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Kapitalismus beenden – Marktwirtschaft reparieren

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In unserem Buch „Marktwirtschaft reparieren“ (oekom, 2019) beschreiben wir Marktwirtschaft als eine freiheitliche, nachhaltige und gerechte Utopie. Es ist damit Teil der (schmalen) marktfreundlich-liberalen Strömung der wachstumskritischen Bewegung.

Marktwirtschaft als Utopie

Der heutige Kapitalismus ist weder gerecht noch nachhaltig und obendrein ökonomisch instabil. Innerhalb des wachstumskritischen Spektrums genießt Marktwirtschaft daher üblicherweise keinen guten Ruf. Sind nicht ökologische Zerstörung, Wachstumszwang und soziale Ungerechtigkeit Ausdruck der marktwirtschaftlichen Prinzipien von Konkurrenz und Profitorientierung, Teil der Logik von Geld und Zins? Muss nicht eher ein völlig neues Wirtschafts- und Gesellschaftssystem gefunden werden?

Als Marktwirtschaft oder Kapitalismus wird eine marktförmig-dezentral organisierte Wirtschaft mit Privateigentum an Produktionsmitteln bezeichnet – jenseits dieser breiten Definition hört die begriffliche Einigkeit allerdings schnell auf. Wir halten es für sinnvoll, Marktwirtschaft und Kapitalismus zu unterscheiden. Eine idealtypische Marktwirtschaft findet man in den volkswirtschaftlichen Lehrbüchern als harmonische Gesellschaft ohne Machtkonzentration. Politik setzt die Regeln, alle Unternehmen halten sich daran, niemand hat die Möglichkeit, sich auf Kosten anderer zu bereichern. Geld ist dabei ein neutrales Tauschmittel. Über Preise kann das individuelle Verhalten so koordiniert werden, dass am Ende ein optimales Ergebnis für alle herauskommt.

Dass die Realität weit von dieser marktliberalen Idealvorstellung abweicht, ist offensichtlich. Wir lesen die Lehrbücher aber nicht als eine miserable Gegenwartsbeschreibung, sondern als einen guten Politikauftrag für die Realisierung der sozialen Utopie eines Wirtschaftssystems, das einfach, robust, effizient und gerecht sein kann. Es lohnt sich, Marktwirtschaft zu reparieren, denn sie ist dazu geeignet, jene Bereiche der Wirtschaft dezentral und flexibel zu organisieren, die außerhalb der Reichweite direkter sozialer Beziehungen liegen. Wir halten eine Selbststeuerung der Wirtschaft „über den Markt“ für möglich, wenn eine grundsätzlich richtige Wirtschaftsordnung hergestellt ist. Dafür sind aber grundlegendere politische Weichenstellungen notwendig als die heute übliche kleinteilige Regulierung. Unser Maßnahmenpaket zielt darauf ab, der ökologischen Zerstörung politische Grenzen zu setzen, wirtschaftliche Macht und Reichtum zu beschränken, Wachstumszwänge abzubauen und ungerechte leistungslose Einkommen zu verhindern. Dadurch verbinden unsere Politikvorschläge ökologische Nachhaltigkeit, ökonomische Stabilität und soziale Gerechtigkeit, anstatt sie – wie im Politikbetrieb heute üblich – gegeneinander auszuspielen.

Das soziale Problem leistungsloser Einkommen

Quer durch das Parteienspektrum (DIW, 2018) wird soziale Gerechtigkeit vor allem an zwei Prinzipien festgemacht: dem Leistungsprinzip und dem Bedarfsprinzip. Letzteres bedeutet, dass allen Menschen ein minimaler Lebensstandard zugesichert wird. Das Leistungsprinzip besagt, dass es gerecht ist, wenn beim Leistungstausch Leistung und Gegenleistung gleichwertig sind. Dieses Prinzip wird in der wachstumskritischen Szene sehr kritisch gesehen, gilt es doch als ideologische Grundlage einer gehetzten Ellenbogengesellschaft. Bei aller berechtigten Kritik wird jedoch übersehen, dass das Leistungsprinzip im Alltag fast überall klaglos anerkannt, oft sogar vehement eingefordert wird. Nicht das Leistungsprinzip ist umstritten, sondern sein argumentativer Missbrauch seitens selbsternannter „Leistungsträger“ zur Rechtfertigung von Reichtum oder von Sozialkürzungen. Gerade die Empörung über überzogene Boni oder schlecht bezahlte Arbeit zeigt, wie wichtig den Menschen Leistungsgerechtigkeit ist.


Grafik: Grit Koalick.

Problematisch ist, dass sich Leistung gar nicht objektiv definieren lässt, aber das ist auch gar nicht nötig, um mit dem Leistungsprinzip gerechte Politikmaßnahmen zu begründen: Es reicht, wenn wir uns einig sind, was wir nicht als Leistung anerkennen wollen – leistungslose Einkommen. Einkommen sind unverdient, wenn sie ihren Ursprung nicht in der Leistung des Einzelnen haben, sondern in den Leistungen anderer, der Allgemeinheit oder der Natur. Kommen leistungslose Einkommen Menschen zugute, die nicht bedürftig sind, ist dies ungerecht. Diese Form von fehlender Leistungsgerechtigkeit ist unseres Erachtens ein wichtiges Kennzeichen des Kapitalismus. Wichtige Quellen leistungsloser Einkommen sind die „gute Lage“ von Grundstücken (Standortrente, siehe Blätter, 2018), Verkauf und Nutzung natürlicher Ressourcen und die Ausnutzung von Marktmacht, um Kund/innen und Lieferant/innen zu übervorteilen oder staatliche Garantien und Subventionen einzustreichen.

Hinter der Forderung, gegen leistungslose Einkommen politisch vorzugehen, könnte sich ein großes Bündnis verschiedenster Strömungen und Organisationen versammeln: von den Gewerkschaften über Kritiker/innen von Mietsteigerungen, städtischen Verdrängungsprozessen und unbegrenzer Konzernmacht bis hin zu Sozialliberalen, die sich noch an die Freiburger Thesen der FDP von 1971 erinnern. Die Kritik an leistungslosen Einkommen bezieht sich allerdings unvermeidlich positiv auf Leistungsgerechtigkeit. Eine Debatte über die Rolle eines vernünftig interpretierten Leistungsprinzips in einer Postwachstumsgesellschaft erscheint daher notwendig und lohnenswert.

Der Wachstumszwang

Eine zentrale Forschungsfrage für uns ist, ob Wirtschaftswachstum „systemimmanent“ ist oder ob es „nur“ von individuellen oder politischen Entscheidungen in Gang gehalten wird. Hier gibt es drei Perspektiven. Die eine hält ohne weiteres einen Abschied von Wachstumspolitik für möglich und verweist auf kulturelle Prägungen („unbegrenzte Bedürfnisse“), politische Ideologien und mentale Infrastrukturen. Ein Wandel zu einer Gesellschaft jenseits des Wachstums könnte demnach gelingen, wenn „alle nur ein wenig vernünftiger“ wären, sich von der Steigerungslogik verabschiedeten und eine neue Konsum-, Unternehmens- und Politikkultur entwickelten. Die zweite Perspektive hält in der Tradition von Marx Marktwirtschaft und profitorientierte Unternehmen grundsätzlich für inkompatibel mit Nullwachstum, weil die Unternehmen aufgrund von Konkurrenz stets gezwungen sind, einen Teil ihrer Profite zu reinvestieren und die Produktion auszudehnen.

Wir vertreten die dritte Perspektive, dass ein Unternehmen durchaus „profitabel“ sein kann, ohne dass es wächst, wenn der jährliche Bilanzgewinn an die Eigentümer/innen ausgeschüttet und von diesen für den eigenen Konsum verwendet wird. Für viele (kleinere) Unternehmen ist das der Normalfall, und Marktwirtschaft in diesem Sinne ist grundsätzlich mit Nullwachstum kompatibel. Abhängig von Wachstum wird sie erst durch ungünstige Rahmenbedingungen. Wir haben uns intensiv mit einer Definition und den Kandidaten für einen Wachstumszwang befasst, Theorien wie den monetären Wachstumszwang zurückgewiesen und halten stattdessen technologische Innovationen für maßgeblich. Ein Wachstumszwang entsteht, weil Unternehmen und Haushalte gezwungen sind, bestimmte ressourcenintensive Technologien einzusetzen, wenn sie ihre wirtschaftliche (und soziale) Existenz nicht gefährden wollen. Sie müssen investieren, um mit dem technischen Fortschritt mitzuhalten.


Grafik: Grit Koalick.

Die Attraktivität von Innovationen wird in der Regel den „Ideen“ und der Kreativität von Menschen zugeschrieben. Etwas nüchterner betrachtet ist es meist ihr Ressourcenverbrauch, der zu Wettbewerbsvorteilen führt. Dieser „Innovationswettbewerb“ ist ein völlig anderer ökonomischer Mechanismus als der Leistungswettbewerb, der eigentlich hinter dem Leistungsprinzip steht. Der Begriff der Konkurrenz muss daher differenziert werden. Beim Innovationswettbewerb wird maßgeblich die Produktivkraft natürlicher Rohstoffe am Markt als eigene Leistung verkauft – ein leistungsloses Einkommen. Die steigende Arbeitsproduktivität nötigt Politiker/innen dazu, Wachstum zu forcieren, um die drohende technologische Arbeitslosigkeit zu verhindern. Diesem Wachstumszwang lässt sich aber mit geeigneter Politik begegnen. Wir schlagen vor, den Ressourcenverbrauch institutionell zu begrenzen und die Erträge aus der Nutzung natürlicher Ressourcen gerecht zu verteilen. Beide Forderungen dürften im wachstumskritischen Spektrum wenig kontrovers sowie anschlussfähig an #FridaysforFuture oder Umwelt- und Sozialverbände sein.

Politische Forderungen

Wegen der ökonomischen Wachstumszwänge reicht ein kultureller Wandel nicht aus, um eine Transformation der Gesellschaft zu erreichen. Ein solcher Wandel muss von institutionellen Maßnahmen begleitet werden. Allerdings sind die Vorstellungen vom „Guten Leben“ in der Bevölkerung sehr unterschiedlich. Daher wird es möglicherweise nie gelingen, konkrete Vorschläge für „das Gute“ zu formulieren und politische Mehrheiten dafür zu organisieren. Die Alternative ist, „das Schlechte“ zu bekämpfen. Von der Politik fordern wir daher, sich gegen Extreme einzusetzen. Das umfasst beispielsweise ökologisch fatalen Ressourcenverbrauch, Menschenrechtsverletzungen, existentielle Armut, wirtschaftliche Machtkonzentration, leistungslose Einkommen und unbegrenzten Reichtum.

Es erscheint unrealistisch, so etwas umzusetzen – aber gegenüber einer radikalen Neuschöpfung der Ökonomie, wie sie im Degrowth-Diskurs oft gefordert wird, haben diese Vorschläge den Vorteil, dass man sich die leidigen Fragen erspart, wie denn „das Ganze funktionieren soll“. Uns ist bewusst, dass manche unsere Perspektive als „verkürzte Kapitalismuskritik“ bezeichnen und sich dagegen wehren werden, eine solche Marktwirtschaft als Utopie zu definieren. Andererseits trifft die übliche Kritik an sozialliberalen Wachstumskritiker/innen hier nicht zu, nämlich blind für strukturelle Macht und soziale Ungerechtigkeit zu sein. Unsere Vorschläge zeigen demnach konkrete Wege auf, wie man die Auswüchse des Kapitalismus politisch bekämpfen kann – und sei es nur, um Zeit für die Suche nach Alternativen zu gewinnen.

Weitere Informationen unter www.marktwirtschaft-reparieren.de.

Oliver Richters und Andreas Siemoneit

Literaturhinweise

1 Kommentare

  1. Ich muss sagen das mir der Ansatz von „man sollte das schlechte bekämpfen wenn man sich nicht darauf einigen kann was gut ist“ sehr gefallen hat. So eine Sichtweise lässt sich Heutzutage selten vorfinden.

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