Genauso gut kann und darf es aber auch einen Journalismus geben, der eine „Große Transformation“ zur Nachhaltigkeit befördert, der sich als Geburtshelfer für öko-soziale Innovationen sieht oder als Entwicklungshelfer für westlich-kapitalistische Gesellschaften, deren tradierte Fortschrittsnarrative und Wachstumsmodelle erodieren. In einem aktuellen Aufsatz (Krüger 2021: 369–370) konzeptualisiere ich diesen wie folgt:

Transformativer Journalismus ist eine Form der Berichterstattung, die Öffentlichkeit herstellt für Akteur*innen, Prozesse und Strukturen, die eine »Große Transformation« zur Nachhaltigkeit begünstigen, um sie durch Sichtbarkeit zu stärken und ihre weitere Verbreitung und Entwicklung zu ermöglichen. Er ist normativ verankert in der Nachhaltigkeitsdebatte und den SDGs; diese Verankerung versteckt er nicht, sondern legt sie offen und reflektiert sie kritisch. (…) Seine typischen Themen drehen sich um die »sieben Arenen« der Großen Transformation nach Schneidewind (2018, 14): Wohlstands- und Konsumwende, Energiewende, Ressourcenwende, Mobilitätswende, Ernährungswende, Urbane Wende und Industrielle Wende. Von Strategischer Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit grenzt sich der Transformative Journalismus dadurch ab, dass er institutionell und mental unabhängig von den Akteur:innen des Wandels agiert und daher auch mit nüchternem Blick deren Fehler, Misserfolge und Missstände sieht und offenlegt. Trotz seiner Wertegebundenheit erfüllt er also zentrale journalistische Qualitätskriterien wie Unabhängigkeit, Kritik und Objektivität.

Neutral ist „Transformativer“ Journalismus also nicht, aber objektiv kann und soll er durchaus sein: im Sinne der Abstrahierung von einer rein persönlich-individuellen Subjektsicht und des Einnehmens einer „Hubschrauberperspektive“ auf die Gesellschaft – inklusive wissenschaftsgeleiteter Tiefenanalyse von Krisenursachen und dem Aufzeigen von Wegen zu neuen Produktions- und Konsummustern und weiteren Elementen einer enkeltauglichen Wirtschaft und Gesellschaft. Wichtig für die Legitimation eines solchen Berichterstattungsmusters ist ein allgemeines Bewusstsein, dass das Herstellen von Öffentlichkeit für jegliche Themen oder Akteur*innen immer ein politischer Akt und nie wertfrei ist. Auch ob die ARD vor der Tagesschau „Börse vor acht“ sendet oder ein konstruktiv-transformatives Format namens „Klima vor acht“ (wie es die gleichnamige Initiative fordert und vormacht), ist natürlich eine politische Frage – die die ARD kürzlich leider zulasten des Klimaschutzes entschied. Womöglich aus Angst, sich gemein zu machen mit der guten Sache, und vor dem allfälligen Aktivismus-Vorwurf. Dabei könnte man es auch – wie es Friederike Mayer von „Klima vor acht“ tut – mit Karl Poppers Aktivismus-Definition halten: „Es sei ‚die Neigung zur Aktivität und die Abneigung gegen jede Haltung des passiven Hinnehmens‘.“

 

Literatur:

Krüger, Uwe (2021): Geburtshelfer für öko-soziale Innovationen: Konstruktiver Journalismus als Entwicklungskommunikation für westlich-kapitalistische Gesellschaften in der Krise. In: Nils S. Borchers, Selma Güney, Uwe Krüger und Kerem Schamberger (Hrsg.): Transformation der Medien – Medien der Transformation. Verhandlungen des Netzwerks Kritische Kommunikationswissenschaft, S. 356–380. Frankfurt am Main: Westend. DOI: https://doi.org/10.53291/SDTM5470

Krüger, Uwe; Pfeiffer, Juliane (2020): Die Neoklassische Ökonomik und der Romantische Konsumismus: Ideologische Bremsklötze einer „Großen Transformation“ zur Nachhaltigkeit. In:  Uwe Krüger und Sebastian Sevignani (Hrsg.): Ideologie, Kritik, Öffentlichkeit. Verhandlungen des Netzwerks Kritische Kommunikationswissenschaft, S. 212–239. Frankfurt am Main: Westend sowie Universität Leipzig (Open Access). DOI: 10.36730/ideologiekritik.2019.10

Schneidewind, Uwe (2018): Die Große Transformation. Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels. Frankfurt am Main: S. Fischer.

WBGU (2011): Welt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation. Hauptgutachten des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen. Bonn. Als PDF verfügbar unter: https://www.wbgu.de/fileadmin/user_upload/wbgu/publikationen/hauptgutachten/hg2011/pdf/wbgu_jg2011.pdf

 

3 Kommentare

  1. Mathias Effenberger sagt am 23. August 2021

    Ein sehr einleuchtendes Plädoyer für den konstruktiven Journalismus! Und was „Börse vor acht“ vs. „Klima vor acht“ angeht, so ließe sich beides unter dem Stichwort der notwendigen „neuen Geschäftsgrundlage“ unserer Gesellschaft doch wunderbar aufeinander beziehen!

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